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Zur dramaturgischen Konzeption von Senecas Agamemnon

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Abstract

Der Tod des Agamemnon hat — angefangen bei Homer, wo der Mythos freilich nur am Rande behandelt wird — immer wieder zu dichterischer, insbesondere zu dramatischer Gestaltung herausgefordert. Es sind von den vielen Bearbeitungen des Stoffes vollständig nur zwei Dramen auf uns gekommen, der ‘Agamemnon’ des Aischylos und das gleichnamige Stück des Philosophen Seneca. Beide Werke berühren sich kaum.1 So sind die griechische und die lateinische Bühnenversion literarisch jeweils für sich zu bewerten. Dennoch wurden immer wieder Verbindungen zwischen den Dramen hergestellt.2

Es handelt sich um die überarbeitete und mit Anmerkungen versehene Fassung der am 9.2.1994 in Köln zum Abschluß des Habilitationsverfahrens gehaltenen Einführungsvorlesung.

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Notes

  1. J.C. Tarrant, Seneca. Agamemnon, Cambridge 1976, S. 10: “It seems incredible that the Agamemnon of Aeschylus could ever have been thought Seneca’s source.” Nach Tarrant wären allenfalls Cassandras Visionen bei Seneca vergleichbar mit der Unheilsprophetie der Seherin im aischyleischen Stück sowie die Tatsache, daß in beiden Dramen ein Botenbericht über den Seesturm vorkommt. — J. Dingel, Seneca und die Dichtung, Heidelberg 1974, 56 sowie Senecas Tragödien. Vorbilder und poetische Aspekte, ANRW II 32,2 (1985) 1052–99 (zum ‘Agamemnon’ 1063–1066) hält es ebenfalls für sehr ungewi8, daB Seneca die attische ‘Agamemnon’-Tragödie als Vorlage diente; dagegen unterstreicht er noch einmal die schon durch Ribbeck aufgezeigte, weitaus deutlichere Abhängigkeit von römischen Dramenvorbildern (dem ‘Aegisthus’ des Livius Andronicus und der ‘Clytaemestra’ des Accius).

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  2. Das Prädikat redit (wohl als ein Präsens aufzufassen) signalisiert ein Mitauftreten der Clytaemnestra. So wird die Stelle von B. Seidensticker, Die Gesprächsverdichtung in den Tragödien Senecas, Heidelberg 1970, 120 Anm. 120 ausgelegt: Der Chor “sieht …, daß Agamemnon und Klytaimestra zusammen die Bühne betreten. Er schlieSt daraus, daß die Königin ihrem Gatten entgegenge-gangen ist (obvios illi tulit gressus) und nun mit ihm zusammen zurückkehrt (redit). Sie ist festlich Aeschmückt (festa 780).”

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  3. Vgl. O. Taplin, Aeschylean Silences and Silences in Aeschylus, HSPh 76 (1972) 57f.: “When a silence means something, the attention of the audience is directed to it; […] the other characters will talk about the silent person and his silence. For example, they can talk about how long the person has been silent, and why he is silent […] They can adress the silent person, ask him why he is silent, plead, console, torment — and meet with no reply.” Auch Seneca hielt sich im ‘Agamemnon’ an diese Gepflogenheit der attischen Tragiker (vgl. Ag. 126: quid tacita versas; Ag. 128: licet ipsa sileas; Ag. 710: silet repente Phoebas).

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  4. Vgl. die sehr nützliche Synopse der Rollenverteilungen in den senecanischen Tragödien durch D.F. Sutton, Seneca on Stage, Leiden 1986, 29–31, aus der her-vorgeht, daß neben dem Schlußakt des ‘Agamemnon’ nur der zweite Akt des ‘Oedipus’ eine ebensolche Viererkonfiguration aufweist.

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  5. K. Stackmann, Senecas Agamemnon: Untersuchungen zur Geschichte des Agamemnonstoffes nach Aischylos, Class. et Mediaev. 11 (1950) 180–211 nahm an, Seneca hätte die Szenenreihenfolge seiner Vorlage verändert. Clytaemnestras Scheltrede sei ehemals ein Botenbericht vorausgegangen, wohingegen der Bote und Berichterstatter Eurybates bei Seneca viel später auftritt. Fragwürdig bleibt dennoch, ob eine Wissensübermittlung intimer Kenntnisse in Senecas Vorlage über einen Botenbericht hätte geleistet werden können. Eurybates geht mehr oder weniger bereitwillig auf Fragen ein, wie die Heimfahrt der Flotte verlaufen sei. Brisante Einzelheiten über Agamemnons Liebesleben vor Troja hätte er vielleicht ebenfalls mitteilen können, aber sicherlich nicht mitzuteilen gewagt, und wird im übrigen auch nicht darum gebeten. Von wem also Clytaemnestra erfahren hatte bzw. hätte erfahren können, welche Rolle Chryseis, Briseis und nicht zuletzt Cassandra im Leben ihres Mannes spielten, bleibt offen. Bei Aischylos plant sie jedenfalls den Mord, ohne von Kassandra zu wissen. Im Botenbericht dort wird ihr keine Handhabe zum Rüchen eines Ehebruchs gegeben.

