Zusammenfassung
Mit Simone de Beauvoirs Le Deuxième Sexe erschien 1949 ein Buch von epochaler Bedeutung. Mehr als ein Jahrzehnt vor der neuen Frauenbewegung und in einer Zeit, in der der Feminismus des 19. und frühen 20. Jahrhunderts fast in Vergessenheit geraten war, unternahm Beauvoir nicht nur den Versuch einer umfassenden empirisch-historischen Bestandsaufnahme der Situation der Frau, sondern auch deren philosophische Begründung. Beauvoir entwickelte Grundbegriffe zur Bestimmung der Geschlechterdifferenz, mit denen die feministische Theorie bis heute operiert: das ›Eine‹/das ›Andere‹, ›Transzendenz‹/›Immanenz‹, der ›Mythos‹ des Weiblichen, biologisches Geschlecht/soziales Geschlecht. Im Ansatz nahm sie bereits die gesamte Problematik vorweg, die in den folgenden Jahrzehnten mit wechselnder Akzentsetzung diskutiert werden sollte: die Frage nach Gleichheit oder Differenz, nach einer weiblichen Subjektivität, nach der sozialen Konstruiertheit von Weiblichkeit, nach der Bedeutung des Körpers, nach dem Verhältnis von diskursiven und sozialen Strukturen — auch wenn sie selbst auf diese Fragen unbefriedigende und widersprüchliche Antworten gab. Ausgangspunkt ihrer Theoriebildung war die Erkenntnis, daß die abendländische Kultur eine männliche Kultur sei:
[…] es war ja die Welt der Bilder, die, wenn alles weggefegt war, was von den Geschlechtern abgesprochen war und über sie gesprochen war, noch blieb. Die Bilder blieben, wenn Gleichheit und Ungleichheit und alle Versuche einer Bestimmung ihrer Natur und ihres Rechtsverhältnisses längst leere Worte geworden waren und von neuen leeren Worten abgelöst wurden. Jene Bilder, die, auch wenn die Farben schwanden und Stockflecken sich eintrugen, sich länger hielten und neue Bilder zeugten. Das Bild der Jägerin, der großen Mutter und der großen Hure, der Samariterin, des Lockvogels aus der Tiefe und der unter die Sterne Versetzten & Ich bin in kein Bild hineingeboren, dachte Charlotte. Darum ist mir nach Abbruch zumute. Darum wünsche ich ein Gegenbild, und ich wünsche, es selbst zu errichten.
Ingeborg Bachmann: Ein Schritt nach Gomorrha
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Lindhoff, L. (1995). Nora oder Weiblichkeit als patriarchalischer Mythos. In: Einführung in die feministische Literaturtheorie. Sammlung Metzler. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-03982-8_1
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Publisher Name: J.B. Metzler, Stuttgart
Print ISBN: 978-3-476-10285-0
Online ISBN: 978-3-476-03982-8
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