Zusammenfassung
Im umfangreichen Material der im Nachlaß vorgefundenen Aufzeichnungen Musils finden sich einige Seiten mit nicht kenntlich gemachten Notizen, Aphorismen und poetischen Bestimmungen, die allesamt Exzerpte aus den Lyceums-Fragmenten Friedrich Schlegels sind. Enthalten unter den hier vermerkten romantheoretischen Überlegungen ist auch der Satz von der Flucht der Lebensweisheit vor der Schulweisheit, die in der liberalen Form des Romans ihr zeitgemäßes Refugium gefunden habe. Die Romane fungierten damit gleichsam als “die sokratischen Dialoge unserer Zeit”(LF 26), als notwendige Erweiterung der theoretischen Anschauung in der unendlichen Fülle der “romantischen Form”.1 Folglich definiert Schlegel die Aufgabe des Romans, als “Kompendium eine Enzyklopädie des ganzen geistigen Lebens”(LF 78) zu präsentieren, eine poetische Durchdringung der Zeit zu leisten in der Universalität des ästhetischen Spiels.
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Endnotes
Zu den Romanfiguren des MoE vgl. u.a. unter satirischer Sinnperspektive H.Arntzen (1960): Satirischer Stil, S.127–175; unter dem Aspekt paradoxer Verhältnisse: H.Honold (1963): Die Funktion des Paradoxen bei Robert Musil, S.90–142; werkimmanent: D.Kühn (1965): Analogie und Variation. Zur Analyse von Robert Musils Roman DMoE; S.Rinderknecht (1979): Denkphantasie und Reflexionsleidenschaft. Musils Formsynthese im Roman DMoE; ideologiekritisch: G.Müller (1972): Ideologiekritik und Metasprache in Robert Musils Roman DMoE; P.V.Zima (1980): L’Ambivalence romanesque. Proust — Kafka — Musil; P. Y.Zima (1980): Textsoziologie. Eine kritische Einführung, S.119–142; P.V.Zima (1986): Roman und Ideologie. Zur Sozialgeschichte des modernen Romans, S.55–69; im erweiterten Sinne auch G.Graf (1969): Studien zur Funktion des ersten Kapitels von Robert Musils MoE; trotz des Titels eher biographisch-werkgeschichtlich: S.Howald (1980): Ästhetische Ideologiekritik. Robert Musils DMoE; unter dem Begriff der Ironie: P.-A.Alt (1985): Ironie und Krise, S.217–300; dazu zahlreiche biographisch-entstehungsgeschichtliche Studien zu einzelnen Figuren, etwa E.Castex (1977): Militärischer und ziviler Geist. Zur Funktion und Entwicklung der Figur des Generals Stumm von Bordwehr in Robert Musils Roman DMoE; K.Corino (1980): Musils Diotima: Modelle einer Figur, u.a.
M.Glowinski (1974): Der Dialog im Roman, S.14.
Vgl. W.Preisendanz (1984): Die Ästhetizität des Gesprächs bei Fontane, S.478.
Textbelege zur Disproporionalität zwischen Anspruch und Realität der Parallelaktion liefert H.Arntzen (1960): Satirischer Stil, S.120–125.
W.Moser (1980): Diskursexperimente im Romantext zu Musils DMoE, S.173, 187f.
Vgl. dazu R.Warnings Interpretation des Lotmannschen Kulturmodells als “eine spezifische Explikation der Foucaultschen Diskurstheorie, … bezogen … auf die Ordnung des narrativen Diskurses”. R. Warning (1982): Der ironische Schein: Flaubert und die ‘Ordnung der Diskurse’, S.308f.
Zu den hier herausgestellten Relationen vgl. W.Iser (1976): Der Akt des Lesens; auch W.Iser (1979): Zur Problemlage gegenwärtiger Literaturtheorie.
Vgl. stellvertretend: U.Schramm (1967): Fiktion und Reflexion.