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  6. F. Leo, De Senecae tragoediis observationes criticae, Berlin 1878, 163.

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  7. Neben Tarrants vorzüglichem Kommentar sind vor allem folgende Arbeiten zu nennen: G. Streubel, Senecas Agamemnon, Diss. Wien 1963; B. Seidensticker (s.o. Anm. 4); E. Lefèvre, Schicksal und Selbstverschuldung in Senecas Agamemnon, Hermes 94 (1966) 482–96 (= ders. [Hrsg.] Senecas Tragödien, Darmstadt [WdF 310] 1972, 457–76); K. Anliker, Zum ‘Agamemno’, in: Lefèvre, E. (Hrsg.) Senecas Tragödien, Darmstadt (WdF 310) 1972, 450–56; E. Lefèvre, Die Schuld des Agamemnon. Das Schicksal des Troja-Siegers in stoischer Sicht, Hermes 101 (1973) 64–91; Johanna Brandt, Argumentative Struktur in Senecas Tragödien. Eine Untersuchung anhand der Phaedra und des Agamemnon, Hildesheim (Beiträge zur Altertumswissenschaft 5) 1986.

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  8. K. Kunst, Die Schuld der Klytaimestra II, WSt 44 (1924/25) 143–154.

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  10. J.M. Croisille, Le personnage de Clytemnestre dans l’Agamemnon de Sénèque, Latomus 23 (1964) 464–472.

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  16. Wie zuvor bereits Jo-Ann Shelton, Revenge or resignation. Seneca’s Agamemnon, in: A.J. Boyle (Hrsg.), Seneca tragicus. Ramus Essays on Senecan Drama, Barwick 1983, 168: “Clytemnestra is not the main character of the play, despite the length of her role; there is no one main character in the play.”

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  17. Vgl. C. Zintzen, Alte virtus animosa cadit, in: E. Lefèvre (Hrsg.), Senecas Tragödien, Darmstadt (WdF 310) 1972, 149–209.

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  18. W.H. Friedrich, Schuld, Reue und Sühne der Klytämnestra, in: ders., Vorbild und Neugestaltung. Sechs Kapitel zur Geschichte der Trag6die, Göttingen 1967, 140–187.

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  19. Vgl. A. Pickard-Cambridge, The Dramatic Festivals of Athens, Oxford 21968, 135–156.

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  20. Mit furtivum genus (Ag. 732) könnten sowohl Paris als auch Aegisth gemeint sein, beider Hetkunft war verdunkelt; vgl. Tarrant zur Stelle. Den Ausdruck agrestis iste (Ag. 733) konnte Seneca gleichfalls ambivalent setzen, da die Mythen sich auch in diesem Punkte ähnlich waren; vgl. für Paris Apollodor (Bibl. 3, 12, 5), für Aegisth Hygin (fab. 87: puer est natus, quem Pelopia exposuit, quem inventum pastores caprae subdiderunt ad nutriendum; Aegisthus est appellatus ideo quod Graece capra aega appellatur). — Offenbar ist die Diskussion über den Sinn der einzelnen Ausdrücke und der ganzen Partie zur Ruhe gekommen. Vgl. B. Seidensticker, Gesprächsverdichtung (wie o. Anm. 4) 126 mit Anm. 148; J. Dingel, Seneca tragicus: Vorbilder (wie o. Anm. 1) 1065f.

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  21. Die Vermutung O. Zwierleins (Weiteres zum Seneca Tragicus II, WüJbb 4, 1978, 156f.), daB zwischen 898 und 899 ein einzelner Vers ausgefallen ist, würde hiermit durch ein formales Argument gestützt. Doch selbst bei einem Versverhältnis 8: 7 wäre noch eine Gleichbehandlung zu konstatieren.

