Zusammenfassung
Die „Wackerhahnsche“ überkommt das „Gruseln“ (BA 20, 183), als sie in das Pfarrhaus der Familie Holtnicker zurückkehrt. Der Ort scheinbaren Glücks, einer bürgerlich-friedvollen Familienidylle in Wilhelm Raabes Roman „Hastenbeck“, hatte sich in einen von „Stille und Einsamkeit“ (BA 20, 183) beherrschten Ort des Todes gewandelt. Oben findet die ehemalige Marketenderin den ihr verbundenen „Hauptmann Balthasar Uttenberger“. Auf seiner Brust liegen Salomon Geßners „Idyllen“, gefunden auf dem Schlachtfeld bei Hastenbeck. Uttenbergers Tod illustriert in mehrfacher Weise einen Endpunkt. Der tote „Krieger“ im beschaulichen locus amoenus weckt Zweifel an der bukolischen Topik, die Gattungsgeschichte der Idylle findet mit Raabes Werk ihren Abschluß. Idyllik lebt nur mehr als Zitat im intertextuellen Diskurs. Zugleich avancieren die Geßnerschen „Idyllen“ zum strukturierenden Element im Roman (so Herman Meyer1). Raabe zitiert extensiv aus dem Werk des „Zürcher Weltpoeten“ (BA 20, 13), kontrastiert einzelne Passagen mit der trübseligen Handlung während der Kriegswirren, läßt seinen Erzähler dieselben kommentieren, die Figuren des Romans als idyllische Allegorien erkennen und zur damaligen wie zur zeitgenössischen Literaturgeschichte Position beziehen.
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Anmerkungen
Fritz Martini: Parodie und Regeneration der Idylle. Zu Wilhelm Raabes „Horacker“. In: Literatur und Geistesgeschichte. Festgabe für Heinz Otto Burger. Hg. von Reinhold Grimm und Conrad Wiedemann. Berlin 1968. S. 232–266. Hier: S. 233. Martini sieht in der Parodie der Idylle die Möglichkeit ihrer „Regeneration“, die um der „Wahrhaftigkeit“ (ebd. S. 265f) literarischer Darstellung willen vorgeführt werde. Martinis Absicht einer Veranschaulichung von Raabes Menschenbild kann dagegen wenig zur Erhellung seiner immanenten Poetik beitragen.
Einen ausgiebigen Forschungsüberblick zur Gattungsgeschichte der Idylle liefern Renate Böschenstein-Schäfer: Idylle; sowie York-Gothart Mix: Idyllik in der Literatur des 18. Jahrhunderts. Forschungsstand und Forschungsperspektiven. In: Das achtzehnte Jahrhundert. Jg. 15, Heft 1, 1991. S. 62–85.
Bislang wurde der Anspielungshorizont in „Hastenbeck“ lediglich als „permanente Antizipation der kommenden Weimarer Klassik“ gedeutet und nicht als Rahmen für die Transformation der Gattung „Idylle“. Vgl. Uwe Heldt: Isolation und Identität. Die Bedeutung des Idyllischen in der Epik Wilhelm Raabes. Frankfurt/M u. a. 1980. [Tübinger Studien zur deutschen Literatur. Bd. 5]. S. 235. Die Zitatstellen zu Voß’ „Luise“ finden sich in BA 20, S. 135–149 und S. 195.
Vgl. Salomon Geßner: Idyllen. Kritische Ausgabe. Hg. von E. Theodor Voss. Stuttgart 31988. S. 45.