Vgl. etwa A.J.Greimas (1972): Elemente einer narrativen Grammatik; A.J.Greimas (1972): Die Struktur der Erzählaktanten. Versuch eines generativen Ansatzes; A.J.Greimas (1971): Strukturale Semantik. Methodologische Untersuchungen. Greimas differenziert die Prädikate, mittels derer der fiktionale Text Auskunft gibt über seine Personen, in die Analysekategorien ‘funktional’ und ‘prädikativ’. Funktionale Prädikate sind unmittelbar handlungsrelevante, sujetkonstitutive Kennzeichen und Faktoren der Personendarstellung, wogegen ‘prädikativ’ jene Charakteristiken der Personengestaltung umfaßt, bei denen dieser umnittelbare Handlungsbezug fehlt. Offensichtlich ist allerdings, daß solche Unterscheidungen nahezu in jedem Einzelfall ein persönliches Interpretament darstellen und damit keineswegs ‘objektive’ Gegebenheiten der Textstruktur beschreiben. Zweitens ergibt sich wohl bei jedem literarischen Text eine Vielzahl an Mischformen, die weder eindeutig der ersten noch der zweiten Kategorie zuordenbar sind. Was hier dem Text als Struktur unterstellt wird, ist wie jeder Verstehensakt eine persönliche Interpretation, die in eklatantem Widerspruch steht zur intendierten linguistischen Objektivität einer unvoreingenommen zu beschreibenden ‘narrativen Grammatik’. Gleiches gilt auch für J.Kristevas an Greimas angelehnte Differenzierung zwischen ‘qualifizierenden’ und ‘prädikativen’ Adjunktoren. Dabei entspricht die Beschreibung ‘qualifizierender’ Adjunktoren dem Begriff ‘prädikativ’ bei Greimas, wogegen’prädikativ’ bei Kristeva, ‘funktional’ im Sinne von Greimas meint. Vgl. J.Kristeva (1972): Diskurs und Text. Der Text als signifizierende Praxis. Unnachvollziehbar aber erscheint vor allem das breit elaborierte Regelwerk T.Todorovs, eine Art’motivationspsychologischer’ Strukturalismus, dessen explizite Intention, im Anschluß an R.Jakobson die ‘Literarizitat’ des Textes zu untersuchen und den Strukturaufbau des literarischen Werkes zu erhellen, auf einer Reihe höchst willkürlich gesetzter psychologischer Präsupposition beruht. Die Interaktion literarischer Figuren basiere (in diesem Punkt folgt Todorov Greimas) auf drei Grundprädikaten, ‘Verlangen’, ‘Kommunikation’ und ‘Anteilnahme’, von denen sich eine Vielzahl hierarchisch geordneter ‘Ableitungsregeln’, wie ‘Oppositionsregel’ und ‘Passivregel’ (Todorov unterscheidet hier insgesamt zwölf verschiedene Beziehungen), sowie ‘Aktionsregeln’ ableiten. Neben der von Todorov leichthin als gerechtfertigt verteidigten Disproportionalität zwischen Formalismus und möglicher Applikation bleibt nur sehr schwer einsehbar, wie die von ihm angesetzten Grundprädikate, die immer Produkt einer persönlichen Einfßhlungsästhetik sind, das komplizierte Regelwerk tragen sollen, das auf ihnen errichtet wird. Zweitens ist es bezeichnend, daß die ausgeführten ‘Aktionsregeln’ nach dem Muster “Es seien A und B und C, drei Agenten, und es sei, daß A und B eine bestimmte Beziehung zu C haben. Wenn A sich bewußt wird, daß die Beziehung B — C identisch mit der Beziehung A — C ist, handelt A gegen B.”, einer Handlungstheorie entnommen sind, die sich auf lebensweltliche, nicht aber auf literarische Handlungskonstellation bezieht. Leerstellen in der Interaktion literarischer Figuren dadurch besetzen zu wollen, daß man sie nach Vorgabe solcher Regeln ausfüllt, verfehlt nicht nur die avisierte ‘Literarizitat’ des Textes, es schränkt zudem den hermeneutischen Spielraum ein auf ein Minimum möglicher Konkretisationen. Die naive Übertragung logischer Gesetzmltßigkeit auf menschliches Handeln und auf Literatur unterstellt gerade dort eine Eindeutigkeit, Gesetzmäßigkeit und Logik, wo die Spezifik literarischer Personengestaltung im fiktionalen Text ihr Wirkungspotential aus konstitutiver Unbestimmtheit zieht. Vgl. T.Todorov (1972): Die Kategorien der literarischen Erzählung, S.271ff.
Zur Funktion der Illusionsbildung in der rezeptionsästhetischen Dimension der Figurengestaltung vgl. H.Grabes (1978): Wie aus Sätzen Personen werden… Über die Erforschung literarischer Figuren.
