Zusammenfassung
Der junge Stifter war ein begeisterter Rezipient der Werke Jean Pauls. Dies provoziert die Frage nach Analogien und Differenzen in Thematisierungs- und Erscheinungsformen der Kindheit.1 Eine erste vergleichende Beobachtung deutet allerdings auf einen markanten Perspektivenwechsel hin, der neue Aspekte und Fragestellungen mit sich bringt. Durchzieht bei Jean Paul die explizite Sa-kralisierung des Kindes das poetische und theoretische Werk, so werden bei Stifter höchstens noch religiöse Konnotationen im Rahmen von erzählten Kindheiten lesbar. Solche Konnotationen werden auffallenderweise nur in Verbindung mit dichterischer Begabung evoziert. Sie scheinen weniger eine Heiligung des Kindes als die Berufung zu Höherem, zur Dichtkunst, zu signalisieren.
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Notizen
Der Blitz erscheint in »Abdias« analog zu Hölderlins Gedicht »Der blinde Sänger« als Symbol dichterischer Inspiration (vgl. HKG 1.5, 319, 330). Dithas Verbindung zum Himmel wird auch durch die für ihre Abstammung eigenartige blaue Augenfarbe (129) indiziert. Besonders der Lichtschein um ihr Haupt, der sich vom ersten Blitzschlag an bei spezifischen Wetterstimmungen zeigt (328), evoziert religiöse Konnotationen. Er mahnt an einen Heiligenschein. Das Lichtphänomen zeigte sich auch beim Kind Abdias, verlor sich aber mit dem Alter, was als Signal seiner verfehlten Berufung zu Höherem, auf die im Text mehrfach und deutlich angespielt wird, gelesen werden kann. Ditha ist Abdias als Figur in diesem Bedeutungszusammenhang zugeordnet. Vgl. dazu Gerhard Kaiser: Stifter — dechiffriert? Die Vorstellung vom Dichter in »Das Haidedorf« und »Abdias«. In: Sprachkunst, 1 (1970), S. 273–317, hier S. 301–303. — Entsprechend wurde Ditha in der Forschung als Geniusgestalt oder allegorische Personifikation der Poesie interpretiert. So von Kaiser, Stifter — dechiffriert, S. 294, oder von Peter A. Schoenborn: Adalbert Stifter. Sein Leben und Werk. Bern 1992, S. 216–219.
Vgl. PRA 13.2, S. 342. Auch in einer Beschreibung des Mädchens Juliana durch den Knaben Franz fehlen religiöse Vergleiche nicht: »seine Wangen glänzten wie eine Glocke der Kirche, und seine Augen leuchteten wie die Kerzen an dem Altare«; vgl. dazu ebenda, S. 327. Zur Mignon-Rezeption vgl. Julia König: Das Leben im Kunstwerk. Studien zu Goethes Mignon und ihrer Rezeption. Frankfurt a. Main, Bern, New York, Paris 1991, S. 184–191 sowie meine einleitenden Bemerkungen zu Kapitel III: »Das Romantische geht darin zu Grunde« — »Der doppelte Ort« der Kindheit in »Kazensilber«.
Die Schulakten enthalten kaum pädagogische Reflexionen. Es handelt sich um Inspektionsberichte, die über den Zustand der Schulen in Oberösterreich, ihre finanzielle und räumliche Situation, die verwendeten Lehrmethoden und das persönliche Engagement Stifters Aufschluß geben. Eine Auswahl der Schulakten findet sich in PRA 25, S. 187–295. Interessant ist hier vor allem auch das Engagement Stifters für eine Verbesserung der bedrückenden Lage der Lehrer (220–226). Vgl. dazu auch Ursula Naumann: Adalbert Stifter. Stuttgart 1979, S. 85.
Vgl. dazu den Brief an Heckenast vom 21. 11. 1848 (PRA 17, 311f.) Die Zurückhaltung Stifters in bezug auf konkrete politische und soziale Fragen und die traumatisierende Wirkung der Ausschreitungen weist Elisabeth Oeggerli auf der Basis der Korrespondenz dieser Monate in einer differenzierten Analyse nach. Vgl. Elisabeth Oeggerli: Die goldene Mücke. Zum Problem der ästhetischen Vermittlung des nicht Vermittelbaren bei Adalbert Stifter. Diss. Basel 1995 (Manuskript), S. 80–99.
Verwiesen sei hier exemplarisch auf die Eingangspassagen zu »Der beschriebene Tänn-ling« und »Der Hochwald« sowie auf die Begehung des Raumes in »Granit«, auf Kontroll- und Sicherungsmaßnahmen des Vaters in »Kazensilber« oder des Pfarrers in »Kalkstein« gegenüber den Naturgewalten sowie auf Ordnungs- und Kontrollstrategien über Mensch, Tier und Raum im Rosenhaus von »Der Nachsommer«. Auf die karthographisch anmutenden Orientierungsstrategien im Raum wurde in der Forschung zu Stifter immer wieder hingewiesen. Vgl. Hans Dietrich Irmscher: Adalbert Stifter. Wirklichkeitserfahrung und gegenständliche Darstellung. München 1971, S. 182.
Martin Selge: Adalbert Stifter. Poesie aus dem Geist der Naturwissenschaften. Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz 1976, S. 37–48.
Albrecht Koschorke: Das buchstabierte Panorama: Zu einer Passage in Stifters Erzählung »Granit«. In: VASELO, 38 (1989), F 1/2, S. 3–13.
Stifter stammte als Sohn eines Leinenwebers und -handlers aus einfachen wirtschaftlichen Verhältnissen, weshalb eine weitergehende Ausbildung nicht selbstverständlich war. Der frühe Tod seines Vaters erschwerte die Situation zusätzlich. Der Besuch des Gymnasiums, der ihm auf Betreiben seines Großvaters dennoch ermöglicht wurde, und die akademischen Studien in Wien waren der im 19. Jahrhundert übliche Weg zum sozialen Aufstieg ins Bürgertum. Vgl. Wolfgang Matz: Adalbert Stifter oder Diese fürchterliche Wendung der Dinge. München, Wien 1995, S. 36f. Zum Zusammenhang von Bildung und sozialem Aufstieg, überhaupt zum höheren Stellenwert von Bildung im Bürgertum des deutschen Sprachraums, vgl. Heidi Rosenbaum, Familie, S. 255–58.
Die Betonung potentieller Tierheit des Menschen steht insofern in Gegensatz zu Herder, als für diesen der Mensch aufgrund seiner menschlichen Disposition auch in totaler Isolation zur Kulturleistung der Sprachfindung fähig wäre. Herder betont gerade die grundsätzliche Differenz zwischen Mensch und Tier. Es läßt sich vermuten, daß nicht zuletzt die zur Zeit Stifters Wellen schlagenden Fälle von wilden Kindern zu einem desillusio-nierten Blick auf den Menschen beigetragen haben. Es gibt keine präsoziale Natur des Menschen, außerhalb der sozialen Umwelt wird der Mensch nicht zum Menschen, sondern sinkt in seinen Fähigkeiten unter das Tier herab. Vgl. dazu Lucien Maison, Jean Itard, Octave Mannoni: Die wilden Kinder (1964). Frankfurt a. Main 1972, hierzu besonders S. 39f., 53. Die häufige Darstellung verwilderter Kinder bei Stifter zeigt, daß ihn diese Problematik beschäftigt hat, vgl. dazu Kapitel 1.2.
