Zusammenfassung
Der Begriff des Intellektuellen im heute noch gebräuchlichen Sinne hat sich im Frankreich der Dreyfus-Affäre herausgebildet. Der Fall des 1894 unter dem Verdacht des Landesverrats verhafteten jüdischen Artilleriehauptmanns Alfred Dreyfus und seine Verurteilung zu lebenslanger Deportation trotz aller Unschuldsbeteuerungen und einer unsicheren Beweislage hält die seinerzeit noch keineswegs gefestigte Dritte Republik mehr als ein Jahrzehnt lang in Atem. Als der Versuch, diesen offensichtlichen Justizirrtum durch die Entlarvung des eigentlichen Täters zu korrigieren, scheitert — das Kriegsgericht plädiert für Freispruch —, wendet sich der Schriftsteller Emile Zola am 13. Januar 1898 in einem offenen Brief an den Präsidenten der Republik. In seinem in Clemenceaus L’Aurore erschienenen J’accuse wirft Zola Militär und Justiz vor, wider besseres Wissen und trotz vorliegender Gegenbeweise auf Dreyfus’ Schuld zu beharren. Die gleiche Zeitung publiziert am 14. Januar ein Manifest, in dem über 100 Schriftsteller und Wissenschaftler gegen den Justizskandal protestieren und das fürder-hin als Manifeste des Intellectuels bezeichnet wird. Der gegen Zola angestrengte Prozeß endet mit seiner Verurteilung und zwingt ihn zur Flucht nach England. Erst die Entdeckung, daß es sich bei einem wesentlichen gegen Dreyfus verwandten Beweisstück um eine Fälschung handelt, führt 1899 — nach dem Rücktritt der politisch Verantwortlichen — zur Wiederaufnahme des Verfahrens und zur neuerlichen wenn auch glimpflicheren Verurteilung des Offiziers, der alsbald die Begnadigung durch den Staatspräsidenten folgt. 1906 wird Dreyfus schließlich voll rehabilitiert.1
„… eine unsägliche Betrübniß ergreift mich, wenn ich an den Untergang denke, womit meine Gedichte und die ganze alte Weltordnung von dem Communismus bedroht ist — Und dennoch, ich gestehe es freimüthig, übt derselbe auf mein Gemüth einen Zauber, dessen ich mich nicht erwehren kann …“
Heinrich Heine
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Anmerkungen
vgl. B. Schmidt, J. Doll, W. Fekl, S. Loewe, Frankreich-Lexikon. Schlüsselbegriffe zu Wirtschaft, Gesellschaft, Politik, Geschichte, Kultur, Presse- und Bildungswesen, Berlin 1981, Bd. 1,S. 33.
Thomas Mann, Die geistige Situation des Schiftstellers in unserer Zeit (1930), in: ders., Politische Schriften und Reden 2, Frankfurt a.M. 1968, S. 179ff.
Bertolt Brecht, Der Dreigroschenprozeß (1930/31), in: ders., Gesammelte WeSrke, Bd. 18, Schriften zur Literatur und Kunst 1, Frankfurt a.M. 1967, S. 179.
Stephan Oswald, Georg oder die „Exotik des Alltags“. Zu einem Roman S. Kracauers, Protokolle ‘78. II, Wien 1978, S. 14.
A. Döblin, Nochmals Wissen und Verändern, in: ders., Schriften zur Politik und Gesellschaft, Olten und Freiburg 1972, S. 287.
Gershom Scholem, Walter Benjamin — Die Geschichte einer Freundschaft, Frankfurt a.M. 1975, S. 101.
Max Weber, Politik als Beruf (1919), in: ders., Ges. politische Schriften, hrsg. von J. Winckelmann, Tübingen 1958, S. 534.
Georg Lukács, Geschichte und Klassenbewußtsein, Neuwied und Berlin 1970, S. 126 (entspricht S. 62 der Erstausgabe im Malik Verlag, Berlin 1923).
Georg Lukács, Organisatorische Fragen der revolutionären Initiative, in: Die Internationale, 3. Jg., Berlin 1921, H. 8, S. 305.
Ernst Bloch, Aktualität und Utopie. Zu Lukács’ Philosophie des Marxismus: Der Neue Merkur 7, 1924, S. 469 .
Karl Mannheim, Ideologie und Utopie, Frankfurt a.M. 1978, S. 266/267.
Walter Benjamin, Bücher, die lebendig geblieben sind, Die literarische Welt, 17.5.1929, in: ders. Gesammelte Schriften III, hrsg. von Hella Tiedemann-Bartels, Frankfurt a.M. 1972, S. 171.
Walter Benjamin, Julien Benda. Discours à la nation européenne (1933), GS III, S. 439.
Siegfried Kracauer, Die Biographie als neubürgerliche Kunstform, Frankfurter Zeitung, 29.6.1930, in: ders., Das Ornament der Masse. Essays, Frankfurt a.M. 1977, S. 76.
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Jerzewski, R. (1991). Krise und Funktion des Intellektuellen — Theoretische Debatten. In: Zwischen anarchistischer Fronde und revolutionärer Disziplin. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-04159-3_2
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