D.Kühn (1980): “DMoE” — Figur oder Konstruktion.
So zuerst bei P.Nusser, der im MoE eine weltanschaulich-ideelle “Kulissenwelt der Typen” sieht, die “durch ihre bloße Gegenwart Möglichkeiten von Weltverständnis”, darstellen. Vgl. P.Nusser (1967): Musils Romantheorie, S.86 u. S.97; siehe ferner: G.Müller (1972): Ideologiekritik und Metasprache; J. F.Peyret (1980): Von jenen, die auszogen den MoE zu verstehen; W.Moser (1980): Diskursexperimente im Romantext; P.V.Zima (1980): L’ambivalence romanesque; P.V.Zima (1980): Textsoziologie; P. V Zima (1986): Roman und Ideologie.
F.Aspetsberger (1973): Zu Robert Musils historischer Stellung am Beispiel des Romans DMoE, S.241ff.
Ebd. S.240.
E.Mach (19229): Die Analyse der Empfindungen und das Verhältnis des Physischen zum Psychischen, S.24.
E.Mach: Autobiographie (1913), in: J.T.Blackmoore (1978): Three Autobiographical Manuscripts by E.Mach, S.416.
E.Mach: Brief an Gabrielle Rabel von 11.11.1906, zitiert nach: J.T.Blackrnoore u. K.Hentschel (Hrsg.) (1985): Ernst Mach als Außenseiter, S.47f.
E.Mach (19265): Erkenntnis und Irrtum: Skizzen zur Psychologie der Forschung.
J.M.Lotman (1973): Die Struktur des künstlerischen Textes, S.358.
H.Böhme (1974): Anomie und Entfremdung. Literatursoziologische Untersuchungen zu den Essays Robert Musils und seinem Roman DMoE; H.Böhme (1976): Theoretische Probleme der Interpretation von Robert Musils Roman DMoE. Der mißverständliche Titel täuscht leicht darüber hinweg, daß Böhme hier ein präskriptives Modell entwickelt, das für den MoE einzig und allein eine literatursoziologische Interpretationsperspektive als gerechtfertigt erklät. K.Laermann (1970): Eigenschaftslosigkeit. Reflexionen zu Robert Musils Roman DMoE; P.V.Zima (1980): Textsoziologie.
Zur Theorie der flat und round characters, vgl. E.M.Forster (1962): Ansichten des Romans.
Der Hinweis auf diese Referenz stammt von W.Bausinger (1962): Studien zu einer historisch-kritischen Ausgabe von Robert Musils Roman DMoE. Vgl. E.Wilkins (1968): Gestalten und ihre Namen im Werk Robert Musils, S.55, Fußnote 33.
Vgl. O.Wilde: Der Verfall der Lüge. Eine Betrachtung / Ein Dialog, in: ders.: Werke in zwei Bänden, München 1970, Bd.1, S.412, wo Cyril seinen Dialogpartner Vivian fragt, ob er tatsächlich meine “daß das Leben, das arme, wahrscheinliche, uninteressante Leben, versuchen wird, die Wunderdinge der Kunst zu reproduzieren?” und Vivian antwortet ”… daß das Leben die Kunst weit mehr nachahmt als die Kunst das Leben.”
U.Eisele (1982): Ulrichs Mutter ist doch ein Tintenfaß. Zur Literaturproblematik in Musils MoE, S.174f.
Vgl. H.Plessner (19722): Die anthropologische Dimension der Geschichtlichkeit; E.Bloch (1969): Spuren. (Eingangsmotto); W.Iser (1990): Fingieren als anthropologische Dimension der Literatur, S.25.
W.Iser (1991): Das Fiktive und das Imaginäre, S.130.
Zu den Eigennamen im MoE vgl. die entstehungsgeschichtliche Studie von E. Wilkins (1968): Gestalten und ihre Namen im Werk Robert Musils, sowie einige Hinweise bei D.Hochstatter (1972): Sprache des Möglichen, S.47–56 und W.Bausinger (1962): Studien zu einer historisch-kritischen Ausgabe von Robert Musils Roman DMoE.
J.Tynjanov (1969): Das literarische Faktum, S.428f.
Vgl. S.Sonderegger (1987): Die Bedeutsamkeit der Namen.
R.M.Martin u. P.K.Schotsch (1974): The Meaning of Fictional Names, S.388.
