Zusammenfassung
Nach der Herausbildung des deutschen historischen Romans in der Scott-Nachfolge entstand sehr bald eine Diskussion über Sinn und Wert dieses Romantyps, die immer dann wieder auflebte, wenn die Gattung Konjunktur hatte. Das war vor allem in den zwanziger, dreißiger und siebziger Jahren des vergangenen sowie in den zwanziger und dreißiger Jahren unseres Jahrhunderts der Fall.53 Ihren Höhepunkt erreichte die Diskussion im deutschen antifaschistischen Exil 1933–45. Es folgte im Zeichen des Gattungsniedergangs ein Nachtrag zur Exildebatte in den fünfziger und frühen sechziger Jahren54, bevor mit dem weitgehenden Versiegen der Gattungsproduktion nach 1960 auch die Diskussion um den historischen Roman verebbte. Die Auseinandersetzung um den historischen Roman trug wesentlich den Charakter einer Legitimationsdebatte: Kritiker formulierten zentrale Einwände gegen das Genre, bzw. gegen die aktuelle Schreibpraxis innerhalb der Gattung, und die betroffenen Autoren suchten im Gegenzug entweder mit programmatischen Schriften oder mit ihren Werken selbst die gesellschaftspolitische und ästhetische Bedeutung des historischen Romans unter Beweis zu stellen. Die Diskussion kreiste dabei im wesentlichen um Fragen des Umgangs mit den historischen Fakten,55 der Verknüpfung von Vergangenheit und Gegenwart,56 der Deutung historischer Prozesse57 und dem Verhältnis von kritisch-aufklärerischer Wirkungsintention und ästhetischer Strategie.58 Im Rahmen dieser Diskussionsschwerpunkte berührte insbesondere die Diskussion um den historischen Roman im Exil eine Reihe von Problemen, die nicht nur für die Gattungsproduktion der dreißiger und vierziger Jahre, sondern auch für die der Gegenwart zentrale Bedeutung beanspruchen können.
»Die Frage, wer höher steht, der Historiker oder der Dichter, darf gar nicht aufgeworfen werden; sie konkurrieren nicht miteinander, so wenig als der Wettläufer und der Faustkämpfer. Jedem gebührt seine eigene Krone.«
(Johann Wolfgang v. Goethe)52
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Notizen
Goethes Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Hrsg. von Erich Trunz. Bd. 12. München 1973, S. 390.
Vgl. u.a. Beizner, Emil: Historie und Dichtung. In: Jahrbuch der Akademie der Wissenschaften und Literatur. Mainz 1956, S. 297–302;
Brod, Max: Von Sinn und Würde des historischen Romans. In: Neue Rundschau 67/1956, S. 491–502;
Csokor, Frank Theodor: Ist der historische Roman noch möglich? In: Wort in der Zeit. Heft 9 (1962), S. 46–50;
Horst, Karl August: Der klassische historische Roman. In: Neue literarische Welt. Hrsg. von der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. Jg. 3 (1952), Nr. 6, S. 9;
Peters, Hans G.: Geschichte als Dichtung. Zur Problematik des historischen Romans. In: Neue Deutsche Hefte 10 (1963), S. 5–23;
Thieß, Frank: Sind ›Historische Romane‹ noch möglich? In: Wort in der Zeit. Heft 2, 1958, S. 33–35.
Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte. Hrsg. von Werner Kohlschmidt und Wolfgang Mohr. Berlin 1955ff.
Döblin, Alfred: Der historische Roman und wir (1936). In: Ders.: Aufsätze zur Literatur. Hrsg. v. Walter Muschg. Olten und Freiburg im Breisgau 1963, S. 163–186, 170/71.
Vgl. Historische Belletristik. Ein kritischer Literaturbericht. Hrsg. von der Schriftenleitung der Historischen Zeitschrift. München und Berlin 1928. Vgl. dazu auch die Verteidigungsschrift Emil Ludwigs: »Historie und Dichtung«. In: Die neue Rundschau 40 (1929), Bd. 1, S. 358–381 und die Replik des Historikers Wilhelm Mommsen auf diese Verteidigungsschrift: ›»Legitime‹ und ›illegitime‹ Geschichtsschreibung. Eine Auseinandersetzung mit Emil Ludwig.« München und Berlin 1930.