Zu dieser Forschungstendenz zähle ich etwa die Untersuchungen von Klaus Garber (ders.: Arkadien und Gesellschaft. Skizze zur Sozialgeschichte der Schäferdichtung als utopischer Literaturform Europas. In: Utopieforschung. Interdisziplinäre Studien zur neuzeitlichen Utopie. Hg. von Wilhelm Voßkamp. Bd. 2. Stuttgart 1982. S. 37–81; sowie ders: Idylle und Revolution. Zum Abschluß einer zweitausendjährigen Gattungstradition im 18. Jahrhundert. In: Gesellige Vernunft. Zur Kultur der literarischen Aufklärung. Festschrift für Wolfram Mauser zum 65. Geburtstag. Hg. von Ortrud Gutjahr u. a.. Würzburg 1993. S. 57–82); und in ähnlicher Weise von Helmut J. Schneider (Deutsche Idyllentheorien im 18. Jahrhundert. Mit einer Einführung und hg. von Helmut J. Schneider. Tübingen 1988). Auf das gattungsgeschichtliche Dilemma reagieren einige Studien mit einer rein motivgeschichtlichen Beschränkung. Exemplarisch zu nennen wären beispielsweise Johannes Krogoll: Idylle und Idyllik bei Jean Paul. Eine Motivuntersuchung zur Rolle von Narrentum und Poesie im Werke des Dichters. Phil.-Diss. Hamburg 1968; und in weiten Teilen Uwe Heldt: Isolation und Identität.
Ebd. S. 20. Vgl. hierzu vor allem die fundamentale Untersuchung von Ernst A. Schmidt: Poetische Reflexion. Vergils Bukolik. München 1972. Besonders S. 107–119.
Bruno Snell: Arkadien. Die Entdeckung einer geistigen Landschaft. In: Europäische Bukolik und Georgik. Hg. von Klaus Garber. Darmstadt 1976. [Wege der Forschung. Bd. CCCLV]. S. 14–43. Hier: S. 30.
Theodor W. Adorno: Der Artist als Statthalter. In: ders.: Noten zur Literatur. Frankfurt/M. 41989. S. 126.
Inwieweit der Geniegedanke die Autonomievorstellung des bürgerlichen Bewußtseins trägt, beschreibt Jochen Schmidt: Die Geschichte des Genie-Gedankens, besonders Bd. 1. Von der Aufklärung bis zum Idealismus. Darmstadt 1985.
Die Affinitäten zwischen beiden Gattungen sind Thema eines Aufsatzes von Michael Jakob: Idylle und Roman — ein Vergleich. In: Arcadia. Bd. 24. 1989. S. 1–12.
Jens Tismar: Gestörte Idyllen. Eine Studie zur Problematik der idyllischen Wunschvorstellungen am Beispiel von Jean Paul, Adalbert Stifter, Robert Walser und Thomas Bernhard. München 1973. S. 12–42.
Ralph-Rainer Wuthenow: Gefährdete Idylle. In: Jean Paul. Hg. von Uwe Schweikert. Darmstadt 1974. [Wege der Forschung. Bd. CCCXXXVI]. S. 314–329.
Zur „apokalyptischen“ Tradition vgl. Wolfgang Braungart: Apokalypse und Utopie. In: Poesie der Apokalypse. Hg. von Gerhard R. Kaiser. Würzburg 1991. S. 63–102.
Karl-Jürgen Ringel: Wilhelm Raabes Roman „Hastenbeck“. Ein Beitrag zum Verständnis des Alterswerkes. Bern 1970. S. 50.
Vgl. Gabriele Ruhl-Anglade: Angst und Trost. Zur Motivik in Raabes „Hastenbeck“. In: JbRG 1983. S. 119–133.
„Da der Spielraum der Sinne enger ist als der Phantasie: so entsteht die Täuschung, daß wir uns jene nur in den Ketten des Körpers und diese nur in den Zügeln des Willens denken, da wir doch ebensowohl in einem fort phantasieren als empfinden müssen“ (SW I/4, 195). Ich folge an dieser Stelle Waltraud Wiethölter: Witzige Illumination. Studien zur Ästhetik Jean Pauls. Tübingen 1979. [Studien zur deutschen Literatur. Bd. 58]. S. 139–144.