H.Birus (1987): Vorschlag zu einer Typologie literarischer Namen; H.Birus (1978): Poetische Namensgebung. Zur Bedeutung der Namen in Lessings ‘Nathan der Weise’, (darin zu Musil S.47f.).
So zum Beispiel die Namen Meingast und Lindner, die sehr früh feststanden aber mehrmals den Namenstrager wechselten. Vgl. E. Wilkins (1968): Gestalten und ihre Namen im Werk Robert Musils, S.49f.
Vgl. Ebd. S.49.
O.Wilde: An Ideal Husband, in: The Complete Works of Oscar Wilde, New York 1923, Bd.VIII, S.197, S.255.
H.Birus (1987): Vorschlag zu einer Typologie literarischer Namen, S.45.
D.Hochstätter (1972): Sprache des Möglichen, S.47ff.
Diese Tendenz zur Entschärfung betonen ebenfalls — allerdings ohne Interesse am lndexwert dieser Entwicklung für die Funktion der Figuren im Roman — W.Bausinger (1962): Studien zu einer historischkritischen Ausgabe…, und E.Wilkins (1968): Gestalten und ihre Namen im Werk Robert Musils, S.54.
F.W.Riemer: Mitteilungen über Goethe, hg.v. A.Pollmer, Leipzig 1921, S.350, zitiert nach H.Birus (1978): Poetische Namensgebung, S.42.
F.Nietzsche (1967): Menschliches, Allzumenschliches § 221, KGA 4/2, S.186, zitiert nach H.Birus (1978): Poetische Namensgebung, S.42.
Jean-Paul (1962): Vorschule der Ästhetik §74, S.252f., zitiert nach H.Birus (1978): Poetische Namensgebung, S.42f.
Zum Begriff des ‘Namens auf Pump’ vgl. T.Ziolkowski (1980): Figuren auf Pump. Zur Fiktionalität des sprachlichen Kunstwerks; zur Theorie der Internymie vgl. W.F.H.Nicolaisen (1986): Names As Intertextual Devices; W.G.Müller (1991): Interfigurality. A Study on the Interdependence of Literary Figures; W.G.Müller (1991): Namen als intertextuelle Elemente.
Vgl. T.Ziolkowski (1980): Figuren auf Pump, S.172.
P.Ricoeur (1981): Mimesis and Representation, S.28ff.
Zu einer solchen grob kategorisierenden Zuordnung unterschiedlicher Typen der Namensgebung zu Gattungen und Epochen vgl. die Thesen von H.Birus (1987): Vorschlag zu einer Typologie literarischer Namen, S.47f.
Nach Bachtin ist jedes Wort zunachst einmal durch eine innere bzw. immanente Dialogizität gekennzeichnet, die aus der Fülle der in der Geschichte des Wortes angesammelten Konnotationen besteht. In unterschiedlichen semantischen Zusammenhängen und syntaktischen Kompositionen wird diese innere Dialogizität entweder monologisch reduziert auf eine einzige erstarrte Bedeutung, so etwa in autoritär-politischer Rede, beim Klischee und interessanterweise auch in der Lyrik, oder aber sie wird durch ihr kontextuelles Arrangement, etwa in der ausgezeichneten Form des Romandialogs polyphon zum ‘Sprechen’ gebracht. Vgl. M.M.Bachtin (1979): Die Ästhetik des Wortes, S. 154–300.
Zum Begriff der ‘hybriden Konstruktion’, der Kombination zweier auf unterschiedlicher Ebene angesiedelter Sprachäußerungen (abgebildete Rede und abbildende Rede), deren Effekt eine Unvereinbarkeit und folglich die Schragstellung der abgebildeten Rede ist, vgl. ebd. S.240ff.
M.M.Bachtin (1979): Die Ästhetik des Wortes, S.246f.
Daß dies eines radikale Veränderung seiner in früheren Werken verfolgten Schreibstrategien bedeutet, hat Musil an anderer Stelle im Tagebuch notiert: “Mit meinem Ernst, mit der ersten Gruppe meiner Bücher dringe ich nicht durch. Ich benötige dazu ein Pathos, eine Überzeugtheit, die meiner ‘induktiven Bescheidenheit’ nicht entspricht, auch nicht meiner nach widersprechenden Richtungen beweglichen Intelligenz entspricht, für deren Eifer u. heftige Leidenschaft die Ergänzung durch Ironie unerläßlich ist. Man könnte auch sagen philosophischer Humor usw. Denn die Welt selbst ist nicht zum Ernst reif’(T1/972f.).
