Zusammenfassung
Die Geschichte der Auseinandersetzung mit dem Gespräch in Deutschland ist eine Geschichte der Nachkriegszeiten: Georg Philipp Harsdörffers “Frauenzimmer Gesprächspiele” erschienen zum Ende des Dreißigjährigen Krieges, Friedrich Daniel Ernst Schleiermachers “Versuch einer Theorie des geselligen Betragens” war eine Reaktion auf die Revolutionskriege, die erste wissenschaftliche Analyse der Alltagsgespräche durch Moritz Lazarus entstand 1870/71, Georg Simmeis, zum Teil ältere Essays über die Geselligkeit erschienen gesammelt als “Grundfragen der Soziologie” im Jahr 1917, die dialogische Philosophie sowie die dialektische Theologie sind ebenfalls Antworten auf den ersten Weltkrieg, und in der Nachfolge des Existentialismus entstanden nach 1945 neue Gesprächstheorien und Gesprächskreise. Ist die Welt aus den Fugen geraten, dann werden die Fundamente des Zusammenlebens sichtbar. Sind Ordnungen zu suchen, dann wird die Kunst, Unterhalt zu finden, gleichbedeutend mit der Kunst erneuter Unterhaltung. Alte Gesprächsstrukturen müssen aufgelöst, vorhandene überschritten und von neuem mit der Tradition vermittelt werden. Auch ohne voraufgegangenen Krieg scheint das eine vorgängige Aufgabe, mit der jede Veränderung zu rechnen hat. Aus der Kritik am Hergebrachten eine eigenständige Geselligkeit zu entwickeln, das war auch das Anliegen der Aufklärung. In der Adelswelt und gegen deren Verhaltensmodelle sollte das Nachdenken über die Stellung des Bürgertums beginnen, sollte eine eigene Gesprächskultur entfaltet werden.
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Literatur
Hans Blumenberg: Anthropologische Annäherung an die Aktualität der Rhetorik. In:ders.: Wirklichkeiten in denen wir leben. Stuttgart 1981, S. 111.
Norbert Elias: Über den Prozeß der Zivilisation. Bd.2, Frankfurt/Main 1980, S. 312 ff. Die von Freuds Triebmodell abgeleitete Zivilisationsthéorie operiert ganz selbstverständlich mit gegebenen Leitbegriffen: die These, daß im historischen Verlauf der Affektmodellierung die Affektäußerungen einer „mittleren Linie“ (325) zustreben, überträgt den aristotelischen méson — Gedanken auf ihre historischen Ergebnisse. Elias Beschreibung der „Veränderungen des gesamten menschlichen Habitus“ (388) ist so gesehen eine historisch ausgeführte Anthropologie.
Vgl. auch Rudolf zur Lippe: Naturbeherrschung am Menschen. Bd.2, Frankfurt/Main 21981, S. 125 ff. und 215 ff., wo der Rationalisierungsprozeß als dem Menschen auf den Leib geschriebene Beherrschung anthropologisch nachgewiesen wird.
Hans Blumenberg: Lebenswelt und Technisierung. In: Wirklichkeiten, ebd., S. 23 ff. Vgl. auch den Artikel „Lebensphilosophie“ in Ritter: Historisches Wörterbuch der Philosophie 5/1980, Sp. 135 ff. und die ältere, immer noch brauchbare Darstellung von Otto Friedrich Bollnow: Die Lebensphilosophie. Berlin 1958.
Hans Georg Gadamer: Probleme der praktischen Vernunft. In:ders.: Hermeneutik IL Tübingen 1986, S. 320 ff. Dieser Bruch wurde sogar, aus wissenschaftstheoretischer Sicht, als disziplinärer Trick der Rhetorik bezeichnet.
Michael Cahn: Kunst der Überlistung. München 1986, S. 10.
René Descartes: Discours de la Méthode. Hg. von Lüder Gäbe. Hamburg 1969, S. 41. Vgl. auch Rüdiger Bubner: Handlung, Sprache und Vernunft. Frankfurt/Main 1982, S. 119. Ähnlich schon Blumenberg, Anthropologische Annäherung, ebd., S. 110.
Zusammenfassend jetzt Walter Schulz: Grundprobleme der Ethik. Pfullingen 1989, S. 118 und 128 ff. Eine Bewertung der modernen Versuche, die praktische Philosophie zu rehabilitieren ebd., S. 216 ff. und besonders 229 ff.
Gadamer, Hermeneutik II, Abschnitt IV die Entgegnungen auf Habermas und Apel. Bubner, Handlung, ebd., S. 33 ff. und 231. Auch der spätere Versuch von Habermas, Rationalität bereits als Lebensform zu betrachten, kommt anscheinend nicht umhin, Vernunft autonom zu setzen. Zur Kritik Bubner, ebd., S. 311 ff. In programmatischer Entgegensetzung vgl. Samuel Jakob: Zwischen Gespräch und Diskurs. Bern/Stuttgart 1985, 247 ff., der allerdings die Unterscheidung von Gespräch und Diskurs nicht ganz durchführt.
Zit.nach Claudia Schmölders (Hg): Die Kunst des Gesprächs. München 1986, S. 173 ff.
zum fogenden Niklas Luhmann: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Bd. 1, Frankfurt/Main 1980, S. 87 – 161.
Luhmann, ebd., S. 122 f. und 128 f. Luhmann, der sich hier an Wolf Lepenies: Melancholie und Gesellschaft. Frankfurt/Main 1969 anschließt, geht nur mit dem Selbstzweckbegriff über Lepenies hinaus.
Zit. in Gerhard Funke (Hg): Die Aufklärung. Stuttgart 1963, S. 250.
Quintilian: Ausbildung des Redners. Hg. von Helmut Rahn. Bd.1, Darmstadt 1972, II, 17, 25.
Vgl. auch Georg Simmel: Grundfragen der Soziologie. Berlin 1984, S. 61 ff.
Ähnlich auch Bubner: Handlung, Sprache und Vernunft. Frankfurt/Main 1982, S. 77 f. beide allerdings ohne den Hinweis auf Quintilian.
Hier läßt sich auch das Ornament praktisch verankern. Vgl. Karl Vossler: Beredsamkeit und Umgangssprache. In:ders.: Gesammelte Aufsätze zur Sprachphilosophie. München 1923, S. 253 und
den Band von Ernesto Grassi/Hugo Schmale (Hg): Das Gespräch als Ereignis. München 1982.
Hölderlin: Werke und Briefe. Hg.von Friedrich Beißner und Jochen Schmidt. Bd.1, Frankfurt/Main 1979, S. 163.
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Fauser, M. (1991). Einleitung. In: Das Gespräch im 18. Jahrhundert. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-04158-6_1
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