Zusammenfassung
Bei der Analyse von Romanen der deutschen Klassik und Romantik muß zweifelsohne die Frage beantwortet werden, ob der Begriff »Bildungsroman« zur Deutung dieser Werke wesentlich beiträgt. Ehrwürdig ist die Tradition dieses Wortes schon. Wenn auch nicht Wilhelm Dilthey, sondern der Dorpater Universitätsprofessor Karl Morgenstern (1770–1852) dieses Wort geprägt hat (s. Martini), so hat Dilthey doch den Begriff in Umlauf gebracht. 1870 nannte er in »Das Leben Schleiermachers« die Romane in der Schule von Goethes »Wilhelm Meister« Bildungsromane (S. 282). Und im Hölderlin-Aufsatz seines Buches »Das Erlebnis und die Dichtung« gab er eine Definition, die das Verständnis nachfolgender Forscher weitgehend bestimmte:
»Der Hyperion gehört zu den Bildungsromanen, die unter dem Einfluß Rousseaus in Deutschland aus der Richtung unseres damaligen Geistes auf innere Kultur hervorgegangen sind. Unter ihnen haben nach Goethe und Jean Paul der Sternbald Tiecks, der Ofterdingen von Novalis und Hölderlins Hyperion eine dauernde literarische Geltung behauptet. Von dem Wilhelm Meister und dem Hesperus ab stellen sie alle den Jüngling jener Tage dar; wie er in glücklicher Dämmerung in das Leben eintritt, nach verwandten Seelen sucht, der Freundschaft begegnet und der Liebe, wie er nun aber mit den harten Realitäten der Welt im Kampf gerät und so unter mannigfachen Lebenserfahrungen heranreift, sich selber findet und seiner Aufgabe in der Welt gewiß wird« (S. 393 f.).
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Literatur
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Mahoney, D.F. (1988). Überlegungen zum Begriff »Bildungsroman«. In: Der Roman der Goethezeit (1774–1829). Sammlung Metzler. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-03943-9_3
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