Vgl. u.a. B.Allemann (1956): Ironie und Dichtung, S.177–220; L.Huber (1982): Satire and Irony in Musils DMoE; A.Reiss (1991/92): Ironie als “Physiognomie des Geistes”: Eine stilistische Untersuchung der ironischen Schreibweise in Robert Musils DMoE; G.Brokoph-Mauch (Hrsg.) (1992): Essayismus und Ironie; darin: J.Strelka (1992): Zu den Funktionen der Ironie in Robert Musils Roman DMoE; M.Swales (1992): Fiktiv leben und konjektural schreiben… Gesellschaftskritische und utopische Ironie bei Robert Musil; F.Wallner (1992): Ironie als Strategie indirekter Rationalität bei Musil; P.H.Beard (1992): ‘Beginn einer Reihe wundersamer Erlebnisse’: Prüfstein einer Umwandlung in Musils Gebrauch von Essayismus und Ironie.
S.Kierkegaard (1961): Über den Begriff der Ironie. Mit ständiger Rücksicht auf Sokrates, S.286.
Für die rezeptionsästhetische Seite einer solchen Scheinsolidarisierung hat H.R.Jauß (1982): Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik, S.283–292 den nicht ganz unproblematischen Begriff der ‘ironischen Identifikation’ geprägt: “Unter ironischer Identifikation soll eine Ebene ästhetischer Rezeption verstanden werden, auf der dem Zuschauer oder Leser eine erwartbare Identifikation nur vorgezeichnet wird, um sie hernach zu ironisieren oder überhaupt zu verweigern. Solche Verfahren der ironisierten Identifikation und der Illusionszerstörung dienen dazu, den Rezipienten aus seiner unreflektierten Zuwendung zum asthetischen Gegenstand zu reißen, um seine ästhetische und moralische Reflexion hervorzurufen. Sie können darauf zielen, seine ästhetische Tätigkeit zu aktivieren und ihm Vorbedingungen der Fiktion, ungenannte Spielregeln der Rezeption oder alternative Möglichkeiten der Deutung bewußt zu machen.” (hier S.283). Es bleibt allerdings fraglich, inwiefern tatsachlich von der Kategorie einer ironischen Identifikation gesprochen werden kann, zumal sich die Strategie der ironischen Scheinsolidarisierung bezüglich denkbarer Identifikationen sehr schnell abnutzt, so daß bei der Rezeption des MoE wohl kaum davon ausgegangen werden kann, daß der Leser sich nach mehreren hundert Seiten tatsächlich noch — und sei es nur für kurze Zeit — mit einer Romanfigur identifiziert. Zudem ist die von Jauß beschriebene Schreibstrategie eine solche von Identifikation und anschließender Ironisierung und somit streng genommen überhaupt keine ‘ironische Identifikation’.
Zur pragmatischen Dimension ironischer Sprechhandlungen vgl. WD.Stempel (1976): Ironie als Sprechhandlung; sowie R.Warning (1976): Ironiesignale und ironische Solidarisierung.
Vgl. vor allem stellvertretend P.-A.Alt (1985): Ironie und Krise.
W.Iser (1976): Das Komische: ein Kipp-Phänomen, S.399.
Bausteine zu einer Theorie der kommunikativen Funktion der Physiognomik sowie der Körperssprache in der Literatur liefern: G.Mattenklott (1982): Der übersinnliche Leib. Beiträge zur Metaphysik des Körpers; P.v.Matt (1983): … und fertig ist das Angesicht; U.Eco (1988): Die Sprache des Gesichts; H.Kalverkümper (1989): Körpersprache in der europäischen Literatur; H.Kalverkämper (1991): Literatur und Körpersprache; R. Herzog (1991): Mnemotechnik des Individuellen. Überlegungen zur Semiotik und Ästhetik der Physiognomie; B.Korte (1993): Körpersprache in der Literatur: Theorie und Geschichte am Beispiel englischer Erzahlprosa.