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  22. Cassandras Anwesenheit wird an zwei Stellen deutlich: Zum einen spricht Electra sie direkt an, als Clytaemnestra die Bühne betritt (Ag. 951f.: concedam ad aras. — Patere me vittis tuis, l Cassandra, iungi paria metuentem tibi.), zum anderen wendet sich Clytaemnestra Ag. 1001ff. der Trojanerin zu, die daraufhin auch selbst das Wort ergreift (Ag. 1004ff.). Während der Auseinandersetzungen der Mörder mit Electra ist die Seherin als am Altar stehend zu denken (vgl. Ag. 951f.). Ein Rollentausch mit der Ag. 997 abgeführten Electra könnte keinesfalls vonstatten gehen, da sich beide ‘sichtbar’ am Altar bzw. in seiner Nähe befinden (Electra verläßt diesen Ag. 972: recedo ab aris). Ein solcher Tausch wäre im übrigen vorher schon nötig gewesen, als Electra mit Strophius zusammen auf die Bühne kam. Der ‘Schauspieler’ des Phokers dagegen hätte unter realen Aufführungsbedingungen nach seinem Abgang (Ag. 943) ohne weiteres den Part der Clytaemnestra oder des Aegisth übernehmen können. — Es zeigt sich, wie o. Anm. 23 angedeutet, daß Seneca, wäre sein Stück für den Bühneneinsatz konzipiert, auch hier wieder einen offenkundigen Regelverstoß begangen hätte. Bei einer Rezitation fällt jedoch die Zahl der zeitgleich eingesetzten ‘Akteure’ nicht ins Gewicht, da alles auf die ‘Sprecher’ ankommt. Und in dieser Hinsicht ist Seneca kein Fehler unterlaufen: die Sprecherkonfiguration hält sich in der Schlußszene an die gebotene Dreizahl; denn Cassandra meldet sich erst zu Wort, da Electra ‘abgetreten’ ist. Greift man auf Cassandras Monolog Ag. 877–909 zurück, der ihre ‘Bühnenpräsenz’ im Schlußakt einleitet, müßte sie natürlich insgesamt als Sprecherin gewertet werden. Doch im Bewußtsein des Zuhörers treten die nachfolgenden Dialoge (Strophius-Electra, Clytaemnestra-Electra, Aegisthus-Electra) so stark in den Vordergrund, daß die ‘Sprachpotenz’ der Seherin für die Rollenkonstellation nicht mehr von Bedeutung ist.

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  23. Als ein solcher bezeichnet sich der aischyleische Aigisthos selbst: Kdyw Si– Katos ‘rov“Se rov (1)dvov daulKis (Aisch., Ag. 1604). Im Munde der senecanischen Electra kommt dieser Schuldzuweisung freilich größeres Gewicht zu, da hier — im Gegensatz zu jenen prahlerischen Selbstbehauptungen — die Mordtat eindeutig auch Aegisth einschließt.

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  24. In ihrem Eingangsmonolog sieht Clytaemnestra den Mord an Agamemnon als eine unabdingbare Folge ihres Ehebruchs an. Vgl. Heldmann, Untersuchungen zu den Tragödien Senecas, Hermes Einzelschriften 31, Wiesbaden 1974, 102f.

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  25. In der ‘Phaedra’ zeigen sich ähnliche Ansätze zu einer verteilten und zugleich konglomerierten Schuld wie im ‘Agamemnon’: Hippolytus und Theseus werden neben Phaedra als nicht minder affektbesessen und subjektiv schuldig vorgeführt. — Eine Intensivienmg durch Doppelung (hier sogar durch Verdreifachung) trifft man im übrigen in senecanischen Dramen häufig an: In der ‘Medea’ etwa entspricht der Furor der Titelfigur Med. 397ff. ganz der Beschreibung, welche die Nutrix zuvor von ihr gegeben hat Med. 380ff. Und dem von Rachedurst getragenen Wüten der Juno im Prolog des ‘Hercules furens’ folgt im Drama selbst die Gestaltung eben dieses Affekts durch die Figur des Hercules. Senecas ‘Phaedra’ wiederum lehrt, daß auch divergierende Affekte zu einer Steigerung genutzt werden können. Die Beschreibung von Phaedras Zustand durch die Nutrix (Phaed. 360–383) steht in einem krassen Widerspruch zu dem anschließenden Auftritt der Kranken (Phaed. 387ff.): auf Siechtum und Schwäche folgt ein unerwartet kraftvoller Gefühlsausbruch. Nicht eine einheitliche Charakterdarstellung strebte Seneca als Dramatiker an, er war vielmehr an der dramatischen Entfaltung der verschiedenen Affekte interessiert.

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Bernhard Zimmermann

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Riemer, P. (1997). Zur dramaturgischen Konzeption von Senecas Agamemnon. In: Zimmermann, B. (eds) Griechisch-römische Komödie und Tragödie II. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-04271-2_11

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