Zusammenfassung
Die Postmoderne ist die Einsicht, daß Europa Auschwitz nicht überlebt hat. Und der Vorsatz, sich niemals von jenem Trauma, das Auschwitz bedeutet, erholen zu wollen. Was denken die Toten über uns? Dies ist die Grundfrage der Postmodeme, eine Perspektivenumkehr, die unsere herkömmliche, teleologische Geschichtsvorstellung von Grund auf revidiert. Denn bislang dienten die Toten der Absicherung unserer Lebens- und Zukunftsgewißheit. Es gehört zu den Vergnügungen der jeweils Gegenwärtigen, eine tödliche Vergangenheit nicht erlebt, diese also gleichsam überlebt zu haben und sich nun in der erschütternden Ahnungslosigkeit derjenigen ergehen zu können, die »damals« gerade noch nicht tot waren. Wir leben, weil sie tot sind. In uns breitet sich eine Genugtuung aus, die Canetti das »Friedhofsgefühl« nennt, und womit in diesem Zusammenhang der von Gegenwart zu Gegenwart errungene Endsieg teleologischen Denkens gemeint ist, eine zugleich überaus alltägliche und doch geschichtshaltige Gewohnheit. Stets begreifen wir die Gegenwart als das Telos, als die Endabsicht alles Vergangenen, und die Verbrechen finden ihren Sinn ganz einfach darin, in einer Vergangenheit begangen worden zu sein, deren Ergebnis unsere Gegenwart zu sein scheint. Nach Auschwitz gilt dies nicht mehr, weil es ein »Nach Auschwitz« nicht gibt; unsere Gegenwart — sie ist, obwohl Auschwitz geschah.
Preview
Unable to display preview. Download preview PDF.
Notizen
J.-F. Lyotard, »Das Inhumane. Plaudereien über die Zeit« (Wien: Passagen, 1989) 57 (1988).
J.-F. Lyotard, »Postmoderne für Kinder. Briefe aus den Jahren 1982–1985« (Wien: Passagen, 1987) 52 (1986).
J. Baudrillard, »Transparenz des Bösen. Ein Essay über extreme Phänomene« (Berlin: Merve, 1992) 9 (1990).
H. M. Enzensberger, »Palaver. Politische Überlegungen (1967–1973)« (Ffm.: Suhrkamp, 1974) 28.
M. M. Bachtin, »Literatur und Karneval. Zur Romantheorie und Lachkultur« (Ffm.: Fischer, 1990) 30.
J.-F. Lyotard, »Intensitäten« (Berlin: Merve, 1978) 12 (1973).
M. Heidegger, »Ge1assenheit« (Pfullingen: Neske, 1985) 23.
C. Lévi-Strauss, »Das wilde Denken« (Ffm.: Suhrkamp, 1973) 33 (1962).
G. Steiner, »Von realer Gegenwart. Hat unser Sprechen Inhalt?« (München u. Wien: Hanser, 1990) 190 (1989).
B. Strauß, »Der Aufstand gegen die sekundäre Welt. […],« in: »Die Zeit« 26, 22. 6. 1990: 57.
B. Strauß, »Anschwellender Bocksgesang,« in: »Der Spiegel« 6, 8. 2. 1993: 206.
B. Strauß, »Der Aufstand gegen die sekundäre Welt. […],« in: »Die Zeit« 26, 22. 6. 1990: 57; cf. G. Steiner, »Von realer Gegenwart« 183 ff.
B. Strauß, »Der Aufstand gegen die sekundäre Welt. […],« in: »Die Zeit« 26, 22. 6. 1990: 57.
Rights and permissions
Copyright information
© 1997 Springer-Verlag GmbH Deutschland
About this chapter
Cite this chapter
Gasser, M. (1997). Was ist die Postmoderne?. In: Die Postmoderne. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-04276-7_4
Download citation
DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-476-04276-7_4
Publisher Name: J.B. Metzler, Stuttgart
Print ISBN: 978-3-476-45181-1
Online ISBN: 978-3-476-04276-7
eBook Packages: J.B. Metzler Humanities (German Language)