Jean Paul bezeichnet in der „Vorschule der Ästhetik“ die Poesie als „die einzige zweite Welt in der hiesigen“ (SW I/5, 30), die Erkenntnis des Jenseits verschiebt sich demnach auf eine immanente Spiegelung diesseitiger Bilder, hervorgerufen durch die Phantasie. Zur Ästhetik Jean Pauls vgl. unten, S. 104ff. Der in der „Natürlichen Magie der Einbildungskraft“ gewichtige Begriff des „Beseelens“ (SW I/4, 204) mag für Darstellungen Anlaß gewesen sein, die ein auf die „wirkliche“ Welt bezogenes Erkenntnisinteresse Jean Pauls vermuten, vgl. etwa Redmer Baierl: Transzendenz. Weltvertrauen und Weltverfehlung bei Jean Paul. Würzburg 1992. [Epistemata. Reihe Literaturwissenschaft. Bd. 74]. S. 62–69.
Vgl. den Aufsatz von Erwin Panofsky: Et in arcadia ego. Poussin und die Elegische Tradition. In: Europäische Georgik und Bukolik. Hg. von Klaus Garber. Darmstadt 1976. [Wege der Forschung. Bd. CCCLV]. S. 271–305.
Götz Müller: Jean Pauls Ästhetik und Naturphilosophie. Tübingen 1983. [Studien zur deutschen Literatur. Bd. 83]. S. 215, folgert, „daß Jean Paul schon 1796 die Einbildungskraft als Remedium und als Gefährdung thematisiert. Er entwickelt schon zu dieser Zeit eine anthropologische Dialektik der Phantasie, die eine Vielzahl ihrer Wirkungen für den Menschen beleuchtet.“
Gonthier-Louis Fink: Der proteische Erzähler und die Leserorientierung in Jean Pauls „Leben des vergnügten Schulmeisterlein Maria Wutz“. In: Bild und Gedanke. Festschrift für Gerhart Baumann zum 60. Geburtstag. Hg. von Günter Schnitzler in Verbindung mit Gerhard Neumann und Jürgen Schröder. München 1980. S. 271–287. Hier: S. 277.
Im Text erfolgt „Erinnerung“ als zitierende Vergegenwärtigung älterer Texte. Nicht als „Speicher“, sondern zur Darstellung einer prozessualen (Re-)Konstruktion aktuell erlebter „Phantasie“-Bil-der eignet sich die Gedächtnismetapher. Ich folge hier Siegfried J. Schmidt: Gedächtnis — Erzählen — Identität. In: Mnemosyne. Formen und Funktionen der kulturellen Erinnerung. Hg. von Aleida Assmann und Dietrich Harth. Frankfun/M. 1991. S. 378–397. Schmidt diskutiert Gedächtnistätigkeit im Anschluß an konstruktivistische Theorien nicht mehr als „Aufbewahrungs-, sondern als Konstruktionsarbeit“ (ebd. S. 378), wobei Gedächtnis als „Etablierung verhaltenssynthetisch relevanter dauerhafter Kognitionsstrukturen“ verstanden wird, die jeweils erneut abgerufen werden können (ebd. S. 380).
Welche Rolle die Exzerpte zur Abfassung Jean Paulscher Romane spielten, ist hinlänglich bekannt, vgl. Norbert Miller: Die Unsterblichkeit der zweiten Welt. Jean Pauls literarische Anfänge und die Entstehung seiner Romanwelt. In: SW II/4, 9–84 (hier besonders S. 9–12), und Götz Müller: Jean Pauls Exzerpte. Würzburg 1988, besonders das Nachwort S. 318–347.
Zur Definition der Allegorie empfiehlt sich Gerhard Kurz: Metapher, Allegorie, Symbol. Göttingen 21988. S. 28–65. Hier: S. 32.
Günther Voigt: Die humoristische Figur bei Jean Paul. In: JbJPG 1969 [erstmals 1934]. S. 31f.
