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Inszenierte Tradition: Zur Ästhetik der Kapitelüberschriften

  • Chapter
Die gleitende Logik der Seele
  • 107 Accesses

Zusammenfassung

Kapitelüberschriften sind Aufmerksamkeitssignale von hoher Signifikanz, die als strategische Mittel der Textperspektivierung eine zentrale rezeptionssteuernde Funktion übernehmen. Um so erstaunlicher ist es, daß die Einteilung in Kapitel und das subtile Spiel der Kapitelüberschriften zu den bisher vernachlässigten Bereichen literaturwissenschaftlicher Forschung zum MoE gehören.1 Das ist nicht nur darum verwunderlich, weil dieses Stilmerkmal allein im MoE, nicht aber im übrigen Erzählwerk Musils Verwendung findet, sondern vor allem deshalb, weil es eine Ausnahmestellung des Romans innerhalb der Literatur seiner Zeit markiert, die höchst bemerkenswert ist und Perspektiven eröffnet, die weitreichende Konsequenzen mit sich bringen. Weder in Joyces ‘Ulysses’, den Werken Kafkas, Brochs, Robert Walsers, noch in den Bänden von Prousts ‘Recherche’ findet sich Vergleichbares;2 und auch dort, wo gediegene Kapitelüber-schriften auftreten, wie in Thomas Manns ‘Zauberberg’, ist das Raster der Segmentierung nicht so fein, so engmaschig — zumal Manns Überschriften in ihrem teils affirmativen, teils ironischen Verweisungsspiel auf Literaturtraditionen des 19.Jhs. ihre Kontur vor einem ganz anderen Bezugshintergrund gewinnen, als die ausführlicheren Kapitelankündigungen des MoE.3

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Endnotes

  1. Einige Bemerkungen zum Überschriftengebrauch im MoE finden sich bei P.-A. Alt (1985): Ironie und Krise, S.194–197, sowie bei H.Arntzen (1960): Satirischer Stil, S.66–69. Man wird Alts Beobachtungen, die in ihrer Prädominanz des Ironiebegriffs nicht immer zu einer genauen Analyse der unterschiedlichen Stilmittel und Textspielverfahren führen, sondern mitunter, wie es scheint aufgrund fehlender Differenziertheit, eher vereinfachen, nicht in allem zustimmen müssen, um sich der Einsicht anzuschließen, daß das ironische Potential der Überschriften als Subversion des alltäglichen Sprachgebrauchs wie der Romanwelt gleichermaßen ihre Funktion im Text bestimmt. Wenig problembewußt dagegen erscheint Arntzens Versuch einer Interpretation der Kapitelttberschriften als satirische Entblößungen der Romanwelt, deren Begriffe, wie Arntzen vergröbernd resümiert, “als die Schwachsinniger denunziert”(S.69) werden. Ebenso wenig plausibel ist Amtzens graphische Darstellung der Beziehungsfolge der Kapitel 20–28 mit der unverständlichen Schlußfolgerung, das Schema mache “die Relation offenbar. Die Wirklichkeit erweist sich als Parallelaktion.”(S.68).

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  2. Zur kulturhistorischen bzw. anthropologischen Relevanz von Kapiteleinteilungen vgl. P. Stevick (1970): The Chapter in Fiction. Theories of Narrative Division.

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  3. Henry Fielding: ‘Joseph Andrews’(1742), London 1961, S.73.

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  4. M. M. Bachtin (1979): Die Ästhetik des Wortes, S. 120.

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  5. Vgl. dazu die analoge Formulierung des Kapitels ‘The Shaping Imagination’ bei P.Stevick (1970): The Chapter in Fiction, S.131.

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  6. E.-P.Wieckenberg (1969): Zur Geschichte der Kapitelüberschrift im deutschen Roman vom 15.Jahrhundert bis zum Ausgang des Barock, S.9–26. Hinweise zum Tempus in der Kapitelüberschrift gibt weiterhin F.K.Stanzel (19894): Theorie des Erzählens, S.58–66.

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  7. Man wird insofern sagen können, daß in den Kapitelüberschriften der Stil zum zentralen Perspektivträger avanciert, und somit jene Funktion der Illusionserschwerung ausfüllt, die E.Lobsien (1975): Theorie literarischer Illusionsbildung, S.107ff. allgemein für stilistische Textperspektivierungen reklamiert hat. Nach Lobsien werden dann, “wenn der Stil als Perspektivträger in die lllusionskonkretisation eingeht, … die Konstitutionsbedingungen des betreffenden Textes erkennbar. Denn dadurch, daß der Stil die Kriterien der Abschattungen dargestellter Gegenstände noch einmal heraushebt, erschwert er die Illusionsbildung, die ja auf eine indirekte Wirkung dieser Sinnabschattungen angewiesen ist. Der Stil als Perspektivträger erleichtert folglich eine Reflexion auf den Kontingenzcharakter des fiktionalen Textes. und seine Funktion. Das Dargestellte wird in seiner Besonderheit und Andersheit empfunden und rückt so in eine Distanz zu lebensweltlich Vertrautem.”(ebd.S.107).