Mit der programmatischen »Vorrede« reagierte Stifter auf einen Angriff Friedrich Hebbels, der in dem erstmals 1849 in der von Gustav Kühne herausgegebenen Zeitschrift »Europa« gedruckten Epigramm, »Die alten Naturdichter und die neuen« verspottete; es endete mit dem Satz: »Aber das mußte so sein; damit ihr das Kleine vortrefflich liefertet, hat die Natur klug euch das Große entrückt«. In: Friedrich Hebbel. Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Hrsg. v. Richard Maria Werner. I. Abt., 12 Bde., Berlin 1901–1903, Bd. 6, S. 349. Stifter verteidigt sich durch eine Umkehrung der Rangordnung. Sowohl in der Natur wie im menschlichen Bereich haben die kleinen, alltäglichen Prozesse durch ihre stetige Wirksamkeit mehr Größe und offenbaren die welt-und menschenerhaltenden Gesetze, die nur in einseitiger Ausprägung einzelner Kräfte hinter den großen, katastrophalen Erscheinungen bei Natur und Mensch liegen (HKG 2.2,12). Die »Vorrede« ist jedoch nicht nur eine Reaktion auf die Polemik Hebbels. Der Vergleich mit den Artikeln des »Wiener Boten«, aber auch mit einer Rezension Stifters vom 24. Juli 1846 zu Emilie von Binzers Erzählungen »Mohnkörner« in der Augsburger Allgemeinen Zeitung (PRA 16, 340–346) und mit Briefen an Aurelius Buddeus, Redakteur der Augsburger Allgemeinen Zeitung, vom 21. August 1847 (PRA 17, 246–255) und an seinen Verleger Heckenast v. Juli 1847 (PRA 17, 238–242) zeigt, daß die zentralen Grundgedanken der »Vorrede« eine Vorgeschichte haben, die vor Hebbels Epigramm zurückreicht. Diese Vorgeschichte läßt sich auch an poetischen Texten ablesen. Wie Oeggerli nachweist, zeigt schon das Lawinenbild eingangs des 3. Kapitels der Erzählung »Das alte Siegel« (Jf. 1844, Bf. 1847) die Abwertung der Erscheinungsformen eines Phänomens zugunsten der dahinter liegenden Gesetzmäßigkeiten. Die goldene Mücke, S. 16. Ein Vergleich der Passage in den beiden Fassungen zeigt, daß in der Buchfassung die Kausalität und somit die Gesetzmäßigkeit des Phänomens verstärkt wird. (Vgl. dazu HKG 1.2, 176 und 1.5, 372f.) Ein weiter zurückliegendes Beispiel ist die vorbildhafte Sanftheit des Obristen in »Die Mappe meines Urgroßvaters« (angelegt schon in der Urfassung von 1841/42). Vgl. dazu auch Eugen Thurnher: Stifters »Sanftes Gesetz« In: Unterscheidung und Bewahrung. Hrsg. v. Klaus Lazarowicz und Wolfgang Krön. Festschrift für Hermann Kunisch zum 60. Geburtstag. Berlin 1961, S. 381–397. 26 Dieser Gedankengang steht ebenso wie die Analogie von Natur- und Sittengesetz in der Tradition von Kants kategorischem Imperativ. Während die Ereignisse der Natur nach notwendigen Gesetzen, den Naturgesetzen, verlaufen, hängen die Handlungen des Menschen von seinem freien Willen ab. Das ethische Gesetz, so verlangt es das Postulat des freien Willens, muß aus dem Menschen selbst kommen. Durch den kategorischen Imperativ geben sich die Menschen ihre sittlichen Regeln selber. Er muß für alle gleichermaßen verpflichtend sein. Über die Verhaftung der »Vorrede« in der Philosophie der Aufklärung, vor allem aber auch über den dominanten Einfluß von Herders Geschichtsphilosophie auf Stifters Argumentation gibt der Stellenkommentar der historisch-kritischen Ausgabe Aufschluß, vgl. HKG 2.3, S. 90–120. Vgl. zu diesem Zusammenhang auch Owren, Herders Bildungsprogramm und seine Auswirkungen im 18. und 19. Jahrhundert, zu Stifter: S. 197–215 und
Sepp Domandl: Die philosophische Tradition von Adalbert Stifters »Sanftem Gesetz«. In: VASILO 21 (1972), F. 3/4, S. 79–103.
Vgl. Joachim Müller: Die Polemik zwischen Hebbel und Stifter und Stifters Ethos vom »Sanften Gesetz«. In: Gedenkschrift für F. J. Schneider (1879–1954). Hrsg. v. Karl Bischof, Weimar 1956, S. 265–305, hier S. 286.
In der Forschung wird immer wieder betont, daß sich das Postulat der »Vorrede« erst im »Nachsommer« (ersch. 1857) realisiere, zu dem sich die ursprünglich für die »Bunten Steine« vorgesehene Erzählung »Der alte Hofmeister« (begonnen 1847 und in Bruchstücken überliefert, PRA 25, 160d-166), später unter dem Titel »Der alte Vogelfreund« (in Arbeit 1852), ausgewachsen hat. Vgl. z. B. Eugen Thurnher: Stifters »Sanftes Gesetz«, S. 396, Helga Bleckwenn: Adalbert Stifters »Bunte Steine«. Versuche zur Bestimmung der Stellung im Gesamtwerk. In: VASBLO 21 (1972), F 3/4, S. 105–117, hier S. 107.
Abgesehen von Arbeiten mit psychoanalytischem Ansatz stehen in der Forschung andere Themen im Vordergrund. Für einen allgemeinen Überblick verweise ich auf die referierenden und ausführlich kommentierenden Forschungsberichte von Herbert Seidler: Adal-bert-Stifter-Forschung 1945–70. In: ZfdPh, 91 (1972), S. 113–157 und 252–285, zu »Bri-gitta« vgl. S. 258–260 sowie ders.: Die Adalbert-Stifter-Forschung der siebziger Jahre. In: VASILO, 30 (1981), S. 89–134, zu »Brigitta« vgl. S. HOf., 115, 120. — Eine durchgängig dominante thematische Rolle spielt in älteren und neuesten Arbeiten der Prozeß der Reifung und Veredelung der Seelen durch die für Stifter so typische Bearbeitung und Kultivierung der Natur. Ich nenne hier exemplarisch die Arbeit von Benno von Wiese: Adalbert Stifter. Brigitta. In: Ders.: Die deutsche Novelle von Goethe bis Kafka. Düsseldorf 1956, S. 196–212. Von diesem Ansatz geht auch die darüber hinaus weisende Analyse der Erzählung in der 1995 erschienenen Gesamtdarstellung von Begemann aus, vgl. Welt der Zeichen, S. 260–291. — Ebenfalls betont werden in diesem Zusammenhang der Aspekt der Kulturarbeit als Ordnungsarbeit, zum Beispiel von
Eleonore Frey: Dinge und Beziehungen: Zu Stifters Brigitta. In: Orbis litterarum, 24 (1969), H 1, S. 52–71, oder die metaphorische Funktion der Landschaftsdarstellung, die zum Beispiel nach Traude-Marie Nischik gar emblematische Züge trägt: Umhegter Garten und blankes Siegel. Emblematische Bildlichkeit in Adalbert Stifters Erzählungen »Brigitta« und »Das alte Siegel« 1844. In: Aurora, 38 (1978), S. 85–112. — Mir ist dagegen keine Arbeit bekannt, die die Relevanz der Kindheitserzählung von ihrer strukturellen Positionierung herleitet und ins Zentrum der Textanalyse stellt. Dagegen fällt bei psychoanalytisch orientierten Arbeiten naheliegenderweise der Blick auf die erzählte Kindheit Brigittas, so bei
Gerda Wesenauer: Literatur und Psychologie. Am Beispiel von Stifters »Brigitta«. In: VASILO, 38 (1989), F 1/2, S. 49–75. Dabei argumentiert die Verfasserin nicht primär vom Text, seinen ästhetischen Verfahren und seiner Strukturierung her, sondern von psychoanalytischen Erklärungsmodellen von Sigmund Freud, Anna Freud und Melanie Klein, die auf die Figuren, auf Brigitta und Murai, übertragen werden, ab S. 54. Vgl. dazu auch die psychoanalytisch orientierte Arbeit von Or-trud Gutjahr: Das »Sanfte Gesetz« als psychohistorische Erzählstrategie in Adalbert Stifters »Brigitta«. In: Freiburger literaturpsychologische Gespräche, hrsg. v. Johannes Cremerius u.a., Bd. 14: Psychoanalyse und die Geschichtlichkeit von Texten. 1994, S.285–305. Sie stellt die Eheproblematik im Kontext einer historischen Konfliktsituation von traditioneller Konventionsehe und bürgerlicher Liebesehe, von Öffentlichkeit und Intimität ins Zentrum, vgl. S. 285f., 291. Kindheit wird beiläufig im Zusammenhang mit der Entwicklung von Geschlechtsidentität behandelt, wobei über Brigitta jene Erziehung der Frau konterkariert werde, die sich an Formen der Repräsentation und Konvention orientiere, S. 287ff.
Vgl. dazu Eberhart Lämmert: Bauformen des Erzählens. 8. unveränderte Auflage. Stuttgart 1989, S. 104–108.
Der Begriff homodiegetisch zielt nach Gérard Genettes Begriffsverwendung auf jene Gestaltung der Erzählstimme, die Franz K. Stanzel mit Identität der Seinsbereiche von Erzähler und Erzähltem benennt, was das signifikante Merkmal der Ich-Erzählung darstellt. Vgl. Franz K. Stanzel: Theorie des Erzählens. 3. durchgesehene Auflage, Göttingen 1985, S. 71, 120–27. Dabei läßt Genettes Begriffssystem eine weitere Differenzierung zu, weshalb ich ihn hier beiziehe, da er zwei Typen homodiegetischer Erzähler unterscheidet. Die eigentlichen homodiegetischen Erzähler haben innerhalb des Erzählten nur eine Nebenrolle inne, während autodiegetische Erzähler selbst die Helden ihrer Erzählungen sind. Auktoriale und personale Erzählsituationen fallen dann unter den Begriff heterodie-getische Erzähler, da die Erzählinstanz als Vermittler nicht Teil der Erzählung ist. Vgl. Gérard Genette: Die Erzählung (1972). Mit einem Vorwort hrsg. v. Jochen Vogt. München 1994, S. 175f.
