Zusammenfassung
Totgesagte leben länger, das ist das paradoxe Resultat von Lukács’ Generalabrechnung mit der Moderne in Größe und Verfall des Expressionismus1. Denn 1934, als dieser Aufsatz veröffentlicht wurde, war der Expressionismus bereits eine historische Avantgarde, allerdings eine, die kunsthistorische Fakten geschaffen hatte, die sich als irreversibel erweisen sollten. Statt also die bereits tote Kunstrichtung ganz zu begraben, trug gerade Lukács’ Aufsatz mit dem Umweg über die Expressionismusdebatte zu einer theoretischen Wiederbelebung bei2; ein Umstand, den Bloch in seinem Debattenbeitrag ebenso verwundert wie vergnügt konstatiert3. Dieser Tendenz versucht Lukäcs dadurch zu begegnen, daß er proklamiert: Es geht um den Realismus. In dem so überschriebenen Aufsatz, der am Schluß der Auseinandersetzung um den Expressionismus steht, behauptet er, daß die Entfernung vom Realismus das charakteristische Merkmal aller bürgerlichen Avantgarden — vom Naturalismus bis zum Surrealismus — ist. In diesem Kontext wird Lukács’ Wahl, den antirealistischen und reaktionären Charakter der Moderne ausgerechnet an Größe und Verfall des Expressionismus aufzuzeigen, nachträglich nicht verständlicher. Am Futurismus wäre die Verbindung von Faschismus und Avantgarde wesentlich überzeugender nachweisbar gewesen, und die Surrealisten vollzogen den Bruch mit den tradierten Prinzipien mimetischer Ästhetik nachdrücklicher als die Expressionisten.
Glücklicherweise haben sich weder Marx noch Lukács über die Poesie geäußert; was uns dadurch erspart geblieben ist, Iäßt sich nur mutmaßen. (H.M. Enzensberger, Poesie und Politik)
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Notizen
Georg Lukács, Größe und Verfall des Expressionismus (1934), in: Georg Lukács, Essays über Realismus, ders. Probleme des Realismus I, Werke, Bd.4, Neuwied 1971, S. 109–149.
Ernst Bloch, Diskussionen über den Expressionismus, ders. Vom Hasard zur Katastrophe, Politische Aufsätze aus den Jahren 1934–1939, Frankfurt 1972.
Diese Position vertritt auch Walter H. Sokel, Der literarische Expressionismus, Der Expressionismus in der deutschen Literatur des Zwanzigsten Jahrhunderts, München 1970, S. 7–11.
Vgl. G. Lukács et.al., Die Säuberung. Moskau 1936: Stenogramm einer geschlossenen Parteiversammlung, hrsg. v. Reinhard MUller, Frankfurt 1991, S. 191/192.
Vgl. dazu Arpad Kadarkay, Georg Lukács, Life, Thought and Politics, Cambridge, Mass. 1991, S. 217–231.
Selbst die folgende Löwysche Feststellung trifft hier nicht zu: “Lukács possessed in the highest degree that virtue of ‘Gründlichkeit’ which is attributed, rightly or wrongly, to German thought as a whole. At each stage of his intellectual development, he drew out the final conclusion of his position, always operating with a profound, systematic and rigorous consistency.” Michael Löwy, From Romanticism to Bolshevism, London 1976, S. 177.
Vgl. dazu Walter Fähnders, Anarchismus und Literatur, Ein vergessenes Kapitel deutscher Literaturgeschichte zwischen 1890 und 1910, Stuttgart 1987, S. 176–187; Fähnders weist allerdings zurecht auch darauf hin, daß die Untersuchung des Verhältnisses von Anarchismus und Avantgarde immer noch ein Desiderat der Forschung ist.
Erich Mühsam, zitiert nach: Gerhard P. Knapp, Die Literatur des deutschen Expressionismus, München 1979, S. 50.
Vgl. dazu Karl Heinz Bohrer, Kritik der Romantik, Der Verdacht der Philosophie gegen die literarische Moderne, Frankfurt 1989, S. 9–19.
