Zusammenfassung
Wenn August Wilhelm Ambros 1855 als polemisches Beispiel eine „Dame“ anführt, die sonst an Bachs grandiösem Bilde nichts bemerkt, als die Perücke,1 so konnte Fanny Hensel nicht gemeint sein. Die Komponistin, die nach Ansicht ihrer Mutter schon mit „Fugenfingern“ auf die Welt gekommen ist, hatte ein Porträt Bachs als einziges Bild in ihr Notenalbum eingeklebt und spielte bereits 1818, mit dreizehn Jahren, die 24 Präludien aus dem ersten Band des Wohltemperierten Klaviers auswendig vor.2 Einer solchen Spezialistin hätte man schwerlich das Präludium in Cis-Dur als le papillon, das in G-Dur als Springbrunnen und das in es-Moll als les soupirs verkaufen können.3 Ambros’ Karikatur zeigt indessen aber anschaulich, daß Bachs Klaviermusik, die Schumann 1848 als täglich Brot für den tüchtige[n] Musiker4 empfohlen hatte, inzwischen zum Allgemeingut aufgerückt (oder abgesunken?) war. Verglichen damit gehört die frühe Bach-Rezeption der Mendelssohns zu einem viel exklusiveren Vorgang. Bachs Musik überhaupt zu kennen, galt bis in die 1830er Jahre hinein als besonderes Privileg einer sehr kleinen kunstbegeisterten Elite. Hier lassen sich am Beispiel der Mendelssohns zwei bemerkenswerte Aspekte beobachten, die für die Rahmenbedingungen, unter denen die Rezeption stattfindet, und die daraus resultierende schöpferische Auseinandersetzung mit der Musik Bachs bezeichnend sind: erstens das Selbstverständnis der noch neuen bürgerlichen Bildungsschicht, sich selber als Träger und Erben einer nationalen kulturellen Tradition zu sehen und zweitens die (kunst-) religiöse Überhöhung der Musik Bachs.
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Notizen
vgl. Ulrich Wüster, Felix Mendelssohn Bartholdys Chor alkantaten. Gestalt und Idee, Frankfurt/M. 1996, S. 36 (Bonner Schriften zur Musikwissenschaft Bd. 1)
vgl. zur Funktion derartiger Sammel- und Erinnerungsbücher A. Fiedler, Vom Stammbuch zum Poesie-Album, Frankfurt 1960
Stein [vergibt] regelrechte literarische Propagandaaufträge, Fred E. Schrader, Die Formierung der bürgerlichen Gesellschaft 1550–1850, Frankfurt/M. 1996, S. 117
vgl. Carl Dahlhaus, Zur Entstehung der romantischen Bach-Deutung, in: Bach-Jahrbuch 1978, S. 195 f.
vgl. zur „reinen Tonkunst“ Bernd Sponheuer, Musik als Kunst und Nicht-Kunst, Kassel u.a. 1987, S. 105 ff. (Kieler Schriften zur Musikwissenschaft, Bd. 30)
vgl. Janina Klassen, Eichenwälder und Blumenwiesen, in: Archiv für Musikwissenschaft 53, 1996, S. 63 f.
Brief an Felix Mendelssohn Bartholdy, 30. November 1834, zit. nach Eva Weissweiler, Fanny Mendelssohn. Ein Portrait in Briefen, Frankfurt/M. 1985, S. 137
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Klassen, J. (1999). Fugenfinger und reine Kunst. In: Borchard, B., Schwarz-Danuser, M. (eds) Fanny Hensel geb. Mendelssohn Bartholdy. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-04298-9_13
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