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’Männlichkeit’ als Schauspiel

Die Entfaltung der Maskulinisierungsstrategien

  • Chapter
Männerblicke
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Zusammenfassung

Folgt man namhaften Theoretikern der modernen amerikanischen Geschichtsschreibung, so läßt sich die Wende zum 20. Jahrhundert in den USA als eine Phase des weitgreifenden kulturellen Umbruchs fassen. Der bekannte Kulturwissenschaftler Henry F. May sieht in dieser Epoche gar den Beginn einer ’cultural revolution’, die Amerika nur wenige Jahre später überflutete (1959, ix). Nach Ansicht Mays blieben die überlieferten viktorianischen Denkmuster zwar auch noch in den 1890er und 1900er Jahren bestimmend für die dominante Wirklichkeitserfassung; jedoch änderte sich in dieser Zeit erkennbar die Art und Weise, in der diese Muster in der ’herrschenden Rhetorik’ verhandelt wurden. Auch hatte sich die soziale Struktur der amerikanischen Bevölkerung deutlich geändert. Und diese Veränderungen hatten wiederum neue Strategieformen im Umgang mit der Wirklichkeit erzwungen. Vor dem Hintergrund des tiefgreifenden kulturellen Wandels — von dem insbesondere der Bereich der Geschlechterbeziehungen berührt war — wuchsen auch in rapider Weise die Bereitschaft und die Fähigkeit von VertreterInnen der dominanten Rhetorik, die ’Schwachstellen’ des alten Systems zu erkennen und in den Kontext emergenter Symbolräume wie ’Dekadenz’ und ’Überzivilisation’ einzubetten.

The fear of emasculation by other men, of being humiliated, of being seen as a sissy, is the leitmotif […] of the history of American manhood.

Michael S. Kimmel, „Masculinity as Homophobia”, 1994, 138

America [is] not a nation of ballet dancers.

Variety, June 26, 1914, in: Erenberg 1981, 85

[S]entiment is the devil.

Stephen Crane, in: Stallman 1952, 252

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Notizen

  1. Welche Bedeutung dieser ’kulturellen Zeitenwende’ im naturalistischen Selbstverständnis zugesprochen wurde, verdeutlichen Stephen Cranes Ausführungen: „Such an overturning of old gods and such a setting up of new ones, such an image-breaking, shrine-smashing, relic-ripping carnival I doubt has ever been witnessed […]. It has been a sort of literary Declaration of Independence” (in: Åhnebrink 1950, 156).

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  2. Für die zeitliche Eingrenzung des amerikanischen Viktorianismus gilt die übliche historiographische Praxis, die Daniel Walker Howe wie folgt skizziert: „Victoria reigned in Britain from 1837 to 1901, and these sixty-four years approximate the cultural dominion of what we call ’ Victorianism’” (Howe 1976, 3).

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  3. Antisentimentale Züge lassen sich beispielsweise im Werk von Herman Melville aufzeigen. Die Literaturwissenschaftler Charles Haberstroh und Ann Douglas vertreten in ihren Studien die These, daß Melville, der seine Hauptschaffensphase in den 1840er und 1850er Jahren hatte, ’Maskulinität’ überwiegend „as resistance to sentimentalism” konzeptualisiert hat (Douglas 1977, 294; vgl. Haberstroh 1980). Melvilles Werke stellen innerhalb des damals dominanten literarischen Diskurses allerdings eher eine Ausnahmeerscheinung dar. Edward Stone stuft Melville gar als einen frühen Vertreter der naturalistischen Tradition ein. In seiner Anthologie What Was Naturalism (1959) setzt er ihn in eine Reihe mit den Naturalisten Stephen Crane, Jack London, Frank Norris und Theodore Dreiser.

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  4. Henry Nash Smith verwendet den Begriff der ’Genteel Tradition’ in seinem Buch Democracy and the Novel (1978) als Synonym für alle als ’konventionell’ wahrgenommenen Aspekte der Kultur der Zeit: „What he [Santayana] means by the genteel tradition approximates what I mean by the value system of the dominant or popular culture” (in: Ruck 1992a, 76).