Zu Goethes Romantikkritik als Modernekritik vgl. Uwe Japp, Literatur und Modernität, (Das Abendland, Neue Folge, Bd.17), Frankfurt 1987, S. 100–147. Zu den sonstigen Traditionen der Romantikkritik vgl. Karl Heinz Bohrer, Die Kritik der Romantik, Frankfurt 1989.
Bernhard Lypp, Ästhetischer Absolutismus und politische Vernunft, Zum Widerstreit von Reflexion und Sittlichkeit im deutschen Idealismus, Frankfurt 1972, S. 57/58.
Peter Furth, Phänomenologie der Enttäuschungen, /deologiekritik nachtotalitär, Frankfurt 1991, S. 84.
Werner Jung, Georg Lukács, Stuttgart 1989, S. 117.
Vgl dazu Silvio Vietta, Hans-Georg Kemper, Expressionismus, München 1975, S. 186–188.
Anton F. Christen, Blochs Metaphysik der Materie, Bonn 1979, S. 20.
Jack Lindsay, Time in modern Literature, in: Frank Benseler (Hrsg.), Festschrift zum achtzigsten Geburtstag von Georg Lukács, Neuwied 1965.
Ladislao Mittner, Die Geburt des Tyrannen aus dem Ungeist des Expressionismus, in: Lukács Festschrift, a.a.O., S. 419.
Agnes Heller, Lukács und die Heilige Familie, Versuch einer rettenden Kritik, in: Rüdiger Dannemann (Hrsg.), Georg Lukács — Jenseits der Polemiken, Beiträge zur Rekonstruktion seiner Philosophie, Frankfurt 1986, S. 144. In einer englischen Veröffentlichung desselben Aufsatzes wird der letzte Satz ohne kritischen Vorbehalt formuliert, lautet er: “What is to be redeemed is Lukács attitude towards modemity.” Agnes Heller, Lukács and the Holy Family, in: Telos, A Quarterly Journal of Critical Thought 62, Winter 84/85, S. 145/6.
Zu Gramscis Sicht der Modeme vgl. Peter Collier, Dreams of a Revolutionary culture, Gramsci, Trotsky and Breton, in: Visions and Blueprints, ed. by E. Timms + P. Collier, Manchester 1988.
Eric Hobsbawm, The Age of Revolution, New York 1962, S. 259–262.
Paul Breines, Marxism, Romanticism and the Case of George Lukács: Notes on Some Recent Sources and Situations, in: Studies in Romanticism 16, Fall 1977.
Zu Lukács’ Demokratie-Begriff vgl. Gert Mattenklott, Blindgänger, Physiognomische Essais, Frankfurt 1986, S. 164/165.
Dietmar Kamper, Aufklärung — Was sonst? Eine dreifache Polemik gegen ihre Verteidiger, in: ders., Willem van Reijen, Die unvollendete Vernunft: Moderne versus Postmoderne, Frankfurt 1987, S. 39.
Vgl. dazu Nicolas Tertulian, Lukács’ Aesthetics and its Critics, in: Telos, No. 52, Summer 1982, der Aufsatz bezieht sich allerdings im wesentlichen auf den späten Lukács. Ähnliche Argumentationslinien finden sich allgemeiner formuliert jedoch auch in: Nicolas Tertulian, Mimesis und Selbstbewußtsein, in: Philosophie und Poesie, Otto Pöggeler zum 60. Geburtstag, hrsg. v. Annemarie Gethmann — Siefert, Bd.l ( Spekulation und Erfahrung, Abt.tl, Bd. 7), Stuttgart 1988, S. 401–413. Auch hier handelt es sich um einen Versuch, Lukács’ Stellung zur Moderne zu retten, er argumentiert ähnlich wie Heller: “Der Kern der Lukácsschen Spätphilosophie (aber dieselbe Tendenz beseelt schon alle seine Jugendschriften) ist die Rettung und Behauptung dieses echt menschlichen Inhalts in den sozialen Kämpfen, wie auch in der Kunst und Ethik … Die Idee der Revolution mit einem gründlichen Humanismus in Einklang zu bringen: das war bis zum Ende Lukács’ innigstes Bestreben. Seine Ästhetik und seine ästhetischen Urteile legen davon das beste Zeugnis ab.” (S. 412/413) Ähnlich wie bei Heller findet sich hier die Tendenz, Lukács zumindest einen guten Willen zu unterstellen, ihm einen gänzlich unreflektierten Huntanismusbegriff zuzuschreiben. Im Unterschied zu Heller bleibt Tertulian jedoch den Versuch eines Nachweises, was denn an Lukács’ ästhetischen Urteilen den Humanismus ausmacht, gänzlich schuldig.