Wenn ich im folgenden von Leser spreche, gehe ich nicht von empirischen Lesern und Leserinnen aus, sondern vom Konstrukt eines idealen beziehungsweise Modell-Lesers und verstehe ihn als Textstrategie, deren Wahrnehmung jedoch der Interpretation unterliegt. Vgl. dazu Umberto Eco: Lector in fabula. München 1990, S. 62–82. Zu den Anspielungen, die die Erwartungshaltung und Spannung des Lesers erhöhen, gehören alle besonders vermerkten Beobachtungen aus der Perspektive des Wanderers, wie seine erste Begegnung mit der noch fremden Brigitta, die ihm aufgrund ihrer Männerkleidung und ihrer leitenden Funktion auf dem Gut auffällt (S. 418ff.), und mit dem Knaben Gustav. Dessen Schönheit wird bei einer ersten Begegnung besonders vermerkt; bei einer zweiten Begegnung entpuppt sich Gustav als Sohn Brigittas, wobei ihn seine Schönheit auch in Beziehung zum mehrfach als schön bezeichneten Major setzt (429). Eine weitere Beobachtung des Erzählers führt zu seiner Vermutung, daß entgegen der Behauptung des Majors, er habe sein Lebensziel gefunden, etwas in diesem Leben ungelöst ist (439), wobei weitere Hinweise andeuten, daß dieser »Bodensatz« mit einer Frau zu tun hat, mit Brigitta, wie immer deutlicher wird. So stößt der Erzähler auf die Photographie eines auffallend häßlichen Mädchens, die im Zimmer des Majors steht (440), bemerkt die grenzenlose Bewunderung des Majors für seine Nachbarin Brigitta — »das herrlichste Weib auf Erden« (442) — und erfährt durch die Erzählung Gömörs, des dritten im Landwirtschaftsbunde, bruchstückhaft die Lebensgeschichte Brigittas, die wegen ihrer Häßlichkeit von ihrem früheren Mann verlassen worden sei und vom Major geliebt werde (444). Das in der Vorrede exponierte Thema der Unergründlichkeit der Seelen und ihrer Anziehung, der inneren und äußeren Schönheit und der Häßlichkeit als Verhinderin von Zuneigung steigert die Kohärenz der Anspielungen. Das Photo des Mädchens verbindet sich mit der häßlichen Brigitta in der Erzählung Gömörs, der schöne Gustav mit dem schönen Major, dem alle Frauenherzen zufliegen (413f), so daß sich eine gemeinsame Vorgeschichte der drei Figuren bis zum Einschub der Kindheitserzählung andeutet.
Vgl. Helmut Pfotenhauer: »Einfach …wie ein Halm«. Stifters komplizierte kleine Selbstbiographie. DVjs, 64. Jg. (1990), S. 134–148, hier S. 142. Begemann, Welt der Zeichen, S. 95–109.
Vgl. dazu auch den knappen und kaum analytischen Essay von Klieneberger. Er stellt bei Stifter die Ambivalenz von romantischen und aufklärerischen Kindheitskonzepten fest. Er folgt darin Sengle, der allgemein für die Biedermeierzeit eine Verschränkung von Tendenzen der Romantik und der Aufklärung festgestellt hat. Vgl. dazu Hans R. Klieneberger: The Image of Childhood in »Bunte Steine«. In: Adalbert Stifter heute. Londoner Symposium 1983. Hrsg. v. Johann Lachinger, Alexander Stillmark und Martin Swales. Linz 1985, S. 129–134, hier S. 130, 133.
In der Forschung wird in diesem Zusammenhang auf den biographischen Hintergrund hingewiesen, das Scheitern der Beziehung von Amalia und Adalbert Stifter zu ihrer Ziehtochter Juliane, die von ihnen 1847 als Sechsjährige aufgenommen wurde und sich 1859 das Leben nahm. Vgl. König, Das Leben im Kunstwerk, die dies für »Kazensilber« und »Der Waldbrunnen« behauptet, S. 189. Vgl. zum »Waldbrunnen« auch Kurt Gerhard Fischer: Adalbert Stifter. Psychologische Beiträge zur Biographie. Linz 1961, S. 53, der in dieser Erzählung eine Kompensation für jene Wünsche Stifters sieht, die das Leben nicht erfüllte. Ich kann die Relevanz des biographischen Hintergrundes für »Der Waldbrunnen« nachvollziehen. Für »Kazensilber« bleibt er Spekulation und für »Brigitta« kann er so nicht herangezogen werden. Eine Argumentation, die sich darauf abstützt, wird darüber hinaus der ästhetischen Komplexität der Texte nicht gerecht. Peter A. Schoenborn erwähnt auch für »Brigitta« eine historische Person als Anregung, die im Habsburgerreich bekannte Frau von Friedland, eine reformfreudige und aktive Gutsbesitzerin. Vgl. dazu Peter A. Schoenborn: Adalbert Stifter. Sein Leben und Werk. Bern 1992, S. 350f. Daß sich Stifter von dieser historischen Person anregen ließ, ist möglich, was seine Erzählung aus ihr macht, ist dagegen etwas ganz anderes.
Diese Codierung der Geschlechtscharaktere wurde von der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts an vor allem von der anthropologischen Diskussion her betrieben. Vgl. dazu Hausen, Polarisierung der Geschlechtscharaktere, S. 386. — Claudia Honegger: Die Ordnung der Geschlechter. Die Wissenschaften vom Menschen und das Weib 1750–1850. München 1996. Die diskursive Festlegung der Frau auf ihre Rolle als Mutter in Verantwortung vor allem für die Pflege des Kleinkindes und die frühkindliche Sozialisation, während dem Vater die Vernunfterziehung seiner Kinder gebührt, geht oft mit einer In-fantilisierung der Frau einher, der man aus diesem Grunde gerade die höhere und sittliche Bildung der Kinder, das heißt in diesem Fall der Knaben, nicht überlassen kann. Bei Jean Paul, bei dem sich jedoch auch gegenläufige Tendenzen erkennen lassen, finden sich entsprechende Passagen: »Nach bekannten Grundsätzen ist die männliche Natur mehr episch und Reflexion, die weibliche mehr lyrisch und Empfindung. Campe bemerkte richtig, daß die Franzosen alle Mängel und Vorzüge der Kinder haben — daher sie, wie ich glaube, sich gern Athener nennen, welche der alte ägyptische Priester gleichfalls sehr kindlich und kindisch befand — ich habe an andern Orten ferner die große Ähnlichkeit zwischen Franzosen und Weibern dargetan. Aus beiden Behauptungen würde die dritte von der Ähnlichkeit zwischen Weibern und Kindern folgen, wenigstens von der schmeichelhaften.« (L, 683) Daß gerade Jean Paul in seiner »Levana« die Geschlechterrollen dynamisiert, hat Elsbeth Dangel-Pelloquin nachgewiesen: »Mütter, seid Väter! Väter, seid Mütter!« Die Erziehungskonkurrenz der Geschlechter in Jean Pauls Levana. In: Irmgard Roebling und Wolfram Mauser (Hrsg.): Mutter und Mütterlichkeit. Wandel und Wirksamkeit einer Phantasie in der deutschen Literatur. Festschrift für Verena Ehrich-Haefeli. Würzburg 1996, S. 195–206.
Vgl. dazu Kümmerle, Bildsamkeit, S. 3–6, 135–139, 143 sowie die parallele Darlegung bei Günther Buck: Herbarts Grundlegung der Pädagogik. Vorgelegt 1984 durch Hans-Georg Gadamer. Heidelberg 1985, S. 16–18.
Nach Kant ist das erhaben, »mit welchem in Vergleichung alles andere klein ist. Hier sieht man leicht, daß nichts in der Natur gegeben werden könne, so groß als es auch von uns beurteilt werde, was nicht, in einem andern Verhältnisse betrachtet, bis zum Unendlich-Kleinen abgewürdigt werden könnte; und umgekehrt nichts so klein, was sich nicht in Vergleichung mit noch kleineren Maßstäben für unsere Einbildungskraft bis zu einer Weltgröße erweitern ließe.« Nicht der Gegenstand selbst in seiner sinnlichen Form ist nach Kant erhaben oder groß zu nennen, sondern das Gefühl und die Ideen der Vernunft, die seine Betrachtung erweckt. Nach Kant liegt das Erhabene nicht in der Eigenschaft eines Gegenstandes, sondern im Subjekt, das sich im Moment der Ohnmacht, in dem es die Grenzen seiner Vernunft und Einbildungskraft erfährt, im Eindruck und Gefühl des Erhabenen selbst erhebt und sich seiner durch seine Urteilskraft vergewissert: »Also ist die Erhabenheit in keinem Dinge der Natur, sondern nur in unserm Gemüte enthalten, sofern wir der Natur in uns und dadurch auch der Natur (sofern sie auf uns einfließt) außer uns überlegen zu sein uns bewußt werden können.« Vgl. dazu: Immanuel Kant: Die drei Kritiken. In ihrem Zusammenhang mit dem Gesamtwerk. Mit verbindendem Text zusammengefaßt von Raymund Schmidt. Stuttgart 1969, S. 294, 296. Die Relativierung von groß und klein übernimmt Jean Paul in seine »Vorschule der Ästhetik« in § 32 im Zu-sammhang der Beziehung des Humors zum Erhabenen und meint dazu, daß »vor der Unendlichkeit alles gleich ist und nichts.« (V, 125). Vgl. dazu auch den Stellenkommentar zur »Vorrede« der »Bunten Steine« (HKG 2.3, 91).
