Zusammenfassung
»Das Bild des Menschen, nicht wie er sein sollte, sondern wie er ist, wird gezeichnet, und wie sollte er da ohne die treffende Anekdote auskommen?« fragt Richard Friedentbai. Anekdoten dürften schon erzählt und dann von Mund zu Mund gewandert sein, als es schriftliche Zeugnisse noch kaum gab. Dabei spielt es keine Rolle, ob man zu jenen Zeiten das Wort ›Anekdote‹ schon kannte oder gar benutzte. So kann man dann später in den gedruckten Werken der Literatur, in den Chroniken, Berichten usw. eine Fülle von Anekdoten finden. Ihr Strom tritt von Anbeginn kräftig und überzeugend ins Blickfeld der Suchenden und Forschenden. So steht z.B. eine wahrhaft vollkommene Anekdote in I. Könige 3, 16–18, wo der Chronist vom Streit zweier Mütter um ein Kind berichtet, ein Streit, den Salomo mit einem weisen Urteilsspruch schlichtet. Dies Thema ist bis ins 20. Jh. virulent geblieben, z.B. im »Kreidekreis« Klabunds, von dem es dann etwa ein Jahrzehnt später Bert Brecht entlehnte und verfremdete. Aber auch im indischen Raum ist diese Anekdote bereits 1801 in englischer Übersetzung (Gladwin) bekannt geworden. Sie sei in dieser — aus früher indischer Anekdotenwelt stammenden — Form zitiert; betitelt ist diese Kurzprosa: »Der Streit um das Kind«:
»Zwei Frauen stritten sich um ein Kind und hatten keine Zeugen. Beide begaben sich zum Richter und heischten Recht. Der Richter ließ den Henker kommen und befahl ihm, das Kind zu halbieren und jeder der beiden Frauen eine Hälfte zu geben.
Preview
Unable to display preview. Download preview PDF.
Literatur
Gladwin: Lustige Erzählungen im leichten Stil (Pleasant Stories in an easy Style). London. 1801.
Goethe, J. W. v.: Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten. In dtv. Bd. 20 der Ges. Werke. 1962.
v. Hofmannsthal, H.: Ges. Werke. Bd. 2. 1924.
Strauß, Emil: Der Schleier. 1931. S. 59 ff.
Bender, E.: Schwank u. Anekdote. In: Der Deutschunterricht. 9 (1957). H. 1. S. 55–67.
few [anonym]: Die kleine Form. In: Neue Deutsche Literatur (NDL). 3. Jhrg. H. 2. 1955 (d. i. F. C. Weiskopf).
Franck, Hans: Ein Dichterleben in 111 Anekdoen. In: Vorbemerkungen. 1961.
Roth, Eugen: Lebenslauf in Anekdoten. 21962.
Torberg, Fr.: Die Tante Jolesch oder der Untergang des Abendlandes in Anekdoten. 21975.
Hein, Jürgen: Deutsche Anekdoten. 1976. S. 381.
Schäfer, W. E.: Anekdote-Antianekdote. 1977.
v. Stigler-Fuchs, M.: Der unsterbliche Hanswurst. Wiener-Theater-Anekdoten. 1944. S. 7–9.
Franke, Hans: Die lebenskräftige Anekdote. In: Die Zeit (Reichenberg u. Böhmen). 25. 11. 1939.
s. ferner: Dalitzsch, Spohr, Gerh. Kopp, Friedenthal.
Rights and permissions
Copyright information
© 1984 Springer-Verlag GmbH Deutschland
About this chapter
Cite this chapter
Grothe, H. (1984). Die Lebenskraft der Anekdote. In: Anekdote. Sammlung Metzler. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-04081-7_8
Download citation
DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-476-04081-7_8
Publisher Name: J.B. Metzler, Stuttgart
Print ISBN: 978-3-476-12101-1
Online ISBN: 978-3-476-04081-7
eBook Packages: J.B. Metzler Humanities (German Language)