Beat Wyss, Trauer der Vollendung, Von der Ästhetik des Deutschen Idealismus zur Kulturkritik an der Moderne, München 1989, S. 306.
Vgl. Peter Bürger, Theorie der Avantgarde, Frankfurt 1974.
Zu der Verbindung von Expressionismus mit der Romantik und Nietzsche vgl. James Rolleston, Nietzsche, Expressionism and Modern Poetics, in: Nietzsche-Studien, Internationales Jahrbuch für die Nietzsche-Forschung, Bd. 9, 1980; sowie Seth Taylor, Left-Wing Nietzscheans; The Politics of German Expressionism 1910 – 1920, a.a.O.
George Steiner, Georg Lukács and His Devil’s Pact, in: ders., Language and Silence, Harmonsworth 1969.
Georg Lukács, Zum hundertsten Jahrestag der Geburt Friedrich Engels, in: ders., Revolution und Gegenrevolution, Politische Aufsätze 11, 1920–1921, hrsg. v. Jörg Kammler + Frank Benseler, Darmstadt 1976, S. 176.
Georg Lukács, Die Gretchentragödie, in: Aufbau, Kulturpolitische Monatshefte, H 9, 1946, S. 916.
Theodor W. Adorno, Erpreßte Versöhnung, in: ders., Noten zur Literatur II, Frankfurt 1961, S. 153–156.
Vgl. dazu Michael Löwy, Naphta or Settembrini, Lukács and Romantic Anticapitalism, in: New German Critique 42, 1987.
Georg Lukács, Hölderlins Hyperion, in: ders., Deutsche Literatur in zwei Jahrhunderten, Georg Lukács Werke, Bd. 7, Neuwied 1964, S. 182/183.
Vgl. zu Lukács’ Tätigkeit als Volkskommissar: Tibor Hanak, Lukács war anders, Meisenheim 1973, S. 31–43, diese Darstellung hat den Vorzug, daß der Autor zahlreiche ungarische Quellen auswertet. Vgl. auch Antonia Grunenberg, Bürger und Revolutioncir, Georg Lukács 1918–1928, Köln 1976, S. 20–93.
Georg Lukács, Taktik und Ethik, in: Georg Lukács, Werke Bd. 2, Frühschriften II, Neuwied 1968, S. 45–53.
Vgl. dazu Georg Lukács, Dostojewski, Notizen und Entwürfe, hrsg. v. J.C. Nyiri, Budapest 1985, Einleitung d. Hrsg., S. 33.
Vgl. Georg Lukács, Gelebtes Denken, Eine Autobiographie im Dialog, Frankfurt 1981, S. 45f.
Arnold Hauser, Erinnerungen, in: Eva Karádi, Erzsébet Vezér (Hrsg.), Georg Lukács, Karl Mannheim und der Sonntagskreis, Frankfurt 1985, S. 99.
Werner Krauss, Grundprobleme der Literaturwissenschaft, Zur Interpretation literarischer Werke, Reinbek 1968, S. 94.
Zum gnostischen Dualismus vgl. Kurt Rudolph, Gnosis, Wesen und Geschichte einer spätantiken Religion, Göttingen 1978, S. 67–74.
Hans Blumenberg, Die Legitimität der Neuzeit, Frankfurt 1966, S. 83–85.
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Ujma, C. (1995). Der Expressionismus und das Wesen der Moderne. In: Ernst Blochs Konstruktion der Moderne aus Messianismus und Marxismus. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-04237-8_5
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