Eva Geulen hat im Zusammenhang mit der Gestaltung des Erhabenen als Naturereignis am Beispiel des Textes »Die Sonnenfinsterniß am 8. Juli 1842« gezeigt, daß die Selbst-vergewisserung des Subjekts bei Stifter fehlt, wodurch er mit der Tradition des Erhabenen bricht. Nach Geulen verschiebt sich das Erhabene vom Subjekt auf die Sprache. Vgl. Eva Geulen: Worthörig wider Willen. Darstellungsproblematik und Sprachreflexion in der Prosa Adalbert Stifters. München 1992, S. 22. Zur Zersetzung der Kategorie des Erhabenen bei Stifter vgl. schon Irmscher, Wirklichkeitserfahrung und gegenständliche Darstellung, S. 163. Zur Umdeutung der Kategorie des Erhabenen bei Stifter unter Zurücknahme einer Selbstversicherung des Subjekts und Anerkennung eines allgemeinen Gesetzes vgl. ders.: Phänomen und Begriff des Erhabenen im Werk Adalbert Stifters. In: VASILO, 40 (1991), F 3/4, S. 30–58.
Neuere psychologische Forschungen im Rahmen der Hirnforschung zeigen, daß sich jede Erinnerung in jenem Moment, in dem sie im Gedächtnis aktualisiert wird, verändert. Vgl. John Körte: Weiße Handschuhe. Wie das Gedächtnis Lebensgeschichten schreibt. Aus dem Amerikanischen von Hartmut Schicken. München 1996. Diese Problematisierung authentischer Erinnerungen findet sich auch bei Freud, der in seiner Arbeit von 1899 »Über Deckerinnerungen« die Vermischung realer und phantasierter Elemente in Kindheitserinnerungen als Resultat von Abwehr und Verdrängung betont. Deckerinnerungen verdecken eigentliche, unangenehme Erlebnisse: »Ich kann Ihnen versichern, daß man solche Dinge sehr häufig unbewußt macht, gleichsam dichtet.« Freud, Gesammelte Werke, Bd. I, S. 546. Eine Merkwürdigkeit bei Deckerinnerungen sei zum Beispiel, daß man sich als Kind von außen sieht, obwohl man dieses Kind ist. Woraus sich schließen läßt, daß man kaum dieses Kind sein kann, vgl. ebenda, S. 552. — Ähnliches geschieht, wenn Stifter den Vorgang wie auf einem Bild gemalt vor sich sieht. Die Feststellung, daß Fiktion in Erinnerungen eine Rolle spielt, wird an der kleinen Selbstbiographie Stifters nachvollziehbar. Damit setze ich mich, wie auch andere neuere Arbeiten, von der Meinung Alfred Bauers ab, daß es sich bei den frühesten Erinnerungen Stifters um tatsächliche Erinnerungen handle, vgl.
Alfred Bauer: Die frühen Kindheitserinnerungen Adalbert Stifters. In: VASILO, 12 (1963), F. 3/4, S. 121–133. — Vgl. dazu folgende neuere Arbeiten: Helmut Pfotenhauer: »Einfach… wie ein Halm«, der die Lebensgeschichte als bewußt literarische, experimentelle Extrem- und Gegenposition in einem erinnerungssüchtigen Jahrhundert (S. 137) und die frühesten Erinnerungen als konstituierten Mythos des Uranfänglichen liest (S. 139). — Begemann, Welt der Zeichen, S. 99, spricht vom eher intertextuellen als memorativen Status der Kindheitserinnerungen, was ich mit Verweis auf die Stifters Text zugrundeliegenden anthropologischen Modelle zu zeigen versuchte.
Lacan, Phallus, Schriften II, S. 130. Die phallische Phase zeichnet sich nach Freud und Lacan durch die Prädominanz des männlichen Genitals für Mädchen und Jungen ab. Während Freud sich dazu wenig äußert, erklärt sich Lacan dieses Phänomen mit der besonderen Form der Repräsentation im Imaginären, wo sich Wahrnehmung nur über Anwesenheit und Abwesenheit strukturiert. Das weibliche Genital wird als Abwesenheit, Fehlen des männlichen Genitals gedeutet. Der Kastrationskomplex macht sich nicht zuerst am eigenen Organ fest, sondern entfaltet sich am Körper der Mutter. Vgl. Laplan-che/Pontalis, Vokabular, S. 383f. Nach Lacan schließt das Kind durch das Fehlen des männlichen Organs bei der Mutter nicht darauf, daß sie den Phallus nicht hat, sondern darauf, daß sie der Phallus ist. Durch Forschungen Melanie Kleins wird dieses Phantasma bestätigt. Sie hat beobachtet, daß Kinder den Phallus im Körper der Mutter lokalisieren. Vgl. Lacan, Phallus, Schriften II, S. 129. Im Spiegelstadium versuchte das Kind selbst Phallus für die Mutter zu sein, um ihr Begehren zu befriedigen und sie in ihrer Ganzheit zu bestätigen. Der Phallus wird dort zur reinen Repräsentation. Vgl. Weber, Rückkehr, S. 172f. Ein weiterer Schritt, der aus dem Spiegelstadium herausführt, besteht darin, daß das Kind erfährt, daß die Mutter den Phallus nicht hat, was sich durch den Einbruch des Vaters in die duale Beziehung und die imaginäre Identifizierung seines Geschlechts mit dem Phallus ereignet. An dieser Wahrnehmung macht sich der Kastrationskomplex fest. Er endet damit, daß die Vorstellung der Vollkommenheit, die sich nur auf ein Geschlecht konzentriert, untergeht und damit der Zugang zum anderen Geschlecht als Ergänzung eröffnet wird, was mit einer Akzeptanz des Inzestverbotes und der Respektierung der Beziehung der Eltern einhergeht. Der Phallus wird im anderen Geschlecht inkarniert. Lacan, Phallus, Schriften II, S. 129f, Widmer, Subversion, S. 92. Dieses Konzept wurde von feministischer Seite kritisiert, weil sowohl bei Freud als auch bei Lacan weibliche Sexualität nur von männlichen Parametern her gedacht wird und von der Ausschließlichkeit der Heterosexualität ausgangen wird, z. B. v. Luce Irigaray: Das Geschlecht, das nicht eins ist. (1977), Berlin 1979, S. 22 und
Judith Butler: Das Unbehagen der Geschlechter (1990). Frankfurt a. Main 1991. Die Psychoanalytiker Karen Hor-ney, Melanie Klein und Ernest Jones gehen davon aus, daß beim Mädchen von vorneherein die Existenz spezifischer sexueller Sensationen angenommen werden kann, Laplan-che/Pontalis, Vokabular, S. 385. 77 Lacan, Phallus, Schriften II, S. 121–132, zum Phallus als Signifikanten ohne Signifikat vgl. S. 125f. Zur Relevanz des Phallus bei der Konstituierung der Realität, S. 128: »Jedenfalls, der Mensch kann nicht die Absicht haben, ganz zu sein […] sobald das Spiel der Verschiebung und der Verdichtung, dem er in der Ausübung seiner Funktionen unterworfen ist, seine Beziehung als Subjekt zum Signifikanten markiert. Der Phallus ist der privilegierte Signifikant dieser Markierung, in der der Part des Logos mit der Heraufkunft des Begehrens konvergiert.« Zur Funktion des Phallus zur Wahrnehmung der Geschlechterdifferenz auf der Ebene der Begrifflichkeit, S. 130. Selbst wenn Lacan das Gegenteil behauptet, »verwendet seine Theorie eine auf der Anatomie bauende Verkürzung zwischen Phallus und Penis« und antwortet dadurch nicht nur auf das Primat des Männlichen in unserem kulturellen Symbolischen, sondern schreibt es fort. Dieser Aspekt wurde zu Recht von der feministischen Kritik an Lacan moniert, unter anderem von Hélène Cixous und Luce Irigaray. Vgl. dazu allgemein:
Chris Weedon: Wissen und Erfahrung. Feministische Praxis und poststrukturalistische Theorie (1987). Zürich 1990, S. 84–96, Zitat S. 74, vgl. zur feministischen Kritik an Lacans Konzept des Phallus vor allem auch Judith Butler: Köper von Gewicht. Berlin 1993. Diesen strittigen Begriff möchte ich deshalb in meiner Argumentation als Theoriemetapher verstanden wissen. Eingedenk dieser Kritik halte ich aber konsequenterweise an Lacans Begrifflichkeit fest, da mir sein Konzept der Psychogenese einleuchtet und ich seine Parameter sonst für sehr brauchbar halte.