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  5. Syinfried Fluck unterscheidet drei Phasen in der Entwicklungsgeschichte der amerikanischen gentry: Die erste Phase umfaßt die Kolonialzeit, in der sich in der Oberschicht „noch ein Großteil der ökonomischen, politischen und sozialen Macht der Zeit” versammelte (Ruck 1992a, 72). In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts tritt ein Transformationsprozeß ein, bei dem sich die alte gentry in ein „Spektrum funktionaler Eliten” (ibid., 73) aufspaltet. Aus dieser Spaltung gehen im wesentlichen zwei, der urbanen, oberen Mittelschicht angehörige Gruppen hervor: „eine ökonomische Elite, die in der Anfangsphase der Kapitalisierung und Industrialisierung noch paternalistische Vorstellungen allgemeingesellschaftlicher Verantwortung ableitete und die kulturelle Elite, die ihnen bei der Formulierung und kulturellen Umsetzung dieser Ziele zur Seite stand” (ibid., 73). Eine dritte Phase ist von der Verschiebung des Einfußbereichs der gentry von ökonomischen und politischen „zu sozialen und vor allem kulturellen Funktionen” (ibid., 74) gekennzeichnet. Diese Einteilung korrespondiert im wesentlichen mit dem von den Men’s Studies entwickelten Stufenmodell. Als frühes Vorbild amerikanischer Männlichkeit hat Michael S. Kinunel den genteel patriarch identifiziert. Neben dem heroic artisan (Sinnbild des physisch kräftigen und freiheitsbewußten Jeffersonianischen yeoman-Farmers) verkörperte der genteel patriarch zum Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts ein wichtiges Ideal, das zur kulturellen Verständigung über ’Maskulinität’ benötigt wurde (Kimmel 1994b, 13).

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  6. Zur Genese des amerikanischen ’self-made man’ vgl. Michael S. Kimmels Buchkapitel „The Birth of the Self-Made Man” aus Manhood in America (1996, 13–42).

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  7. Auch in vielen Werken der Prosa wurde der Mythos des self-made man häufig thematisiert. E. D. E. N. Southworths Roman Ishmael / Self-Raised (1876), der zuerst unter dem Titel Self-Made veröffentlicht wurde, und E. P. Roes Bestseller Barriers Burned Away aus den 1870er Jahren stellen sorgfältige Fiktionalisierungen maskuliner Selbstformungsprozesse dar (vgl. Cawelti 1972, 126–138).

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  8. Ein später Rückhall dieses textstrategischen Musters ist in den Geschichten Ernest Hemingways spürbar. Besonders klar kommt dies in „Soldier’s Home” aus In Our Time (1925) zum Ausdruck. Auch hier verabschiedet sich eine Mutter tränenreich von ihrem in den Krieg ziehenden Sohn. „’I’m your mother,’ she said. ’I held you next to my heart when you were a tiny baby.’” Die von Scham und Abscheu getragene Reaktion des jungen Kriegsfreiwilligen, Harold Krebs, ähnelt verblüffend der von Cranes Helden: „Krebs felt sick and vaguely nauseated” (in: Schwenger 1984, 44).

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  9. „The Wilde Trials”, schreibt Jeffrey Weeks, „were not only the most dramatic, but also the most significant events, for they created a public image for the homosexual, and a terrifying moral tale of the dangers that trailed closely behind deviant behaviour” (1977, 21). Mit der weiblichen Homosexualität ist die viktorianische Rhetorik zumeist schonungsvoller umgegangen. Wie Caroll Smith-Rosenberg aufgezeigt hat, gab es in der amerikanischen Öffentlichkeit eine weitgehende Akzeptanz für lesbische Partnerschaften. Homosexuelle Beziehungen unter Frauen, die häufig mit Euphemismen wie ’romantic friendship’, ’the love of kindred spirits’ oder ’Boston marriage’ umschrieben wurden, wurden in der Gesellschaft toleriert „as a socially viable form of human contact — and, as such, acceptable throughout a woman’s life” anerkannt (Smith-Rosenberg 1985, 74).

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  10. Es entwickelte sich gleichzeitig auch eine Reihe von ergänzenden pejorativen Begriffen, ’sissy’, ’mollycoddle’ und ’pussy-foot’, die bald zu populären Spottwörtern wurden (vgl. Gorn 1986, 193). Als warnende Exempel symbolisierten die ’sissies’ eine Option der männlichen Identitätsentwicklung, die den einzelnen unwidemiflich zum Geächteten machte. „Every man who is a man”, schrieb Rafford Pyke in einem Aufsatz aus dieser Zeit, „would readily agree that he dislikes a ’Sissy’” (1902, 403).

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  11. Wie stark dieser Code auch Konsequenzen auf das Selbstverständnis der Homosexuellen hatte, läßt sich daran erkennen, daß sich homosexuelle Autoren im medizinischen und literarischen Diskurs häufig selbst als ’unnatural’ bezeichneten. So wollte etwa Charles W. Stoddard seine (unvollendet gebliebene) Autobiographie „Confessions of an Unnaturalist” nennen (vgl. Crowley 1991, xxv-xli).

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  12. Unterschwellig blieben die Codes des ’Kindlichen’ jedoch auch in der zeitgenössischen Rhetorik als Zeichen für eine bestimmte Form von Abhängigkeit und mangelnder Autonomie aktiv. Dies kommt etwa in der semantischen Verbindung von Religion, Schönheit, ’Femininem’ und/ oder ’Kindlichem’ zur Geltung. „In the fin de siècle-imagination”, schreibt T. J. Jackson Lears, „many of the ’childlike’ qualities associated with the premodern character, and with the unconscious, were also linked with femininity: fantasy, spontaneity, aesthetic creativity” (1981, 223).