Zerstreute Hinweise zur Allegorie finden sich bei Wölfel: Ein Echo. S. 296f, bei Burkhardt Lindner: Satire und Allegorie in Jean Pauls Werk. Zur Konstitution des Allegorischen. In: JbJPG 1970. S. 7–61, besonders S. 13ff.,
und Ralph-Rainer Wuthenow: Allegorie-Probleme bei Jean Paul. Eine Vorstudie. In: JbJPG 1970. S. 62–84, besonders S. 72ff.
Hubert Ohl: Bild und Wirklichkeit. Studien zur Romankunst Raabes und Fontanes. Heidelberg 1968. S. 10. Neuerdings diskutierte Geppert: Der realistische Weg, die Möglichkeit allegorischer Strukturen im literarischen Realismus. Zur Abgrenzung von Symbol und Allegorie vgl. ebd. S. 204–221.
In bezug auf Raabe sind mir nur wenige Hinweise zur Funktion der Allegorie bekannt, so etwa von Denkler: Wilhelm Raabe. S. 201f, von Detering: Theodizee und Erzählverfahren S. 124–136 (im Rahmen einer Deutung von „Unruhige Gäste“), und von Gerhart von Graevenitz: Der Dicke im schlafenden Krieg. Zu einer Figur der europäischen Moderne bei Wilhelm Raabe. In: JbRG 1990. S. 1–21. Letztere erwähnen zudem Walter Benjamin als Gewährsmann einer für Raabe zu proklamierenden Allegorie-Definition.
Zu diesem Topos vgl. Hans Blumenberg: Die Lesbarkeit der Welt. Frankfurt/M. 31993.
Jean Pauls Verwurzelung in der Philosophie, Anthropologie und Naturwissenschaft des 18. Jahrhunderts sind zahlreiche Studien verpflichtet, die den Ausweis spezifischer Modernität vernachlässigen, seine Wirkung auf spätere Autoren unterschlagen. So betonen folgende Untersuchungen die Abhängigkeit von Herder, Hamann, Jacobi, Platner, Stahl, Mesmer, Pope, Shaftesbury, Lichtenberg oder Leibniz: Götz Müller: Jean Pauls Ästhetik; Wolfgang Proß: Jean Pauls geschichtliche Stellung. Tübingen 1975. [Studien zur deutschen Literatur. Bd. 44];
Maximilian Rankl: Jean Paul und die Naturwissenschaft. Frankfurt/M. 1987. [Deutsche Sprache und Literatur. Bd. 1022];
Werner Gerabek: Naturphilosophie und Dichtung bei Jean Paul. Das Problem des Commercium mentis et corporis. Stuttgart 1988. [Stuttgarter Arbeiten zur Germanistik. Bd. 202];
Alexander Kosenina: Ernst Platners Anthropologie und Philosophie. Der philosophische Arzt’ und seine Wirkung auf Johann Karl Wezel und Jean Paul. Würzburg 1989. [Epistemata. Reihe Literaturwissenschaft. Bd. 35]. Ihr Augenmerk auf die Sprach- und Dichtungstheorie richten dagegen Wolfdietrich Rasch: Die Erzählweise Jean Pauls. Metaphernspiele und dissonante Strukturen. München 1961, sowie ders.: Die Poetik Jean Pauls. In: Die deutsche Romantik. Poetik, Formen und Motive. Hg. von Hans Steffen. Göttingen 1967. S. 98–111; Waltraud Wiethölter: Witzige Illumination;
Monika Schmitz-Emans: Schnupftuchsknoten oder Sternbild. Jean Pauls Ansätze zu einer Theorie der Sprache. Bonn 1986. [Literatur und Reflexion. Neue Folge. Bd. 1].
Vgl. den Wortgebrauch bei Arthur Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung. In: ders.: Sämtliche Werke. Hg. von Wolfgang Frhr. von Löhneysen. Bd. I und II. Frankfurt/M. 1986.
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Zeller, C. (1999). Idylle. In: Allegorien des Erzählens. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-04311-5_3
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