Das Sprachspiel des Kindes erinnert an jene Stelle in »Jenseits des Lustprinzips«, in der Freud von seinem Enkel und dessen Fort-Da-Spiel mit der Fadenspule berichtet, mit dem das Kind die Abwesenheit der Mutter überbrückt. Freud, Jenseits des Lustprinzips (1920), Studienausgabe Bd. III: Psychologie des Unbewußten, S. 224–227. Für Lacan ist der Übergang ins Symbolische an dieser Episode relevant. Das Kind konstituiert sich als Ich im Symbolischen, indem es sich zu dessen Herr macht, die Fadenspule ist durch den Faden fest mit seiner Hand verbunden, sie kann nie ganz verschwinden. Das Kind bewegt sich unter den Prämissen des Symbolischen. Die Sprache setzt einerseits die Abwesenheit des Referenten, von dem sie spricht, voraus, anderseits kehrt der Anspruch im Symbolischen als Repräsentation wieder. Das Kind bewegt sich schon auf den beiden Bahnen des Symbolischen, die Lacan mit den Begriffen Metonymie und Metapher faßt. Weber, Rückkehr, S. 156–163. Zum strukturalistischen Paradigma der Metapherntheorie, von dem Lacan ausgeht, vgl. Roman Jakobson: Der Doppelcharakter der Sprache und die Polarität zwischen Metaphorik und Metonymik (1960). In: Anselm Haverkamp (Hrsg.): Theorie der Metapher. Darmstadt 1983, S. 163–174.
Vgl. dazu Kapitel 1.1 des Stifter-Teils. Diese Bedeutungszuschreibung ist derart konven-tionalisiert, daß man im semiotischen Sinn von einem Symbol sprechen könnte, vgl. z. B. Rolf Klopfer: Poetik und Linguistik. Semiotische Instrumente. München 1975, S. 35f. Der semiotische Symbolbegriff unterscheidet sich gerade durch den Faktor Konventio-nalisierung vom klassischen Symbolbegriff Goethes. In meiner Textanalyse ziehe ich den Begriff Indiz jenem klassischen Symbolbegriff auch in der einleuchtenden Neudefinition von Kurz, Metapher, Allegorie, Symbol, S. 66–84, vor, um die Konkurrenz zu Lacans Begriff des Symbolischen zu vermeiden. Nach der Definition von Roland Barthes deckt der Begriff Indiz auch jene Phänomene der Semantisierung von konkreten, dinglichen Elementen ab, auf die der Symbolbegriff zielt. Barthes, strukturale Analyse von Erzählungen, S. 111–114.
Exemplarisch seien folgende Arbeiten genannt: zur Funktion der Landschaftsdarstellung als Mittel indirekter Darstellung bei Stifter allgemein vgl. Wolfgang Preisendanz: Die Erzählfunktion der Naturdarstellung bei Stifter. In: Wirkendes Wort, 16 (1966), S. 407–418. Preisendanz weist auf S. 410 darauf hin, daß Stifters Naturdarstellung stets die subjektive Perspektive der Wahrnehmung impliziert und dadurch ein zentrales Moment des erzählbaren Geschehens ausmachen kann, zum Beispiel als Indiz problematischer Weltaneignung. Vgl. ferner dazu Irmscher, Wirklichkeitserfahrung und gegenständliche Darstellung, vor allem S. 109–124 und S. 143–148. — Spezifisch zum Zusammenhang Landschaftsdarstellung in metaphorischer Funktion in »Brigitta« vgl.
Eleonore Frey: Dinge und Beziehungen: Zu Stifters »Brigitta«. In: Orbis litterarum, 24 (1969), S. 52–71. Frey untersucht vor allem den Gegensatz von Formlosigkeit (Wüste) und Formgebung, Ordnungsarbeit. Sie stellt die Verzahnung von Landschaft und Mensch bei Stifter fest (59) und versteht Öde und Wüste als Ausdruck der Seele Brigittas (61).
Traude-Marie Nischik: Umhegter Garten und blankes Siegel. Emblematische Bildlichkeit in Adalbert Stifters Erzählungen »Brigitta« und »Das alte Siegel« (1844). In: Aurora, 38 (1978), SSII 2. Nischik konzentriert sich auf das in der emblematischen Tradition häufige Bild des »gepflegten Gartens«, wobei in ihrer Interpretation diese Tradition mehr Gewicht erhält als der unmittelbare Kotext, die Verknüpfung des angeblich emblematischen und statischen Bildes mit dem Textganzen (92ff.). Begemann, Welt der Zeichen, vgl. S. 266f. zur metaphorischen Ebene der erzählten Natur in »Brigitta«.
Stifter hat sich während seiner juristischen Studien in Wien intensiv mit Naturwissenschaften, mit Mathematik, Astronomie und Physik beschäftigt, was in seinem Werk deutlichen Nachhall findet. Zum Einfluß der Naturwissenschaften auf Stifters Schreiben vgl. vor allem Martin Selge: Adalbert Stifter. Poesie aus dem Geist der Naturwissenschaft. Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz 1976. Buggert weist anhand der verschiedenen Fassungen der »Mappe meines Urgroßvaters« nach, wie sich dieser Aspekt der Verwissenschaftlichung vom Früh- zum Spätwerk verschärft, vgl. Wandel der Wirklichkeitsauffassung, S. 122–132.
Vgl. dazu Horkheimer, Adorno, Dialektik, S. 40, 79. Sigrid Weigel: Topographien der Geschlechter. Kulturgeschichtliche Studien zur Literatur. Reinbek bei Hamburg 1990, S. 118f. — Zur weiblichen Konnotation des Amorphen, vor allem des Flüssigen, vgl.
Klaus Theweleit: Männerphantasien. 2 Bde. Frankfurt a. Main 1977, Bd. 1, S. 325f., 346–362.
Vgl. Hausen, Polarisierung der Geschlechtscharaktere, S. 369. Nach Claudia Honegger ist dieses Phänomen zurückzuführen auf die anthropologische Wende der Wissenschaften im 18. Jahrhundert, die das gegenseitige Bedingungsverhältnis von Körper und Seele zu erfassen trachteten. Vgl. Claudia Honegger: Sensibilität und Differenz. In: Ute Gerhard u.a. (Hrsg.): Differenz und Gleichheit. Menschenrechte haben (k)ein Geschlecht. Frankfurt 1990, S. 241–246 sowie ausführlich zu diesem Zusammenhang: Dies. Die Ordnung der Geschlechter, München 1996 (erstmals ersch. 1991). 129 Zur Aufspaltung des Weiblichen in der »Zivilisationsemblematik« vgl.
Klaus Heinrich: Das Floß der Medusa. In: Renate Schlesier (Hrsg.): Faszination des Mythos. Studien zu antiken und modernen Interpretationen. Basel, Frankfurt a. Main 1985, S. 335–398, hier S. 360f. Zum Zusammenhang von Weiblichkeit und Gründungsmythen vgl. ausführlicher Weigel, Topographien, S. 157–161. Zu einer feministischen Lektüre der Geschichte von Odysseus und den Sirenen vgl.
Ute Guzzoni: Die Ausgrenzung des Anderen. Versuch zu der Geschichte von Odysseus und den Sirenen. In: Irmgard Roebling (Hrsg.): Sehnsucht und Sirene. Vierzehn Abhandlungen zu Wasserphantasien. Pfaffenweiler 1992, S. 5–33. Zur Ordnungsstiftung, beziehungsweise Wiederherstellung der Ordnung am Körper der toten Frau vgl.
Elisabeth Bronfen: Nur über ihre Leiche — Tod, Weiblichkeit und Ästhetik (1992). München 1994.
Julia Kristeva: le mot, le dialogue, le roman. In: Dies.: Sémeiotiké. Recherches pour une sémanalyse. Extraits. Paris 1969, S. 85.
Johann Wolfgang Goethe: Wilhelm Meisters Lehrjahre. In: Johann Wolfgang von Goethe. Werke, Kommentare und Register. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Hrsg. von Erich Trunz. 11. Aufl., München 1982, Bd. 7, S. 98.
Friedrich Schlegel: Kritische und theoretische Schriften. Stuttgart 1978, S. 147, 164.