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  8. E.-P.Wieckenberg (1969): Zur Geschichte der Kapitelüberschrift…, S.18.

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  9. W.Preisendanz (1980): Karnevalisierung der Erzählfunktion in Balzacs’Les Parents Pauvres’. Bei einiger Vergleichbarkeit der beiden monumentalen Projekte, der ‘Comédic humaine’ und dem MoE, etwa in ihrem enzyklopädischen Anspruch und der Bilanzierungsleistung epochal bedeutsamer Sinnbestände, scheint die von Preisendanz für Balzac reklamierte ‘Karnevalisierung’ im Spiel des ‘ästhetischen Humors’ doch in weit starkerem Maße auf Musils Roman zuzutreffen als auf die ‘Comédie humaine’, deren überwiegender Teil an Überschriften weit weniger durch Komisierung der Sachbezüge gekennzeichnet ist, als die Ankündigungen des MoE.

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  10. Vgl. dazu die Kapitelüberschriften des ‘Don Quijote’: I.Teil, Kapitel III: “Donde se cuenta la graciosa manera que tuvo Don Quijote en armarse caballero”; Kapitel X: “De los graciosos razonamientos que pasaron entre Don Quijote y Sancho Panza, su escudero”; II.Teil, Kapitel XXVI: “Donde se prosigue la graciosa aventura del titerero, con otras cosas en verdad harto buenas”.

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  11. Vgl. dazu einschlägig J.Ritter (1974): Über das Lachen.

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  12. Vgl. Jean Paul (1962): Vorschule der Ästhetik § 43, S.171–173.

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  13. Vgl. E.Mach (19229): Die Analyse der Empfindungen.

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  14. Jean Paul (1962): Vorschule der Ästhetik § 44, S.175. Vgl dazu auch Jean Pauls eigenen Gebrauch der Kapitelüberschrift, die Ermächtigung von Quisquilien zu Statthaltern der Überschriftenfunktion, etwa den Mineralienkabinettsüberschriften in den ‘Flegeljahrcn’, die in keinem eindeutig sinnhaften Bezug stehen zu dem unter sie gefaßten Textabschnitt. Als Stilmittel zur Erzeugung von Kontingenz verleihen die Überschriften dem Roman in Jean Pauls eigenen Worten einen “farbigen Rand und Diffusionsraum fremder Bei-Züge”. Vgl. hierzu auch H.Meyer (1963): Diffusionsraum der Überschriften.

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  15. M.M.Bachtin (1979): Die Ästhetik des Wortes, S.133 sowie S.169.

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  16. Vgl. dazu die allgemeine Funktion innertextueller Relationierungen in der Fiktionalitätstheorie W.Isers, in: W.Iser (1983): Akte des Fingierens. Zur “Umgeltung von Geltung” durch die Relationierung “des aus der Textumwelt eingekapselten Materials”, hier S.131f.

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  17. Ich übernehme hier einen Baustein aus Definitionsversuchenmetaphorischer Sprache, wie K.Stierle sie in seinen ‘Aspekten der Metapher’, in: K.Stierle (1975): Text als Handlung, S.152–185 unternimmt. Nach Stierle produzieren Metaphern deshalb Leerstellen für Besetzbarkeiten, weil die zueinander in Beziehung gesetzten semantischen Felder zum einen kategorial inkompatibel zum anderen aber eine exklusive Isomorphie bzw. eine exklusive Gemeinsamkeit einer Teilmenge von Eigenschaften aufweisen. Dabei erreicht die Dialektik von Nähe und Ferne “den Punkt ihrer größten Spannung da, wo größte kategoriale Distanz und größte exklusive Gemeinsamkeit kategorialer Merkmale zusammenkommen, dann nämlich, wenn Substitut und Substituent zueinander im Verhältnis einer zweigliedrigen semantischen Opposition stehen.”(ebd. S.155).

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  18. F. Nietzsche (1967): Menschliches, Allzumenschliches, § 221, KGA 4/2, S.184f.

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Precht, R.D. (1996). Inszenierte Tradition: Zur Ästhetik der Kapitelüberschriften. In: Die gleitende Logik der Seele. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-04247-7_5

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  • DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-476-04247-7_5

  • Publisher Name: J.B. Metzler, Stuttgart

  • Print ISBN: 978-3-476-45151-4

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