Zusammenfassung
“Meine früheste Erinnerung ist in Rot getaucht. Auf dem Arm eines Mädchens komme ich zu einer Tür heraus, der Boden vor mir ist rot, und zur Linken geht eine Treppe hinunter, die ebenso rot ist. Gegenüber von uns, in selber Höhe, öffnet sich eine Türe und ein lächelnder Mann tritt heraus, der freundlich auf mich zugeht. Er tritt ganz nahe an mich heran, bleibt stehen und sagt zu mir: ‘Zeig die Zunge!’ Ich strecke die Zunge heraus, er greift in seine Tasche, zieht ein Taschenmesser hervor, öffnet es und führt die Klinge ganz nahe an meine Zunge heran. Er sagt: ‘Jetzt schneiden wir ihm die Zunge ab.’ Ich wage es nicht, die Zunge zurückzuziehen, er kommt immer näher, gleich wird er sie mit der Klinge berühren. Im letzten Augenblick zieht er das Messer zurück, sagt: ‘Heute noch nicht, morgen.’ Er klappt das Messer wieder zu und steckt es in seine Tasche.”1
Diese Erinnerung gibt dem ersten Band von Canettis Autobiographie ihren Titel und benennt zugleich ihr heimliches Thema. Denn “Die gerettete Zunge” ist nicht nur, wie der Untertitel sagt, die Geschichte einer Jugend, sie ist auch die genaue Aufzeichnung der Schule des Sprechens und des Hörens, die Canetti durchlaufen hat. Dabei war Sprache, gehört, gesprochen oder gelesen, für ihn immer mehr als bloß ein Medium der Kommunikation; in ihr verdichtete sich dem jungen Canetti die Welt. Seine Erfahrungen sind zuallererst Sprach-Erfahrungen; Erlebnisse vermitteln sich ihm oft durch den Klang fremder Laute, einzelne Wörter bezeichnen Schlüsselsituationen.
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Notizen
Fritz Mauthner, Beiträge zu einer Kritik der Sprache Bd. 1. Leipzig: Meiner 1923 (3., um Zusätze vermehrte Aufl.), S. 67.
Vgl. etwa Ludwig Wittgenstein: “Begriffe leiten uns zu Untersuchungen. Sind der Ausdrck unseres Interesses, und lenken unser Interesse.” (Ders., Philosophische Untersuchungen, 570. In: Ders., Schriften Bd. 1: Tractatus logico-philosophicus. Tagebücher 1914–1916. Philosophische Untersuchungen. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1960.)
Jürgen Schramke, Zur Theorie des modernen Romans. München: Beck 1974.
Karl Kraus, Beim Wort genommen. Dritter Band der Werke von Karl Kraus. Mit e. Nachw. hg. von Heinrich Fischer. München: Kösel 1955, S. 381.
Vgl. Hans Wollschläger, Die Instanz K. K. oder Unternehmungen gegen die Ewigkeit des Wiederkehrenden Gleichen. In: Heinz Ludwig Arnold (Hg.), Karl Kraus. München: edition text + kritik, München 1975 (Sonderband), S. 5–20; hier: S. 12.
Vgl. auch Hans Feth, Elias Canettis Dramen. Frankfurt/M.: R. G. Fischer 1980 (= Saarbrücker Beiträge zur Literaturwissenschaft 2), S. 59: “Canettis dramentheoretische Begrifflichkeit ist nicht am Drama selbst gewonnen, sondern sie wird auf es übertragen.”
E. Canetti/M. Durzak, Akustische Maske und Maskensprung. Materialien zu einer Theorie des Dramas. Ein Gespräch. In: Neue Deutsche Hefte 3, 1975, S. 497 — 516; hier: S. 498.
Vgl. hierzu und zum folgenden u. a. Jürgen Habermas, Erkenntnis und Interesse. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1968 (Theorie 2), S. 262 — 300
und Gernot Böhme, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht. Darmstädter Vorlesungen. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1985 (= es 1301), S. 39 — 44.
Vgl. E. Canetti, Der Gegen-Satz zur “Hochzeit”. In: Die Hochzeit, Schauspielhaus Zürich, Spielzeit 1969/70, H. 4 (Programmheft), zit. n. H. Feth, a.a.O., S. 61.
Gershom Scholem, Der Name Gottes und die Sprachtheorie der Kabbala. In: Ders., Judaica 3. Studien zur jüdischen Mystik. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1970 (= bs 333), S. 7 — 70; hier: S. 10.
Walter Benjamin, Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen. In: Ders., Gesammelte Schriften Bd. II.1 (Aufsätze, Essays, Vorträge). Unter Mitw. von Theodor W. Adorno u. Gershom Scholem hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1977, S. 140 — 157; hier S. 148
Dies ist gleichzeitig eine weitere — allerdings von Canetti an keiner Stelle thematisierte -Parallele zu Karl Kraus: “Nichts wäre törichter, als zu vermuten, es sei ein ästhetisches Bedürfnis, das mit der Erstrebung sprachlicher Vollkommenheit geweckt oder befriedigt werden will. Derlei wäre kraft der tiefen Besonderheit dieser Sprache gar nicht möglich, die es vor ihren Sprechern voraus hat, sich nicht beherrschen zu lassen. (...) Den Rätseln ihrer Regeln, den Plänen ihrer Gefahren nahezukommen, ist ein besserer Wahn als der, sie beherrschen zu können.” (K. Kraus, Die Sprache. In: Die Fackel 885 — 887, Dezember 1932, a.a.O., S. 1 — 4; hier: S. 3.)
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Knoll, H. (1993). Die Sprachreflexionen. In: Das System Canetti. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-04194-4_3
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