In diesem Sinn geht der Begriff Subtext auf die russische Semiotik zurück. Vgl. dazu Renate Lachmann: Gedächtnis und Literatur. Intertextualität in der russischen Moderne. Frankfurt a. Main 1990, S. 53.
Die Metapher des »doppelten Ortes« wurde von Sigrid Weigel für die spezifische Position der Frau im Symbolischen geprägt. Sie meint, daß die Frau in einer männlich geprägten symbolischen Ordnung zugleich beteiligt und ausgegrenzt ist. Sie kann an der herrschenden Sprache teilnehmen, aber benutzt dann eine Sprache, Normen und Werte, von denen sie als das andere Geschlecht zugleich ausgeschlossen ist. Vgl. Sigrid Weigel: Die Stimme der Medusa. Schreibweisen in der Gegenwartsliteratur von Frauen. 2. Aufl. Dülmen-Hiddingsel 1995, S. 7–9. Diese Metapher scheint mir hier für die Position des Kindlichen, die in »Kazensilber« mit jener des Weiblichen überlagert wird, passend zu sein. Auch in »Kazensilber« geht es, wie ich zu zeigen versuchen werde, über die doppelte Position der Kindheit: um Überwindung und Einschluß, beziehungsweise um Ausschluß eines Anderen der Vernunft.
»Indessen war das Mädchen schon wie ein Hirsch auf die höchste Höhe gekommen, war noch einen Augenblik in den Klippen sichtbar, und war dann verschwunden« (274). »Und ehe man sichs versah, huschte eine dunkle Gestalt gegen das Haus, und kletterte wie ein Eichhörnchen an dem Weingeländer empor […]« (303). Es handelt sich, da, abgesehen von Sigismund in einer kurzen Passage am Schluß der Erzählung, eine eigentliche Reflektorfigur fehlt, nicht um eine personale Erzählhaltung im Sinne Stanzeis, wie Joachim Müller behauptet, sondern um eine neutrale im Sinne Jochen Vogts: Aspekte erzählender Prosa. 6. Aufl., Opladen 1986, S. 28. Vgl. dagegen Müller, Menschenwelt, S. 47.
Die Polarisierung der Geschlechtscharaktere auf anthropologischer Basis ist Rousseaus »Emile« deutlich eingeschrieben, vgl. ebenda, 5. Buch, z. B. S. 732f.: »[…] die Männer hängen von den Frauen durch ihre Begierden ab; die Frauen hängen von den Männern durch ihre Begierden und ihre Bedürfnisse ab; wir könnten eher ohne sie bestehen als sie ohne uns. […] Daraus folgt, daß die Methode ihrer Erziehung in dieser Hinsicht der uns-rigen entgegengesetzt sein muß: die Meinung der Gesellschaft ist für die Männer das Grab der Tugend, für die Frauen aber ihr Thron«. Zur Polarisierung der Geschlechtscharaktere bei Rousseau vgl. Verena Ehrich-Haefeli: Zur Genese der bürgerlichen Konzeption der Frau: der psychohistorische Stellenwert von Rousseaus Sophie. In: Freiburger literaturpsychologische Gespräche. Hrsg. von Johannes Cremerius u. a. Bd. 12: Literarische Entwürfe weiblicher Sexualität. 1993, S. 89–134, hier S. 101–103, 132–134.
Mit »Ding« kann im Gesamtwerk Stifters alles — vom konkreten Gegenstand über Lebewesen, Gefühle, geschichtliche und rechtliche Verhältnisse bis zu religiösen und philosophischen Konzeptionen — bezeichnet werden, was den Begriff in seiner Bedeutung einerseits entleert, ihn anderseits zu einem alles umfassenden Ordnungsbegriff (Aspetsberger) werden läßt, jedoch nur durch eine suggestive Vertuschung der Differenzen. Subjekt und Objekt, Individuum und Allgemeinheit werden so als versöhnt darstellt und der Blick auf die Dissonanzen wird verdeckt (Amann). Vgl. Friedrich Aspetsberger: Schlüsselbegriffe zur Erfassung des Daseins in der Dichtung Adalbert Stifters. Diss. Wien 1913.
Klaus Amann: Adalbert Stifters »Nachsommer«. Studie zur didaktischen Struktur des Romans. Wien 1977, S. 121–132. Vgl. zur geschlechtsspezifischen Kleidung der Kinder des Gutshofes: »Die Schwesterlein hatten weiße Kleider an, sie hatten gelbe Strohhüte auf, von denen der eine sich mit Blondköpfchens Loken unkenntlich vermischte, der andere sich von Schwarzköpfchens Haupte wie ein Schein abhob, sie hatten rothe Bänder an den Hüten und Kleidern, sie trugen Körblein an dem Arme und die weiße Haselruthe mit dem Haken in der Hand. Der Knabe hatte weiße Höslein ein blaues Jäkchen und ein Strohhütchen auf den braunen Loken und eine kleinere weiße Ruthe mit einem Haken. Statt des Körbleins hatte er ein Täschchen von gelbem Leder an grünen Bändern über seine Schulter hängen« (254).
Homer: Odyssee. Übersetzt von Johann Heinrich Voß. Text der ersten Ausgabe. Stuttgart 1970, XII. Gesang, Vers 188.
Über die selbstverständliche, märchenhafte Präsenz und Gegenwärtigkeit des Wunderbaren im Wald in Gestalt des fremden Kindes, das allerdings nur für die Kinder sichtbar wird und in Spannung zur alltäglichen, profanen Welt gerät, weist sich »Das fremde Kind« gattungsmäßig als Kunstmärchen, genauer als märchenhafte Erzählung aus. Ich richte mich hier nach der Einteilung von Hugo Moser: Sage und Märchen in der deutschen Romantik. In: Die deutsche Romantik. Hrsg. v. Hans Steffen. 3. Aufl. Göttingen 1978, S. 253–276, hier S. 269f., der drei Arten von Kunstmärchen unterscheidet, das Kunstmärchen im Stil des Volksmärchens, das ideentragende Kunstmärchen und die märchenhafte Erzählung, die das Märchenhafte psychologisierend umdeutet. Nicht das Wunderbare, sondern das außergewöhnliche und rätselhafte Ereignis steht in Form des wilden Kindes und der Katastrophen im Zentrum von »Kazensilber«. Diese Erzählung hat eine novellistische Struktur, indem alles, was sich ereignet, zwar außergewöhnlich, aber wahrscheinlich anmutet.
Der Begriff der anagrammatischen Relation geht auf Renate Lachmann zurück. Bei dieser Relation steht ein Text beziehungsweise ein Gattungssystem als Prätext im Vordergrund, aus dem einzelne Elemente oder abstrakte Relationen übernommen und neu arrangiert werden. Als Gegenbegriff dazu entwirft Lachmann jenen der kontaminatorischen Relation, der die Übernahme von Einzelelementen aus verschiedenen Prätexten meint. Vgl. Renate Lachmann: Gedächtnis und Literatur. Intertextualität in der russischen Moderne. Frankfurt a. Main 1990; vgl. vor allem: Abschnitt II: Intertextualität und Dialogi-zität, S. 61.
Zum Einfluß Rousseaus auf E. T. A. Hoff mann vgl. Jacques Mounier: La fortune des écrits de Jean Jacques Rousseau dans les pays de langue allemande de 1782 à 1813. Paris 1980, S. 61f. Rousseau gehörte zu den Lieblingsautoren Hoffmanns, vgl. Alefeld, Göttliche Kinder, S. 355 sowie Brigitte Feldges und Ulrich Stadler:
E. T. A. Hoffmann: Epoche — Werk — Wirkung. Mit je einem Beitrag von Ernst Lichtenhahn und Wolfgang Nehring. München 1986, S. 90–93.
Lothar Pikulik: Romantik als Ungenügen an der Normalität. Am Beispiel Tiecks, Hoffmanns, Eichendorffs. 1. Aufl. Frankfurt a. Main 1979.
Vgl. Ludwig Tieck: Die Märchen aus dem Phantasus. Werke in 4 Bänden. Bd. II, hrsg. v. Marianne Thalmann, München 1964, S. 179: »Die Elfe umarmte das schöne Kind und sagte traurig: ›Ach, du liebes Wesen, so wie mit dir habe ich schon mit deiner Mutter gespielt, als sie klein war und uns besuchte, aber ihr Menschen wachst zu bald auf und werdet so schnell groß und vernünftig; das ist recht betrübt‹«.
Zur Darstellungsart des Märchens vgl. Max Lüthi: Märchen. 8. durchges. u. erg. Aufl. Stuttgart 1990, S. 29–32.
