Zusammenfassung
Kierkegaards Interpretation von Mozarts Oper „Don Giovanni“ in seiner Studie „Die unmittelbaren erotischen Stadien oder das Musikalisch-Erotische“1 hat für die Aufführungspraxis dieser Oper und die Rezeption des Don-Juan-Mythos im 20. Jahrhundert eine ebensogroße Rolle gespielt wie Hoffmanns Erzählung im 19. Jahrhundert.2
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Anmerkungen
Der Text wird zitiert nach Sören Kierkegaard, Entweder-Oder, unter Mitwirkung von Niels Thulstrup und der Kopenhagener Kierkegaard-Gesellschaft hrsg. von Herman Diem und Walter Rest, übersetzt von Heinrich Fauteck, München 1975, S. 57–163.
Wie verschiedene Notizen zeigen, kannte Kierkegaard Hoffmanns „Don Juan“, vgl. Sören Kierkegaard, Die Tagebücher, hrsg. von Hayo Gerdes, Düsseldorf, Köln 1962, Bd. 1, S. 75 und 93. Erstmals direkt auf Kierkegaard bezogen hat sich Ernst Lert in seiner Leipziger Inszenierung von 1917, vgl. Bitter, a.a.O., S. 129 ff.
So z.B. Walther Rehm, Kierkegaard und der Verführer, München 1949, bes. Kap. 1. Rehm interpretiert die Romantikkritik Kierkegaards im ersten Teil von „Entweder-Oder“ als rückblickende Auseinandersetzung des Autors mit einer eigenen Lebensperiode, die er nun aus religiöser Sicht ablehnt.
Zu dieser Dreifachbestimmung des Ästhetischen vgl. Theodor W. Adorno, Kierkegaard. Konstruktion des Ästhetischen, in: ders. Gesammelte Schriften, hrsg. von Rolf Tiedemann, Band 2, Frankfurt/M. 1979, S. 24 ff.
Gert Mattenklott betont, daß bei Kierkegaard die Musik als Form der vom Geist bestimmten Sinnlichkeit diese selbst begrenzt, indem sie immer nur auf einen Augenblick beschränkt bleibt. Vgl. Gert Mattenklott, Blindgänger. Physiognomische Essays, Frankfurt/M. 1986, S. 135. Entscheidend ist m.E. aber weniger die Eigenschaft der Musik als Begrenzung, sondern vielmehr die konstatierte bzw. konstruierte Ähnlichkeit zwischen der Kunstform Musik und der Sinnlichkeit, die u.a. in der zeitlichen Vergänglichkeit liegt. Diese Ähnlichkeit macht die Musik zur geeigneten ästhetischen Form für die vom Geist bestimmte Sinnlichkeit. Indem Sinnlichkeit aber nicht nur in die Musik allgemein, sondern in ein bereits existierendes Kunstwerk gebannt ist, eröffnet sich die Möglichkeit, das, was eine Grenze der Musik ausmacht — ihren zeitlichen Vollzug -, zu überschreiten. Mozarts „Don Giovanni“ kann man immer wieder hören. Der ästhetische Genuß ist mithin zwar zeitlich begrenzt, aber reproduzierbar. Es ist der Genuß des Immergleichen, zumal wenn man den hier entworfenen Begriff des Klassischen miteinbezieht. Das Sinnlich-Erotische könnte nämlich nur in einer vollständigen Reproduktion von Mozarts „Don Giovanni“ noch einmal so vollkommen dargestellt werden. Da dieses Kunstwerk schon existiert und der Ästhetiker auch selbst nur passiv bleibt, ist der ästhetische Genuß immer auch rückwärts gewandt.
Betrachtet man die musikalische Struktur der Oper, so kann insbesondere für Leporello die Abhängigkeit von seinem Herrn gezeigt werden. Beispiel wäre die erste Dienerarie. Nicht nur textlich („voglio far’il gentiluomo“), sondern auch musikalisch ist der Bezug zu Don Giovanni durch die Aufnahme von Motiven, Rhythmik und Instrumentation des „molto allegro“ aus dem zweiten Teil der Ouvertüre, ‘dem’ Motiv Don Giovannis, hergestellt. Für die Arie Elviras hingegen zeigt die Analyse der Musik, daß die Einwürfe Don Giovannis den Ablauf ihrer Arie nicht beeinträchtigen. Ließe man sie weg, so wäre der formale Bau der Arie nicht wesentlich gestört. Vgl. Eva Reisinger, Christian Räth, Die unmittelbaren erotischen Stadien oder das Musikalisch-Erotische. Untersuchung zum inneren Bau der Oper, Manuskript (unveröffentlicht), Hamburg 1986.
Interessanterweise wird Molières „Don Juan“ besonders scharf kritisiert, ohne daß nur ein einziges Mal auf die geistige Verwandtschaft zum reflektierten Verführer hingewiesen würde. Dies erstaunt insbesondere deshalb, weil Don Juan bei Molière eine Philosophie der Verführung vertritt, die viele Momente — wie z.B. die Reflexion des Genusses — vorwegnimmt, die später im „Tagebuch des Verführers“ gestaltet werden. Die Argumentation in der Abhandlung lautet, daß die dramatische Gestaltung bei Molière nicht verführerisch sei. Demgegenüber betont Julia Kristeva, daß bei Molière die Sprache Medium der Verführung sei. Dies zeige sich am Satzrhythmus: „Le médium de l’art ici est le langage, et il assume à lui tout seul l’expression, le sens et la performance de la séduction. On remarquera la phrase rythmée, poétique toute en vers blanc, et tissée d’alexandrins, de cette première comédie en prose écrite par Molière.“ (Julia Kristeva, Don Juan ou aimer pouvoir, in: dies., Histoires d’amour, Paris 1983, S. 187–201, hier S. 189 f.). Leider zeigt sie dies nicht in einer detaillierten Analyse des Textes. Ihr Aufsatz ist für den Zusammenhang von Kunst und Verführung insofern interessant, als sie in Don Juan die Verkörperung des Künstlers und die Verführung als Sublimierung sieht (ebd., S. 194). Problematisch ist ihr Bezug auf Kierkegaard. Umstandslos übernimmt sie seine Behauptung, das Erotische sei musikalisch bzw. die Musik sei Ausdruck des amoralisch Erotischen (ebd., S. 187). Fragwürdig bleibt auch, daß sie ihre anregenden Ausführungen an eine psychoanalytische Interpretation ‘der’ abendländischen männlichen Sexualität bindet.
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Haustedt, B. (1992). Kierkegaard: “Das Musikalisch-Erotische”. In: Die Kunst der Verführung. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-04169-2_3
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