Zusammenfassung
Es gibt von Lukács in den zwanziger und dreißiger Jahren zwei marxistische Ansätze zur Deutung der Moderne. Der erste Ansatz, in Geschichte und Klassenbewußtsein, hat marxistische Theoriegeschichte gemacht, der zweite ist von der Entwicklung der marxistischen Theoriegeschichte geprägt. Beide Entwürfe hatten grundsätzlichen Charakter — denn der Streit um die Moderne war immer auch ein Streit um philosophische Muster der Weltdeutung — und waren höchst umstritten. Lukäcs’ erster Entwurf wurde von orthodoxen Marxisten attackiert und von den unorthodoxen zunächst begrüßt, später bejubelt. Sein zweiter Ansatz erfuhr genau die umgekehrte Bewertung.
Philosophen sind Gewaltäter, die keine Armee zur Verfügung haben und deshalb die Welt in der Weise unterwerfen, daß sie sie in ein System sperren. (Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften)
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Notizen
Georg Lukács, Es geht um den Realismus, In: Georg Lukács, Essays über den Realismus I, Werke, Bd.4, Neuwied 1971, S. 316.
Maurice Merleau-Ponty, Die Abenteuer der Dialektik, Frankfurt 1968, S. 11.
Vgl. dazu George Steiner, Georg Lukács and his Devil’s Pact, in: ders., Language and Silence, Harmondsworth 1969, S. 297.
Vgl. hierzu: Lino Veljak, Geschichte und Klassenbewußtsein, Geschichtliches Denken oder totalitaristische Ideologie, in: G. Flego, W. Schmied-Kowarzik (Hrsg.), Georg Lukács — Ersehnte Totalität, Bloch-Lukács-Symposium, Dubrovnik 1985, Bd.1, Bochum 1986.
Georg Lukács, Geschichte und Klassenbewußtsein, in: Georg Lukács, Frühschriften II, Werke, Bd.2, Neuwied 1970, S. 179–191.
Geschichte und Klassenbewußtsein, a.a.O., S. 199. Diesen Gedanken weist Martin Jay in seiner Untersuchung über Totalitätskonzeptionen des westlichen Marxismus als unzutreffend zurück, er betont vielmehr, daß auch die sogenannte bürgerliche Wissenschaft immer wieder holistische Ansätze hervorbrachte, Martin Jay, Marxism and Totality, The Adventures of a Concept from Lukács to Habermas, Cambridge 1984, S. 21–80.
Auch der Verdinglichungsbegriff ist nicht frei von Hegelschen Einflüssen. Dannemann verweist auf Ähnlichkeiten von Lukács’ Entfremdungskritik und der von Hegel in der Phänomenologie des Geistes vorgenommenen Entäußerungskritik, Vgl. dazu Rüdiger Dannemann, Das Prinzip Verdinglichung, Frankfurt 1987, S. 18–20.
Zum Einfluß von Simmel und Weber auf Geschichte und Klassenbewußtsein vgl. Das Prinzip Verdinglichung, a.a.O., S. 22, S. 61–96. Zum Einfluß von Weber auf Lukács und Bloch vgl. Norbert Bolz, Der Geist des Kapitalismus und der Utopie, in: M. Löwy, A. Münster, N. Tertulian (Hrsg.), Verdinglichung und Utopie, Ernst Bloch und Georg Lukács zum 100. Geburtstag, Beiträge des internationalen Kolloquiums in Paris, März 1985, Frankfurt 1987, S. 48–59.
Michael Löwy, Naphta or Settembrini, Lukács and Romantic Anticapitalism, New German Critique 42/1987, S. 21.
Unveröffentlichter Brief von Lukács an Frank Benseler von Ende 1961, zitiert nach Ursula Apitzsch, Gesellschaftstheorie und Ästhetik bei Georg Lukács bis 1933, Bad Cannstatt 1977, S. 32.