Hoffmann: Das fremde Kind, S. 486, Herv. v. B. MG. Als Magister Tinte die Kinder im Haus zurückhält, versucht das fremde Kind sie mit folgendem Ruf zu locken: »ich hab euch einen schönen Blumenpalast gebaut — da setzen wir uns hinein und ich schenk euch die herrlichsten buntesten Steine« (S. 498f.). Eine analoge Stelle findet sich in »Die Elixiere des Teufels«. Vgl. dazu E. T. A. Hoffmann: Die Elixiere des Teufels. Lebens-Ansichten des Katers Murr. Nach dem Text der Erstausgabe. Hrsg. v. Walter Müller-Seidel u.a. Darmstadt 1988, S. 13, im ersten Kapitel, das die Begegnung des Kindes Medardus mit einem »wunderbaren Kind« schildert, sowie S. 12: »Er [der Pilger] brachte einmal einen fremden, wunderschönen Knaben mit, der mit mir von gleichem Alter war. Uns herzend und küssend saßen wir im Grase, ich schenkte ihm alle meine bunten Steine, und er wußte damit allerlei Figuren auf dem Erdboden zu ordnen, aber immer bildete sich daraus zuletzt die Gestalt des Kreuzes«.
Vgl. dazu Alefeld, Göttliche Kinder, S. 346–384, hier S. 355 und 363. Ursache für die Vertreibung aus dem Kindheitsparadies ist in den »Bekenntnissen« die ungerechtfertigte Beschuldigung und Bestrafung von Jean Jacques, er hätte an einem Kamm des Fräulein Lambercier eine ganze Reihe Zähne böswillig ausgebrochen, ein Vorwurf, der das Kind in eine tiefe Verzweiflung stürzt. Vgl. Jean Jacques Rousseau: Die Bekenntnisse. Die Träumereien eines einsamen Spaziergängers. Übersetzt von Alfred Semerau und Dietrich Leube. Einführung von Jean Starobinski, Nachwort und Anmerkungen von Christoph Kunze. München 1978, S. 24f.
Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik (1818–1828). In: Theorie und Technik des Romans im 19. Jahrhundert. Hrsg. v. Hartmut Steinecke. Tübingen 1970, S. 1–3.
Der Begriff »Verständigungsmarke« stammt von Hugo Kuhn: Gattungsprobleme der mittelhochdeutschen Literatur. In ders.: Dichtung und Welt im Mittelalter. Stuttgart 1959, S. 41–61; er reflektiert die Problematik und Fragwürdigkeit von normativ verstandenen Gattungsbegriffen. Für meine Fragestellung ist nur ein möglichst offener Gattungsbegriff fruchtbar, da gerade die individuellen Variationen, Verschiebungen und Umdeutungen der einzelnen Texte interessieren. Ich schließe mich damit Lothar Köhn an, der für die Beibehaltung der Gattungsbegriffe Entwicklungs- und Bildungsroman als historischen Kategorien und Hilfskonstruktionen plädiert, weil sie einen Komplex inter-pretatorischer Zugänge umfassen, auf die zu verzichten kaum angebracht sei, zumindest solange nichts Besseres an ihre Stelle trete. Lothar Köhn: Entwicklungs- und Bildungsroman. Ein Forschungsbericht (1969). In: Selbmann, Zur Geschichte des deutschen Bildungsromans, S. 291–373, hier S. 369f. Vgl. dazu auch Kapitel 1.2 Zwischen Separation und Integration: Kindheit im Fokus der Diskurse.
Erst ganz am Ende des Romans, im letzten Abschnitt, konvergieren Handlungs- und Erzählergegenwart und kennzeichnen den Standort des Ich-Erzählers in diesem Roman (vgl. PRA 8, 238f.). Darauf, daß diese Ausgestaltung der Ich-Erzählhaltung zwangsläufig Widersprüche produziert, hat Klaus Amann hingewiesen: Adalbert Stifters »Nachsommer«. Studie zur didaktischen Struktur des Romans. Wien 1977, S. 70–78. Amann kommt zum Schluß, daß der Ich-Erzähler Heinrich ein Mittel und Medium für ein Erzählen sei, das einer übergeordneten Intention gehorcht, S. 76f.
Victor Lange: Der Nachsommer. In: Benno von Wiese (Hrsg.): Der deutsche Roman. Vom Barock bis zur Gegenwart. Düsseldorf 1963, Bd. II, S. 34–75, hier S. 49.
Der Problematik des Roman- bzw. Textanfanges wurde in der Forschung schon verschiedentlich Beachtung geschenkt, vgl. dazu Wolfdietrich Rasch: Das Problem des Anfangs erzählender Dichtung. Eine Beobachtung zur Form der Erzählung um 1900. In: Ders.: Zur deutschen Literatur seit der Jahrhundertwende, Stuttgart 1967, S. 49–57.
Hermann Piwitt: Zum Problem des Romaneingangs. In: Akzente, 8 (1961), S. 229–243.
Norbert Miller: Romananfänge. Versuch zu einer Poetik des Romans. Literarisches Colloquium, München 1968.
Diese Codierung der Rollen von Vater und Mutter wird zum Beispiel in der Vorstufe zu den »Lehrjahren«, im Fragment »Wilhelm Meisters theatralische Sendung« (1785) nicht nur dargestellt, sondern explizit formuliert: »In solcher Stimmung [Sorgen des Handels] verliert der Mensch ganz allen Sinn für Kinderfreuden, die auch eigentlich zu erfinden nicht des Vaters, sondern der Mutter Sache ist, und ist dann diese ein Unhold, so bleibt der armen Familie in ihren seligsten Jahren gar wenig Trost. Dieser Trost war ihnen hier die Großmutter.« Vgl. Johann Wolfgang von Goethe: Wilhelm Meisters theatralische Sendung. Hrsg. v. Wulf Köpke auf der Basis der Weimarer Ausgabe. Stuttgart 1986, S. 13. Seit der Neudeutung der Familie in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ist die Primärsozialisation die Aufgabe der Frau, sie bildet das Gemüt des Kindes, seine Phantasie und Kreativität, während der Vater die Familie nach außen vertritt und das bürgerliche Leistungsprinzip in die Familie hineinträgt, vgl. in der »Sendung« das zwölfte Kapitel, das diese Rolle des Vaters akzentuiert. Vgl. dazu auch Schillers »Lied von der Glocke«: »Der Mann muß hinaus/Ins feindliche Leben/muß wirken und streben […] Und drinnen waltet/Die züchtige Hausfrau, Die Mutter der Kinder, Und herrschet weise/Im häuslichen Kreise.« Schiller: Gedichte. In: Sämtliche Werke, Bd. I, 7. durchgesehene Aufl., München 1984, S. 431–442, hier S. 432f.
Wilhelm Heinrich Riehl: Die Familie. In: Ders.: Naturgeschichte des Volkes als Grundlage einer deutschen Sozialpolitik. Bd. 3, zehnte, mit vielen Zusätzen vermehrte Auflage, Stuttgart 1889 (1. Aufl. 1854), S. 122: »Die Familie steht unter der natürlichen Obervormundschaft der Eltern und speciell des Familienvaters. Diese Obervormundschaft ist ein Urrecht, in der Natur der Sache gegeben. Weil Vater und Mutter die Auetores, die Urheber der Familie sind, darum besitzen sie von selber auch die Auctoritas, die Macht der Autorität. Weil aber die Autorität die Gewalt des Urhebers ist, so ist sie andererseits gegründet auf die natürliche Liebe und Aufopferung des Erzeugers für sein Kind. Ebenso steht der Mann zu seiner Frau in dem aus der Liebe hervorwachsenden Verhältniß der Autorität. Nicht gezwungen durch äußere Unterdrückung, sondern weil sie es ihrer Natur nach gar nicht anders kann und mag, tritt die Frau unter die Autorität des Mannes. So war es, seit die Welt stehet und so wird es bleiben.« — Zum Fall Schreber vgl.
Morton Schatzmann: Die Angst vor dem Vater. Langzeitwirkungen einer Erziehungsmethode. Eine Analyse am Fall Schreber. Zürich 1976. Zitat:
D. G. M. Schreber: Kallipädie oder Erziehung zur Schönheit durch naturgetreue und gleichmäßige Förderung normaler Körperbildung. Leipzig 1858, zitiert nach Schatzmann, S. 47. — Eine Schrift Schrebers über ärztliche Zimmergymnastik aus dem Jahre 1860 fand sich auch in Stifters Bibliothek, vgl.
Erwin Streitfeld: Aus Adalbert Stifters Bibliothek. Nach den Bücher- und Handschriftenverzeichnissen in den Verlassenschaftsakten von Adalbert und Amalie Stifter. In: Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft 1977, S. 103–148, hier S. 139, Nr. 206. — Auch der grüne Heinrich Kellers neigt dazu, seinen verstorbenen Vater, der von seiner Mutter immer wieder als gegenwärtige Autorität herbeigeredet wird, mit Gottvater zu identifizieren. Für den kleinen Heinrich sitzt der Vater »zunächst dem Auge Gottes« und sieht alles, was er tut. Keller, Der grüne Heinrich, Bd. 3, S. 110.