Vgl. u.a. F.Thiele (1927): Honord de Balzac als Physiognomiker; H.L.Scheel (1962): Balzac als Physiognomiker; P.H.Robinson (1982): Convention and Originality in the Description of the Eye and the Glance in the French Realist Novel, 1800–1860; V.Kogan (1973/74): Signs and Signals in the ‘Chartreuse de Parme’; C.Grivel (1980): Die Identitätsakte bei Balzac. Prolegomena zu einer allgemeinen Theorie des Gesichts; M.Anjubault-Simons (1980): Sémiotisme de Stendhal; M.Albert (1987): Unausgesprochene Botschaften. Zur nonverbalen Kommunikation in den Romanen Stendhals.
Zeugnis dieser Kategoriesierungs- und Evaluationsproblematik gibt vor allem die bis in die 80er Jahre geführte ‘Realismus-Debatte’. Vgl. dazu u.a. W.Freese (1974): Robert Musil als Realist. Ein Beitrag zur Realismus-Diskussion; W.Freese (1981): Aspekte und Fragen zum Problem eines Musilschen Realismus in den zwanziger Jahren; U.Karthaus (1980): War Musil Realist?; U.Karthaus (1981): Robert Musil und der poetische Realismus.
F.Nietzsche (19882): Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne, KSA 1. S.878.
Zur Theorie nonverbaler Kommunikation vgl. u.a.: K.Bühler (19682): Ausdruckstheorie. Das System an der Geschichte aufgezeigt; K.Leonhard (1949): Ausdruckssprache der Seele. Darstellung der Mimik, Gestik und Phonik des Menschen; der von Musil als vermeintlicher Psychologe zu den “Pseado-Dichtern”(T1/787) gerechnete L.Klages (19648): Grundlegung der Wissenschaft vom Ausdruck; P.Lersch (1951): Gesicht und Seele. Grundlinien einer mimischen Diagnostik; P.Watzlawick, J.H.Beavin u. D.D.Jackson (1967): Pragmatics of Human Communication. A Study of Interactional Patterns, Pathologies and Paradoxes; K.R.Scherer (1970): Non-verbale Kommunikation. Ansätze zur Beobachtung und Analyse der außersprachlichen Aspekte von Interaktionsverhalten; K.R.Scherer u. H.G.Walbott (1979): Nonverbale Kommunikation. Forschungsberichte zum Interaktionsverhalten.
Vgl. G.Lukács (1973): Die Kunst als ‘Ausdruck’ und die Mitteilungsformen der Erlebniswirklichkeit.
Vgl. G.E.Lessings Ausführungen im ‘Laokoon’, in: Werke VI, Darmstadt 1974, S.102f.: “Wenn es wahr ist, daß die Malerei zu ihren Nachahmungen ganz andere Mittel, oder Zeichen gebrauchet, als die Poesie; jene nämlich Figuren und Farben in dem Raume, diese aber artikulierte Töne in der Zeit; wenn unstreitig die Zeichen ein bequemes Verhältnis zu dem Bezeichneten haben müssen: So können neben einander geordnete Zeichen, auch nur Gegenstände, die neben einander, oder deren Teile neben einander existieren, auf einander folgende Zeichen aber, auch nur Gegenstände ausdrücken, die auf einander, oder deren Teile auf einander folgen. Gegenstände, die neben einander oder deren Teile neben einander existieren, heißen Körper. Folglich sind Körper mit ihren sichtbaren Eigenschaften, die eigentlichen Gegenstände der Malerei.”
Das heißt nun allerdings nicht, daß sich der Formenschatz der Darstellung von Körpersemiotik im Roman des 20.Jh. noch maßgeblich vergrößert hat. Vielmehr stellt, wie B.Korte (1993): Körpersprache in der Literatur, S.214, schreibt, “Körpersprache im Roman des 20. Jahrhunderts … sich in vieler Hinsicht als eine direkte Fortsetzung von Verwendungsweisen dar, wie sie bereits in der vorherigen Epoche zu beobachten sind. Das Augenmerk auf Details fällt zwar noch extremer aus als im 19. Jahrhundert, (was zu beweisen wäre!, R.P.), ist aber an sich keine Neuerung.”
Vgl. dazu vor allem H.Kalverkämper (1989): Körpersprache in der europäischen Literatur; H. Kalverkämper (1991): Literatur und Körpersprache.