Vgl. Max Horkheimer, Nachgelassene Schriften 1914 – 1931, Gesammelte Schriften Bd. 11, hrsg. v. Gunzelin Schmid Noerr, Max Horkheimer, Gesammelte Schriften, hrsg. v. ders., Alfred Schmidt, Frankfurt 1987, S. 364. Diese Einschätzung bedeutet jedoch keineswegs eine generelle Ablehnung von Geschichte und Klassenbewußtsein, dessen starker Einfluß auf Adorno, aber auch auf die Frankfurter Schule allgemein, trotz späterer recht erbittert ausgetragener Differenzen kaum bestritten wird. Der Einfluß lag jedoch weniger im Bereich der Politik als auf dem Gebiet der Philosophie, hier vor allem das Marxismusverständnis entscheidend beeinflussend. Dieser Umstand wird bereits im Titel des Kapitels von Susan Buck-Morss Buch deutlich ausgedrückt, das sie dem Einfluß von Geschichte und Klassenbewu,ßtsein auf Adornos Denken widmet: ‘Marx Minus The Proletariat, Theory As Praxis’, in: S. Buck-Morss, The Origins of Negative Dialectics, Theodor W. Adorno, Walter Benjamin and the Frankfurt Institute, New York 1977. Zu der für Adorno wichtigen Kategorie der Verdinglichung vgl. auch: Dieter Kliche, Kunst gegen Verdinglichung, Berührungspunkte im Gegensatz von Adorno und Lukács, in: Materialien zur ästhetischen Theorie, Th.W. Adornos Konstruktion der
Max Horkheimer, Nachgelassene Schriften 1931 – 1949, hrsg. v. G. Schmid Noerr, Frankfurt, 1985 Gesammelte Schriften, Bd. 12, a.a.O., S. 223.
Theodor W. Adorno, Noten zur Literatur II, Frankfurt 1961, S. 152 f.
Ernst Bloch, Aktualität und Utopie, in: ders. Gesammelte Werke, Bd. X, die Bloch-Nachweise erfolgen im folgenden nach der Gesamtausgabe in 16 Bänden im Text (Frankfurt 1959–1977), die römische Ziffer bezieht sich auf den Band der Gesamtausgabe, die arabische Zahl bezeichnet die jeweilige Seite.
Die Bedeutung von Geschichte und Klassenbewußtsein für das Blochsche Marxismusverständnis betont besonders: Hans-Ernst Schiller, Zur Kontroverse um den Totalitätsbegriff zwischen Ernst Bloch und Georg Lukács, in: Ernst Bloch- Utopische Ontologie, Bd. II des Bloch-Lukács-Symposiums 1985 in Dubrovnik, hrsg. v. Gvozden Flego, W. Schmied-Kowarzik, Bochum 1986, S. 26f.
Vgl. dazu das Vorwort zur Wiederöffentlichung von Geschichte und Klassenbewußtsein, Neuwied 1970, S. 25f., wo Lukács vom Überhegeln Hegels spricht.
Vgl. hierzu: Laura Boella, Wirklichkeit und Verwirklichung, Die Bedeutung der Lukácsschen Verdinglichungskritik für Bloch, in: Verdinglichung und Utopie, Ernst Bloch und Georg Lukács zum 100. Geburtstag, hrsg. v. M. Löwy et.al., Frankfurt 1987.
M. Löwy, Die revolutionäre Romantik von Bloch und Lukács, in: Verdinglichung und Utopie, a.a.O., S. 28, ähnlich argumentiert Paul Breines, Marxism, Romanticism and the Case of Georg Lukács: Notes on Some Recent Sources and Situations, Studies in Romanticism 16, Fall 1977.
Michael Löwy, Georg Lukács — From Romanticism to Bolshewism, London 1979, S. 196. Dies dürfte für Bloch nur ansatzweise zutreffen, da dessen Marxismusverständnis zu dieser Zeit, vor allem im Vergleich mit dem Lukácsschen, noch sehr mdimentär war.
Auch das Totalitätskonzept kann, aufgrund der ihm eigenen Neigung zur Synthetisierung, als eine romantische Denkfigur angesehen werden, wie z.B. Charles Taylor diese in seinem Hegelbuch interpretiert, vgl. dazu Charles Taylor, Hegel, Frankfurt 1983, S. 67–70. Peter Koslowski spricht ebenfalls von der romantischen Geschichtsphilosophie Hegels und stellt dessen Systemdenken in die Nähe von gnostischen Weltbildern: “Diese drei Momente, das Moment der Subjektivität, das Moment des poietischen Charakters des Weltbildes und der Rolle der produktiven Einbildungskräfte in seiner Erzeugung und das Moment der Totalität, sind nun Charakterzüge des romantischen und des gnostischen Charakters.” Peter Koslowski, Die Krise des wissenschaftlichen Weltbildes und die Wiederkehr der spekulativen Philosophie, Bloch-Almanach, 8. Folge 1988, S.119. Bloch entdeckt ebenfalls romantische Züge, er spricht im Bezug auf Lukács von der ‘geradezu romantischen Beschwörung geschlossener Zeiten’ (IV, S. 270).