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  13. „[T]he whole decade from 1894 through 1903 was a Napoleon decade. During those years the masterful French Emperor seemed to symbolize everything that Americans most admired in their image of the successful individual” (Greene 1970, 110). Allein zwischen 1894 und 1896 wurden in den USA 28 Bücher über Napoleon (allesamt verfaßt von amerikanischen AutorInnen) publiziert (vgl. Lears 1981, 113). Drei der vier meistverkauften Magazine in Amerika, Century, McClure’s und Cosmopolitan, veröffentlichten zwischen 1894 und 1903 Serien mit Biographien von Napoleon. „The names of Alexander, Cromwell, Napoleon”, schrieb Century in einem Editorial im Jahre 1901, „pass on the tongues of men as symbols of tremendous human power — in the case of Napoleon, at least, of almost superhuman power” (in: Greene 1970, 121, vgl. 110–165).

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  14. The Red Badge of Courage wurde 1895 zunächst in einer gestrafften, zur Zeitschriftenveröffentlichung gedachten Version herausgegeben (vgl. Poenicke 1982, 50). Die autorisierte Fassung des Buches avancierte zu Beginn des Jahres 1896 in England zu einem großen Erfolg, um erst nach einigen mahnenden Rezensionen der amerikanischen Presse (im New Yorker Bookman und in Literary Digest) auch vom amerikanischen Publikum entdeckt zu werden. Um das Buch und den Autor rankten sich von Anfang an zahlreiche Gerüchte und Fehlmeldungen, die seine Rezeption stark beeinträchtigten. So ging man vielfach davon aus, Crane sei ein Autor von beträchtlichem Alter, der selbst im Bürgerkrieg gekämpft habe. Ein Bürgerkriegsveteran war sich sogar sicher: „I was with Crane at Antietam” (in: Delbanco 1987, 52). In Wirklichkeit war Crane zum Zeitpunkt des Erscheinens von Red Badge 1895 erst 24 Jahre alt und verfügte über keinerlei Kriegserfahrungen (vgl. Berryman 1950, 1260. In den darauffolgenden Jahren der Crane-Rezeption gab es immer wieder schwerwiegende textkritische Probleme, die einer präzisen Textanalyse eher hinderlich waren. So sorgte zum Ende der 50er Jahre die Entdeckung eines Manuskriptes für Aufregung, das über eine große Anzahl in der autorisierten Appleton-Ausgabe nicht enthaltener Passagen verfügte. Der Verleger William Gibson entschied sich damals dafür, eine neue Ausgabe von The Red Badge of Courage — einschließlich der von Crane gestrichenen Abschnitte — herauszugeben. Andere Crane-Forscher, wie Richard Lettis und Robert W. Stallman, haben die umstrittenen Passagen als Zu-satzinformationen in ihre Editionen eingearbeitet (vgl. Poenicke 1982, 65f).

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  15. Erstaunlicherweise wurde The Red Badge of Courage zunächst von vielen Rezipientlnnen als ’unpatriotic’ und ’insulting’ erlebt (vgl. Beer 1941, 303). Widerstand kam insbesondere aus religiösen und militärischen Kreisen. A. C. McClurgs erboste Attacke in Dial („The Red Badge of Hysteria”, 1896) ist ein besonders krasses Beispiel für diese Auslegungsart (vgl. Berryman 1950, 131). Später verschwanden solche Stimmen, die bereits 1896 in der Minderheit waren, fast völlig von der Bildfläche. Es ist kein Zufall, daß Red Badge ausgerechnet in den kriegerischen 1940er Jahren neu entdeckt wurde. Während des Zweiten Weltkrieges wurde das Werk Cranes mit neu erwachendem Interesse rezipiert. Ernest Hemingway nahm mehrere Crane-Texte in seine Anthologie Men at War (1942) auf, und in der US-Army setzte man das Buch gar in einer eigenen Armed Forces Edition zur moralischen Aufrüstung des Heeres ein (vgl. Poenicke 1982, 55).

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  16. Noch im Jahre 1915, vor dem Eintritt der USA in den Ersten Weltkrieg, beteiligte sich Theodore Roosevelt persönlich an den Dreharbeiten von J. Stuart Blacktons Film The Battle Cry of Peace (1915), in dem zur raschen Intervention aufgefordert wurde (vgl. Toeplitz 1987, 127f).

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Brandt, S.L. (1997). ’Männlichkeit’ als Schauspiel. In: Männerblicke. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-04285-9_3

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  • DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-476-04285-9_3

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