Emil Ludwig etwa betrachtete sich zwar als Künstler, grenzte sich jedoch scharf vom Romancier ab. Die Biographie als eigenständige Kunstform unterschied sich seiner Ansicht nach durch entschiedene Faktentreue — die sich allerdings anders als im Falle der Historiographie ihres subjektiven Ausgangspunktes bewußt bleibe — vom historischen Roman. Seine Absichten und Arbeitsmethoden, die er in seiner Schrift »Historie und Dichtung« beschreibt, zeigen jedoch, wie fragwürdig diese Abgrenzung ist. Ludwig stützt sich in seinen spannend erzählten Biographien letztlich auf eine literarische Phantasie, die sich an den überlieferten Fakten entzündet und populärwissenschaftlich-psychologisch fundiert ist (vgl. insbesondere S. 364ff.) Stefan Zweig lehnte im Exil den historischen Roman bzw. die »biographie romancée« als »plumpe Geschichtsfälschung« ab, unterscheidet sich mit seinen Werken jedoch allenfalls graduell — nämlich durch eine stärkere Berücksichtigung greifbarer Fakten — von der Praxis anderer historischer Romanciers. Vgl. Zweig, Stefan: Die Geschichte als Dichterin (1939). In: Ders.: Zeit und Welt. Gesammelte Aufsätze und Vorträge 1904–1940. Hrsg. und mit einem Nachwort versehen von Richard Friedenthal. Stockholm 1943, S. 363–388, 351.
Vgl. White, Hayden: Auch Klio dichtet oder die Fiktion des Faktischen. Stuttgart 1986, S. 37/38.
Nietzsche, Friedrich: Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben (1874). Hrsg. und mit einem Nachwort versehen von Michael Landmann. [Zürich] 1984, S. 56/57.
Ranke, Leopold von: Sämtliche Werke. Leipzig, 2. Aufl. Leipzig 1874. Bd. 33, S. VI.
Hier zitiert nach Koselleck, Reinhart: Historia Magistra Vitae. Über die Auflösung des Topos im Horizont neuzeitlich bewegter Geschichte. In: Ders.: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeichen. Frankfurt/M. 1979, S. 38–66, 54.
Benutzt wird hier die 1919 in München erschienenen Ausgabe im Nachdruck von 1983: Lessing, Theodor: Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen. Oder die Geburt der Geschichte aus dem Mythos. München 1919.
Feuchtwanger, Lion: Vom Sinn und Unsinn des historischen Romans (1935). In: Ders.: Centum Opuscula. Eine Auswahl. Hrsg. von Wolfgang Berndt. Rudolstadt 1958, S. 508–515.
Fiktionstheoretisch betrachtet unterscheidet der historische Roman sich trotz seiner relativen Nähe zu empirischen Gegenständen nicht von anderen literarischen Kunstwerken. Wie in diesen bilden die sprachlich entworfenen Sachverhalte auch im historischen Roman eine Welt für sich, bezeichnen sie nichts wirklich Bestehendes. Vgl. Ingarden, Roman: Das literarische Kunstwerk. Tübingen 1965, S. 178f.
Zur Abgrenzung fiktionaler von nicht fiktionalen bzw. literarischer von expositorischen Texten vgl. auch Gabriel, Gottfried: Fiktion und Wahrheit. Eine semantische Theorie der Literatur. Stuttgart 1975
und Lobsien, Eckhard: Theorie der literarischen Illusionsbildung. Stuttgart 1975. Für den historischen Roman gilt in diesem Zusammenhang das gleiche wie für jedes andere literarische Kunstwerk auch.
Vgl. Müller, Klaus-Detlef: Brecht-Kommentar zur erzählenden Prosa. München 1980, S. 261.
Hiller, Kurt: Profile. Prosa aus einem Jahrhundert. Paris 1938, S. 145.