Vgl. Alfred Klein, Georg Lukács in Berlin, Literaturtheorie und Literaturpolitik der Jahre 1930/32, Berlin/Weimar 1990, S. 157.
Als solche wurde die Verdinglichungsthese gerade von orthodoxen Kritikern auch rezipiert, vgl. dazu: Andrew Feenberg, Lukács, Marx and the Sources of Critical Theory, New York 1986, S. 80 ff.
Vgl. dazu Arpad Kadarkay, Georg Lukács, Life, Thought and Politics, Cambridge, Mass. 1991, S. 290–295.
So sagt Karola Bloch, die sich damals in entsprechenden Kreisen bewegte, vgl. Karola Bloch, Aus meinem Leben, Pfullingen 1981, S. 76.
Vgl. dazu Helga Gallas, Marxistische Literaturtheorie, Kontroversen im ‘Bund Proletarisch-Revolutionärer Schriftsteller’, Neuwied 1971. Die Positionen Lukács werden hier zwar manchmal leicht vergröbert dargestellt, die Untersuchung bietet jedoch einen guten Überblick über die konkreten Kontroversen sowie über das Innenleben intellektueller kommunistischer Zirkel.
Vgl. dazu Alfred Klein, Georg Lukács in Berlin, a.a.O., S. 5–7, auch Klein betrachtet diese Berliner Jahre als entscheidende Zäsur.
Vgl. dazu Rob Burns, Theorie und Organisation der proletarisch-revolutionären Literatur in der Weimarer Republik, in: Keith Bullivant (Hrsg.). Das literarische Leben der Weimarer Republik, Königstein 1978, S. 218f.
Zu Lukács’ Angriffen auf Mehring hat Raddatz angemerkt, daß es sich dabei um grobe Verzerrungen, ja Fälschungen der Mehringschen Positionen handelt und daß Lukács sogar seine Marx-Zitate manipulierte. Fritz J. Raddatz, Revolte und Melancholie, Essays zur Literaturtheorie, Frankfurt 1982, S. 93.
Vgl. dazu Simone Barck, Achtung vor dem Material, Zur dokumentarischen Schreibweise bei Ernst Ottwald, in: Wer schreibt, handelt, hrsg. v. Silvia Schlenstedt, Berlin/Weimar 1986.
Zur Person Ottwalds und zu dessen politischem Schicksal vgl. Andreas W. Mytze, Ottwald, Leben und Werk des vergessenen revolutionären Schriftstellers, Berlin 1977.
Neuauflage: Ernst Ottwald, Denn sie wissen nicht, was sie tun, Ein deutscher Justizroman, Amsterdam 1972.
Ernst Ottwald, ‘Tatsachenroman’ und Formexperiment, in: Zur Tradition der deutschen Sozialistischen Literatur Bd. 1, Berlin/Weimar 1979.
Maurice Merleau-Ponty, Die Abenteuer der Dialektik, Frankfurt 1968, S. 83.
G.W.F. Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik, Theorie-Werkausgabe Bd. 13, Frankfurt 1970, S. 30.
Vgl. Beat Wyss, Trauer der Vollendung, Von der Ästhetik des deutschen Idealismus zur Kulturkritik an der Moderne, München 1989, S. 296–314.
Vgl. Burkhardt Lindner, ‘II faut être absolument moderne’, Adornos Ästhetik: ihr Konstruktionsprinzip und ihre Historizität, in: Materialien zur dsthetischen Theorie, Theodor W. Adornos Konstruktion der Moderne, hrsg. v. B. Lindner, M.W. Lüdke, Frankfurt 1979, S. 266. Diese Position ist keineswegs seit Beginn der Achtziger ausgestorben, sondern erlebt auch in jüngster Zeit immer wieder Neuauflagen, z.B. Albrecht Betz, Lukács als Literaturstratege der Volksfront, in: Verdinglichung und Utopie, a.a.O., S. 150 – 159.