Zu Liebe und Sexualität in psychopathologischer Perspektive vgl. K.Laermann (1970): Eigenschaftslosigkeit; H.Böhme (1982): Der Mangel des Narziß. Über Wunschstrukturen und Leiberfahrungen in Robert Musils DMoE; zum Problem des Wahnsinns: W.Hädecke (1980): Die Reise an den Rand des Möglichen. Wahnsinn und Verbrechen in Robert Musils Roman DMoE; zum Thema Sport: U.Baur (1980): Sport und subjektive Bewegungserfahrung bei Musil.
E.Mach: Autobiographie (1913), in: J.Blackmoore (1978): Three Autobiographical Manuscripts by E.Mach, S.416.
Von Arnheims Augen ist bezeichnenderweise nur in der Erinnerung an seine Kindheit die Rede, von “Jugendbildnissen” auf denen “er große, schwarze Augen” hatte, “wie man den Knaben Jesus malt, wenn er im Tempel mit den Schriftgelehrten disputiert..”(384).
P.v.Matt: (1983): …und fertig ist das Angesicht, S.142.
Zur Struktur von Thema und Horizont bei der Lektüre literarischer Texte vgl. W.Iser (1976): Der Akt des Lesens, S.161ff.
Ebd. S.166.
Inwieweit Köpersemiotik damit zugleich ein besonderer Stellenwert innerhalb der gesellschaftlichen Semantik zukommt, hat R. Warning (1984): Gespräch und Aufrichtigkeit. Repräsentierendes und historisches Bewußtsein bei Stendhal, an den Erzählstrategien des Realismus vorgeführt.
K.Stierle (1975): Text als Handlung, S.165.
Vgl. T1/101: “Technik: In kleinen Zügen charakterisieren, so wie Fontane es von einer Pastorstochter unbestimmt läßt, ob ihr Federhalter oben einen Adler oder eine Taube hat.”
Vgl. H.Kalverkämper (1989): Körpersprache in der europäischen Literatur, wo ausschließlich Textbelege aus diesen beiden Epochen herangezogen werden.
Zur Ulrich-Figur vgl. als Auswahl: D.Kühn (1980): DMoE — Figur oder Konstruktion; U.Eisele (1982): Ulrichs Mutter ist doch ein Tintenfaß; N.Hayasaka (1982): Ulrich und die Wirklichkeit. Über den ersten Band des Romans DMoE von Robert Musil; trotz des vielversprechenden Titels eher enttäuschend: S.Jankovic (1982): Utopie als Wirkungskonzept. Methodischer Versuch zu dem im MoE strukturierten utopischen Konzept am Beispiel der ‘Urlaubsmetapher’; vgl. ferner die einschlägigen Abschnitte bei H.Arntzen (1960): Satirischer Stil; D.Kühn (1965): Analogie und Variation; R.v.Heydebrand (1966): Die Reflexionen Ulrichs in Robert Musils Roman DMoE; K.Laermann (1970): Eigenschaftslosigkeit; sowie zum ‘Lebensproblem’ des Protagonisten: W.Graf (1981): Erfahrungskonstruktion. Robert Musils Roman DMoE; und M.Menges (1982): Abstrakte Welt und Eigenschaftslosigkeit. Eine Interpretation von Robert Musils Roman DMoE unter dem Leitbegriff der Abstraktion.
Die geschilderte Szene läßt allerdings nicht genau erkennen, ob sich die beiden Blicke kreuzen, oder ob, wie es eine frühere Skizze Musils vorsieht (1863), die Passanten von einer belebten Nebenstraße durch den Garten hindurch die Rückfront des Hauses betrachten und Ulrich mit der Taschenuhr durch ein Fenster der Vorderfront den Verkehr einer in der Skizze als Hauptstraße bezeichneten anderen Straße beobachtet.
Zum Motiv des Fensterblicks in der Literatur des 19. und 20.Jhs. vgl. N.Brüggemann (1989): Das andere Fenster.
Vgl. vor allem W.Iser (1990): Fingieren als anthropologische Dimension der Literatur; sowie W.Iser (1991): Das Fiktive und das Imaginäre, insbes. S.504ff.
Zum Einfluß mystischen Denkens auf die monistische Theorie Machs, vgl. M.Sommer (1988): Positivismus als Inversion der Gnosis: Ernst Mach. Vgl. zudem die Prädikation ‘Mach-Erfahrung’ bei H.Schmitz (1988): Der Ursprung des Gegenstandes. Von Parmenides bis Demokrit. Schmitz bezieht sich hier auf Machs Anmerkung über sein mystisches Sommertagserlebnis in E.Mach (19229): Die Analyse der Empfindungen, S.24, deren Parallelen zu Musils “anderem Zustand” auf der Hand liegen.