Gotthold Ephraim Lessing: Gesammelte Werke. Hrsg. v. Paul Rilla. 2. Aufl., Bd. II: Nathan der Weise, S. 472f. (V 7) Berlin, Leipzig 1968.
Die Verdoppelung der Vaterposition und die Tendenz zur monologischen Einstimmigkeit betont auch Karl Wagner: „Patriarchalisches Stilleben?“ Ein sozialgeschichtlicher Versuch über Stifters »Nachsommer«. In: DVjs, 29 (1980), S. 139–165, hier S. 143f.
Vgl. dazu den Exkurs zu »Turmalin« in Kapitel IV.2.2. Als negative Spiegelung wird »Turmalin« auch von Ursula Petry in bezug auf ideale Raumdarstellung in anderen Texten Stifters, insbesondere in »Feldblumen« gelesen. Vgl. Ursula Petry: Die Entstehung einer Landschaft. Zur Dialektik des Drinnen und Draußen bei Adalbert Stifter. In: JbJPG, 2 (1967), S. 117–138, hier S. 131.
In der Tradition der Metaphysik, in der Risach offensichtlich steht, wird die Schrift gegenüber der beseelten Stimme abgewertet. Risach überdeckt metaphorisch diese Diskrepanz. — Zur Problematik der Schrift in der Tradition der Metaphysik vgl. Jacques Derrida: Grammatologie (1967). Übersetzt von Hans-Jörg Rheinberger und Hanns Zischler. 5. Aufl., erweiterte Ausgabe, Frankfurt a. Main 1994, S. 16–36. Die Dekonstruktion geht dagegen davon aus, »daß es kein sprachliches Zeichen gibt, das der Schrift vorherginge«, gerade jene Materialität, die unsere phono- und logozentrische Tradition an der Schrift kritisiert, charakterisiert die Sprache als unendliches Spiel von Signifikanten, S. 29. Diesem poststrukturalistischen Verständnis von Sprache folgt auch Lacan. Es gibt keine unmittelbare Präsenz der Bedeutung im einzelnen Zeichen, Sinn ist ein nachträglicher Effekt der Signifikation.
Michel Foucault: Die Ordnung des Diskurses (1971). Mit einem Essay von Ralf Konersmann. Erweiterte Ausgabe. Frankfurt a. Main 1991, vgl. besonders S. 10–17.
Als primärer Gegensatz, auf dem sich alle anderen hierarchisch aufbauen, wird die Opposition Mann/Frau von Hélène Cixous behandelt. Die primäre Opposition von Mann und Frau übertrage sich unendlich auf alle kulturellen Oppositionen. Mann versus Frau heiße automatisch auch oben versus unten, überlegen versus unterlegen, Kultur versus Natur etc. Vgl. dazu Hélène Cixous: Geschlecht oder Kopf. In: Dies.: Die unendliche Zirkulation des Begehrens. Berlin 1977, S. 21. Vorsichtiger argumentiert Culler, der vom Phänomen ausgeht, daß sich diese hierarchische Opposition auf zahllose Weisen in metaphysisch gedachte Gegensätze eingeschrieben hat, ob sie nun das Paradigma dieser Gegensätze sei oder nicht. In: Culler, Dekonstruktion, S. 183.
Vgl. dazu Roman Jakobson: Der Doppelcharakter der Sprache und die Polarität zwischen Metaphorik und Metonymik (1960). In: Anselm Haverkamp: Die Theorie der Metapher. Darmstadt 1983, S. 163–174, zum metaphorischen und metonymischen Prinzip vgl. S. 167f.
Vgl. dazu auch Borchmeyer, Ideologie der Familie. Borchmeyer stellt zunächst den explizit geäußerten Autonomiegedanken der Person als Grundposition ins Zentrum des »Nachsommers« (S. 232–235), zieht ihn dann aber auf der Basis widersprüchlicher Textelemente in Zweifel, vgl. S. 238ff. Zur ausschließlich patrilinearen Sozialisation vgl. auch Peter Schäublin: Familiales in Stifters »Nachsommer«. In: Adalbert Stifter heute. Londoner Symposium 1983. Hrsg. von Johann Lachinger, Alexander Stillmark und Martin Swales. Linz 1985, S. 86–99, hier S. 87f.
Horst Albert Glaser: Die Restauration des Schönen. Stifters »Nachsommer«. Stuttgart 1965, S. 13. Buggert, Wandel der Wirklichkeitsauffassung, S. 171, Keller, Schrift, S. 65–71, Begemann, Welt der Zeichen, S. 330ff.
Vgl. zu diesem Zusammenhang Wolfgang Frühwald: Fremde und Vertrautheit. Zum Naturverständnis in der deutschsprachigen Literatur seit dem 18. Jahrhundert. In: Zwischen Aufklärung und Restauration. Sozialer Wandel in der deutschen Literatur (1700–1848). Hrsg. v. Wolfgang Frühwald und Alberto Martino. Tübingen 1989, S. 451–463.
An die Auswahl der Bücher durch Risach hält sich Gustav ebenso strikt wie seine Mutter, vgl. dazu die Übergabe der persönlichen Ausgabe von Goethes Werken von Mathilde an ihren Sohn: »Du hast mich schon lange darum gebeten, und ich habe es Dir lange versagen müssen, weil es noch nicht für Dich war. Es sind Göthes Werke. Sie sind dein Eigenthum. Vieles ist für das reifere Alter, ja für das reifste. Du kannst die Wahl nicht treffen, nach welcher Du diese Bücher zur Hand nehmen oder auf spätere Tage aufsparen sollst. Dein Ziehvater wird zu den vielen Wohlthaten, die er Dir erwies, auch noch die fügen, daß er für Dich wählt, und Du wirst ihm in diesen Dingen eben so folgen, wie Du ihm bisher gefolgt hast.« (PRA 6, 270) Risach wählt für Gustav ausgerechnet »Hermann und Dorothea« aus (287), eines der beliebtesten Werke des 19. Jahrhunderts, eine Art säkularisiertes Gebetbuch des Bürgertums, das von Wilhelm v. Humboldt in einer theoretischen Abhandlung an die Seite der Werke der Antike gestellt wurde. Abgesehen vom »Werther« wurde kein anderes Buch Goethes so positiv aufgenommen, wobei seine Ironie in der Rezeption des 19. Jahrhunderts nicht wahrgenommen wurde. Vgl. dazu das Nachwort von Johann Heinrich Lützeler in: Johann Wolfgang Goethe: Hermann und Dorothea. Stuttgart 1987, S. 77–92, hier S. 77, 92. Der Text Goethes, in dem die Brautwerbung im Zentrum steht, ist gerade in bezug auf die Diskursivierung der Geschlechterrollen interessant. Zwar stellt er die Polarisierung der Geschlechtscharaktere in Frage, mündet jedoch am Schluß in ihre Vereindeutigung und Bestätigung.
Vgl. Roman Jakobson: Linguistik und Poetik (1960). In: Ders.: Poetik. Ausgewählte Aufsätze 1921–1971. Hrsg. v. Elmar Holenstein und Tarcisius Scheiben. Frankfurt a. Main 1979, S. 83–121.
Ohne biographisch zu argumentieren, läßt sich dennoch feststellen, daß sich auch Elemente der Biographie Stifters in jene Risachs eingeschrieben haben: der frühe Verlust des Vaters, Leinenweber und Flachshändler; der Besuch einer renommierten Lehranstalt als ärmlicher Schüler, den sich der Begabte zum Teil schon bald als Tutor selbst verdient; das Studium der Rechte, das Stifter allerdings im Unterschied zu Risach nie abgeschlossen hat; die unglückliche Liebe zu einer standesmäßig höhergestellten Frau, Fanny Greipl, die nicht erfüllende Ehe mit einer andern, Amalia Mohaupt, und die schmerzliche Kinderlosigkeit; die frustrierende Tätigkeit als Staatsbeamter, der im Falle Stifters im Schulinspektorat mehr bewirken wollte als ihm erlaubt war und der frustrierte Rückzug aus diesem Geschäft. Vgl. dazu Urban Roedl: Adalbert Stifter mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Reinbek bei Hamburg 1987, S. 13–47, 103ff.
Vgl. dazu Patricia Waugh: Metafiction. The Theory and Practice of Self-Conscious Fiction. London and New York 1984, vgl. S. 6: »Metafictional novels tend to be constructed on the principle of a fundamental and sustained opposition: the construction of a fictional illusion (as in traditional realism) and the laying bare of that illusion.«
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Mall-Grob, B. (1999). Adalbert Stifter — Fiktion im Zeichen des Normativen. In: Fiktion des Anfangs. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-04305-4_3
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