Vgl. Istvan Eörsi, The Unpleasant Lukács, New German Critique 42, 1987.
Baudelaire, Le peintre de Ia vie moderne, Oeuvres complètes, ed. Y.G. le Dantec, C. Pichois, Paris 1961, S. 1163.
Karl Marx/Friedrich Engels, Manifest der kommunistischen Partei, Berlin 198146, S. 48–49. Diese Marx/Engelsche Definition ist eine vieldiskutierte Diagnose der Moderne. Einer der wichtigsten neueren Beiträge zur angelsächsischen Diskussion über die Moderne als kulturelles Phänomen entlehnt diesem Zitat sogar den Titel; es handelt sich hierbei um Marshall Berman, All What Solid Melts Into The Air (englisch für: alles Stehende und Ständische verdampft), London 1983, meine Hervorhebung, C.U.
Cornelia Klinger und Ruthard Stäblein haben diesen Umstand dahingehend interpretiert, daß die Krisen und Gegenbewegungen, die den Prozeß der gesellschaftlichen Modernisierung seit der Aufklärung begleiten, nicht etwa als Kontrapunkt, sondern als grundlegender Teil der Moderne selber zu verstehen sind, vgl. dazu: Cornelia Klinger, Ruthard Stäblein, Einleitung, in: diess. (Hrsg.), Identitätskrise und Surrogatidentitäten, Zur Wiederkehr einer romantischen Konstellation, Frankfurt 1989, S. 8–9. Diese Sicht der Dinge hätte m.E. u.a. den Vorzug, daß die Postmoderne etwa nicht umstandslos als Gegenaufklärung abzutun wäre, sondern als die Wiederkehr eines grundlegenden Bestandteils der Moderne rezipiert werden könnte.
David Bathrick, Marxism and Modernism, New German Critique 33, Fall 1984, S. 208.
Manfred Frank, Der kommende Gott, Vorlesungen über Neue Mythologie, Frankfurt 1982.
Vgl. Manfred Frank, Das fragmentarische Universum der Romantik, in: Fragment und Totalität, hrsg. v. Christian L. Hart Nibbrig, Lucien Dällenbach, Frankfurt 1984, S. 221.
Lyotard, Das Postmoderne Wissen, Ein Bericht, hrsg. v. Peter Engelmann, Graz/Wien 1986, besonders S. 96–111, oder auch das Folgende: “Wir haben die Sehnsucht nach dem Ganzen und Einen, nach der Versöhnung von Begriff und Sinnlichkeit, nach transparenter und kommunikativer Erfahrung teuer bezahlt. Hinter dem allgemeinen Verlangen nach Entspannung und Beruhigung vernehmen wir nur allzu deutlich das Raunen des Wunsches den Terror ein weiteres Mal zu beginnen. Die Antwort darauf lautet: Krieg dem Ganzen, zeugen wir für das Nicht-Darstellbare, aktivieren wir die Differenzen...”, Lyotard, Beantwortung der Frage: Was ist postmodern, Tumult 4, 1982, S. 142.
Reinhard Brandt, Der Mythos von Entfremdung und Einheit (Marx, Wagner, Nietzsche), Rundfunkvortrag, HR, 1.12.1990.
Auch die Böhmes werten den Totalitätsanspruch als Hybris und Allmachtsphantasie, in: Hartmut und Gernot Böhme, Das Andere der Vernunft, Zur Entwicklung von Rationalitätsstrukturen am Beispiel Kants, Frankfurt 1983, S. 12.
Th. W. Adorno, Minima Moralia, Frankfurt 1969, S. 57.
Max Horkheimer, Subjektivismus und Positivismus als Erben der Hegelschen Metaphysik, a.a.O., S. 227/228.
Peter Szondi, Von der normativen zur spekulativen Gattungspoetik, in: Poetik und Geschichtsphilosophie II, hrsg. v. Wolfgang Fietkau, (Studienausgabe der Vorlesungen Bd. 3), Frankfurt 1974, S. 126.
Ebd.
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Ujma, C. (1995). Das Wahre und das Ganze. In: Ernst Blochs Konstruktion der Moderne aus Messianismus und Marxismus. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-04237-8_2
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