E.Mach (19265) Erkenntnis und Irrtum, S.15.
Zitiert nach F.Adler (1918): Ernst Machs Überwindung des mechanischen Materialismus, S.28f.
Vgl. H.Vaihinger (1911): Die Philosophie des Als Ob. System der theoretischen, praktischen und religiösen Fiktionen der Menschheit auf Grund eines idealistischen Positivismus.
M.M.Bachtin (1979): Die Ästhetik des Wortes, S.235.
Novalis (1960): Schriften. Die Werke Friedrich von Hardenbergs, S.599.
In bezug auf die Interpretation dieser selbstreflexiven Passi gibt es Überschneidungspunkte mit U.Eisele (1982): Ulrichs Mutter ist doch ein Tintenfaß. Allerdings interessiert sich Eisele weniger für die in der expliziten Literarizität der Ulrich-Figur enthaltene ästhetische Wirkungsstruktur, sondern ihm geht es vielmehr um die poetologische Seite der Konzeption des Helden, die “strukturelle Bedeutung”, welche die “Problematik des Literarischen mitsamt ihren Implikationen und Ausläufern, insbesondere auch (für) die Schreibproblematik des Autors Musil” hat. Thema des Aufsatzes sind die von Eisele als solche aufgefaßten “Lösungsvorschlüge des Textes — und das heißt nicht zuletzt sein ‘Scheitern’…”(S.160).
Die gegenteilige Auffassung vertritt U.Eisele (1982): Ulrichs Mutter…, nach dessen Ansicht “der MoE im Grunde genommen von der Unmöglichkeit des Poetischen unter den gegebenen Bedingungen”(S.193) handelt, d.h. vom Scheitern des “idealistischen” Versuchs einer Übertragung literarischer Freiheiten auf die Lebenswirklichkeit.
Das mag auch der Grund dafür sein, daß die ausftlhrlichen Beschreibungen des ‘anderen Zustands’ und weitschweifigen Erörterungen über die Themen Liebe, Gefühlspsychologie, Mystik u.a., die zum Teil als Auszüge aus Ulrichs Tagebuch referiert werden, ästhetisch weniger interessant sind. Statt die angesprochen Themen zu inszenieren, werden diese diskutiert, so daß dem Leser nur ein sehr geringer Spielraum zufällt. Statt “angespannter Selbstaufmerksamkeit” und “Vermögensbestätigung” des Lesers geht es hier vorrangig um den bloß intellektuellen Nachvollzug von Vorgegebenem.
Vgl. W.Iser (1991): Das Fiktive und das Imaginäre, S.476f.
G.W.F.Hegel (1970): Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse. Erster Teil: Die Wissenschaft der Logik, Werkausgabe, Bd.8. S.84.
H.Plessner (1983): Der kategorische Konjunktiv. Ein Versuch über die Leidenschaft, S.348.
Vgl. M.M.Bachtin (1985): Literatur und Karneval. Zur Romantheorie und Lachkultur, S.92f. sowie S.99: “Der Mensch fällt niemals mit sich selbst zusammen. Die Identitätsformel A = A ist auf ihn nicht anwendbar. Laut Dostojewskij vollzieht sich das wahre Leben der Person gleichsam an der Stelle der Nichtidentität des Menschen mit sich selbst: dort wo er den Bereich seiner selbst als eines dinglichen Seins, das man belauschen, bestimmen und gegen seinen Willen hinter seinem Rücken voraussagen kann, überschreitet. Das wirkliche Leben der Person ist nur im Dialog zugänglich, dem sie sich antwortend in Freiheit öffnet.”
Vgl. H.R.Jauß (1982): Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik, S.221ff.
G.W.F.Hegel (1970): Vorlesungen über die Ästhetik, Werkausgabe, Bd.13–15, S.202.
G.Lukács (19713) Die Theorie des Romans. Ein geschichtsphilosophischer Versuch über die Formen der großen Epik, S.29 u. S.72.
G.W.F.Hegel (1970): Die Wissenschaft der Logik, S.84.
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Precht, R.D. (1996). Typisierung und Funktion der Romanfiguren. In: Die gleitende Logik der Seele. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-04247-7_4
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