Zusammenfassung
Schweigen ist ein privilegiertes Thema der Literatur der Moderne, vor allem des 20. Jahrhunderts. Manche Untersuchungen legen sogar die Annahme nahe, Schweigen sei ein spezifischer Indikator, ein Signum der Moderne, und man hat dies mit der modernen Sprachskepsis zu erklären versucht, mit Zweifeln an der Sprache auf metaphysischer, auf pragmatischer und auch auf semantischer Ebene.1 Der Satz „Rien n’est vrai que ce qu’on ne dit pas“ etwa, den Jean Anouilh in seiner Bearbeitung des antiken Antigone-Stoffs seinem Créon zuschreibt, könnte als Beleg für eine Variante dieser modernen ,Sprachskepsis‘ angesehen werden. Aus seinem Kontext gelöst, lädt dieser Satz zu philosophischen, linguistischen und literaturwissenschaftlichen Spekulationen ein: Ist von einem Nicht-sprechen-können, einem Nicht-sprechen-wollen oder einem Nicht-sprechen-dürfen die Rede? Geht es um Schweigen oder Verschweigen? Eines indessen scheint klar: Schweigen wird als einziger Modus der Aussage von Wahrheit definiert. Anouilhs Créon, der Antigone von ihrem radikalen Idealismus abbringen möchte, sagt diesen Satz, um ihr zu erklären, daß er als Herrscher nach den Regeln der Politik agieren muß; nichts von dem, was er öffentlich sagen wird, dürfe sie daher für bare Münze nehmen. Bei der Uraufführung des Stücks, die 1944 während der nationalsozialistischen Besatzung in Paris stattfand, konnte dieser Äußerung auch eine ganz konkrete politische Bedeutung zugeschrieben werden.
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Notizen
Bodo Müller: Der Verlust der Sprache — Zur linguistischen Krise in der Literatur. In: GRM 47, N.F. 16 (1966), S. 225–243, hier S. 225.
Theodor Adorno: Ästhetische Theorie, Frankfurt Main 1973, S. 171.
Roland Barthes: Leçon/Lektion. Antrittsvorlesung am Collège de France. Frankfurt Main 1980, S. 19: „Doch die Sprache als Performanz aller Rede ist weder reaktionär noch progressiv, sie ist ganz einfach faschistisch, denn Faschismus heißt nicht am Sagen hindern, er heißt zum Reden zwingen.“
Die Abhandlung stammt von Carl C. Hense, vgl. Uwe Ruberg: Beredtes Schweigen in lehrhafter und erzählender deutscher Literatur des Mittelalters. München 1978, S. 13.
Eugen Gomringer: worte sind schatten. Reinbek 1969.
Christiaan L. Hart Nibbrig: Rhetorik des Schweigens. Versuch über den Schatten literarischer Rede. Frankfurt. M. 1981 (st 693).
Vgl. Uwe Ruberg: Beredtes Schweigen in lehrhafter und erzählender deutscher Literatur des Mittelalters. München 1978, S. 11.
Vgl. dazu Gustav Mensching: Das heilige Schweigen. o.O. 1926, sowie den Artikel „Schweigen“ im Lexikon für Theologie und Kirche Bd. 9 (1964), Sp. 540f.
Alois M. Haas: Mystik als Aussage. Erfahrungs-, Denk- und Redeformen christlicher Mystik. Frankfurt a.M. 1996, S. 7.
Niklas Luhmann/Peter Fuchs: Reden und Schweigen. Frankfurt a.M. 1989, S. 34f.
Grete Lüers: Die Sprache der deutschen Mystik des Mittelalters im Werke der Mechthild von Magdeburg. Darmstadt 21966, S. 1.
Vgl. dazu Ursula Peters: Religiöse Erfahrung als literarisches Faktum. Zur Vorgeschichte und Genese frauenmystischer Texte des 13. und 14. Jahrhunderts. Tübingen 1988 (Hermaea 56).
Mechthild von Magdeburg: Das fließende Licht der Gottheit. Hg. von Hans Neumann. München/Zürich 1990 (MTU 100), Bd.I, S. 74: „Nun fürchte ich Gott, wenn ich schweige, und ich fürchte unbekannte Leute, wenn ich schreibe.“
Ausführlich dazu Ingrid Kasten: Körperlichkeit und Performanz in der Frauenmystik. In: Paragrana 7 (1998), H. 1, S. 95–111.
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Kasten, I. (1999). Die doppelte Autorschaft. Zum Verhältnis Sprache des Menschen und Sprache Gottes in mystischen Texten des Mittelalters. In: Eggert, H., Golec, J. (eds) »…wortlos der Sprache mächtig«. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-04302-3_2
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