Zu diesem Anspruch vgl. Döblin: Der historische Roman und wir, 182f.; Feuchtwanger: Vom Sinn und Unsinn des historischen Roman, 513f.; Kauer: Die politische Funktion des historischen Romans, 21f; Lukács: Der historische Roman, 64ff.; Marcuse, Ludwig: Die Anklage auf Flucht. In: Das neue Tagebuch, 4. Jg. (1936). Heft 6, S. 131–133, 131.
Vgl.: Menges, Karl: Georg Lukács. Die Exilliteratur und das Problem der Modernität. In: Exil: Wirkung und Wertung. Ausgewählte Beispiele zum 5. Symposion über deutsche und österreichische Exilliteratur. Hrsg. von Donald G. Daviau und Ludwig Fischer. Columbia/USA 1985, S. 40–53, 48.
Habermas, Jürgen: Die Moderne — ein unvollendetes Projekt. In: Kleine politische Schriften I-IV. Frankfurt/M. 1981, S. 444–464, 447.
Zur Tradition einer auf das Prädikat der Nützlichkeit abhebenden antiken Geschichtsschreibung vgl. Danto, Arthur C.: Analytische Philosophie der Geschichte. Frankfurt/M. 1980, S. 39ff. Zur Auflösung des Topos in der Neuzeit vgl. Koselleck, Reinhart: Historia Magistra Vitae.
Vgl. Danto: Analytische Philosphie; Habermas, Jürgen: Der philosophische Diskurs der Moderne. Frankfurt/M. 1988; White: Auch Klio dichtet.
Ebd., 63. Zur Bedeutung der Geschichte für die Gegenwart vgl. auch Kolakowski, Leszek: Vom Sinn der Tradition. In: Merkur 23 (1969), S. 1085–91,
insb. 1086ff. und Luhmann, Niklas: Soziologische Aufklärung. Köln-Opladen 1970, S. 84f.
Kracauer, Siegfried: Die Biographie als neubürgerliche Kunstform. In: Ders.: Das Ornament der Masse. Frankfurt/M. 1963, S. 75–80.
Kracauer, Siegfried: Die Biographie als neubürgerliche Kunstform. In: Ders.: Das Ornament der Masse. Frankfurt/M. 1963, S. 75–80.
Brecht, Bertolt: Notizen über realistische Schreibweise. In: Ders. Ges. Werke. Frankfurt/M. 1967, Bd. 19, S. 349–373, 360/61.
Neben Siegfried Kracauer und Bertolt Brecht sind in diesem Zusammenhang zu nennen: Bloch, Ernst: Der Nazi und das Unsägliche. In: Das Wort 9 (1938), S. 110–114;
Broch, Hermann: Kitsch und Literatur. Das Weltbild des Bösen (1933). In: Ders.: Schriften zur Literatur 2. Theorie. Frankfurt/M. 1975, S. 119–157;
Lion, Ferdinand: Biographien ohne Ende. In Maß und Wert. März, April 1938, S. 656–662.
Vgl. Winkler, Andreas: Hermann Kesten im Exil (1933–40). Sein politisches und künstlerisches Selbstverständnis und seine Tätigkeit als Lektor des Allert de Lange Verlages. Geistes- und Sozialwissenschaftliche Dissertationen 45. Hamburg 1977, S. 61ff.
Zu Broch vgl. Lützeler, Paul Michael: Avantgarde in der Krise. In: Exil, Sonderband 1. Hrsg. von Edita Koch und Frithjof Trapp. Maintal 1986, S. 41–49.
Vgl. Kurella, Alfred (d.i. Bernhard Ziegler): Nun ist dies Erbe zu Ende (1937). In: Ders.: Zwischendurch. Verstreute Essays 1934–1940. Berlin 1961, S. 133–44.
Vgl. Walter, Hans Albert: »In das historische Genre geflüchtet. Bemerkungen zu Gustav Reglers Bauernkriegsroman ›Die Saat‹«. In: Frankfurter Rundschau v. 20. 7. 1976 und: Schröter: Der historische Roman. Zur Kritik seiner spätbürgerlichen Erscheinung 132ff.
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Kohpeiß, R. (1993). Zur Theorie und Tradition der Gattung. In: Der historische Roman der Gegenwart in der Bundesrepublik Deutschland. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-04195-1_2
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