Zusammenfassung
Das anthropologische Denken von Jakob Michael Reinhold Lenz ist bisher kaum als solches verstanden worden und deshalb ein weitgehend unerforschtes Terrain. Die neueren Sammelbände zum Verhältnis von Anthropologie und Literatur im 18. Jahrhundert widmen Lenz keine besondere Aufmerksamkeit,1 die nicht minder florierende Lenz-Forschung öffnet sich kaum anthropologischen Fragestellungen.2 Diese Leerstelle überrascht, weil Lenz Anfang der 70er Jahre in Straßburg eine Reihe von Abhandlungen verfaßt hat, die, meist zum Vortrag in der dortigen »Société de Philosophie et de belles Lettres« bestimmt, seit der Werkausgabe von Franz Blei (1910–1913) traditionell mit dem Etikett »moralisch-theologischen Inhalts« versehen werden.3 Sie müssen jedoch — dies soll im folgenden gezeigt werden — ihrem Problemgehalt und ihrer Intention nach als geradezu klassische Dokumente der sich seit Mitte des Jahrhunderts herausbildenden Anthropologie verstanden werden,4 genauer: jener »philosophischen« Ausprägung der Anthropologie, die — im Unterschied zu ihren »physischen« und »ethnographischen« Traditionen — aus der theologisch orientierten Schulphilosophie der Aufklärung kam und, empirisch-induktive Methoden aufnehmend, »vor allem den Zusammenhang zwischen Leib und Seele und die Stellung des Menschen in der Hierarchie der Lebewesen reflektierte und untersuchte«.5
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Notizen
Vgl. Jürgen Barkhoff, Eda Sagarra (Hg.), Anthropologie und Literatur um 1800, München 1992;
Hans-Jürgen Schings (Hg.), Der ganze Mensch. Anthropologie und Literatur im 18. Jahrhundert. DFG-Symposion 1992, Stuttgart/Weimar 1994.
Unter den insgesamt 58 Beiträgen in den drei zu Lenz’ 200. Todestag erschienenen Sammelbänden findet sich kein einschlägiger Titel. Vgl. Karin A. Wurst (Hg.), J. R. M. Lenz [sic] als Alternative? Positionsanalysen zum 200. Todestag, Köln/Weimar/Wien 1992;
Inge Stephan, Hans-Gerd Winter (Hg.), »Unaufhörlich Lenz gelesen…«. Studien zu Leben und Werk von J.M. R. Lenz, Stuttgart/Weimar 1994;
David Hill (Hg.), Jakob Michael Reinhold Lenz. Studien zum Gesamtwerk, Opladen 1994.
Vgl. Jakob Michael Reinhold Lenz, Gesammelte Schriften, hg. v. Franz Blei, Bd. 4, München/Leipzig 1909–1913, S. 1–88 (künftig zitiert als »Blei«);
Jakob Michael Reinhold Lenz, Werke und Briefe in drei Bänden, hg. v. Sigrid Damm, Bd. 2, Leipzig 1987, S. 483–624 (künftig zitiert als »Damm«); summarisch von »theoretischen Schriften« sprechen die Herausgeber in: Jakob Michael Reinhold Lenz, Werke und Schriften, hg. v. Britta Titel u. Hellmut Haug, Bd. 1, Stuttgart 1967, S. 327–578 (künftig zitiert als »Titel/Haug«).
Bödeker, Hans Erich: Art. Anthropologie, in: Lexikon der Aufklärung. Deutschland und Europa, hg. v. Werner Schneiders, München 1995, S. 38–39.
Eine ausführlichere Darstellung behalte ich mir vor. In der nach den editorischen Bereinigungen von Christoph Weiß erschienenen Forschung wurden bisher nur einzelne Texte oder einzelne Aspekte diskutiert. Uwe Hayer, Das Genie und die Transzendenz. Untersuchungen zur konzeptionellen Einheit theologischer und ästhetischer Reflexion bei J.M. R. Lenz, Frankfurt a. M. 1995, bietet eine materialreiche Kontextualisierung in der zeitgenössischen Theologie, bleibt aber unübersichtlich im argumentativen Aufbau und ohne bündige Interpretation der Lenzschen Texte.
Einen anregenden Versuch ihrer Kontrastierung mit den Dramen unternimmt Christoph Zierath, Moral und Sexualität bei Jakob Michael Reinhold Lenz, St. Ingbert 1995. Speziell zu den neu wieder zugänglich gemachten Philosophischen Vorlesungen vgl. neben dem instruktiven Nachwort von Christoph Weiß (s. oben Anm. 4)
Gerhard Sauder, Konkupiszenz und empfindsame Liebe. J. M. R. Lenz’ »Philosophische Vorlesungen für empfindsame Seelen«, in: Lenz-Jahrbuch 4 (1994), S. 7–29;
Andrea Velez, Wie »unverschämt« sind Lenz’ »Philosophische Vorlesungen«? Diskursive und persönliche Einflüsse auf Lenz’ erste moralphilosophische Abhandlung, in: Ulrich Kaufmann, Wolfgang Albrecht u. Helmut Stadeler (Hg.), »Ich aber werde dunkel sein«. Ein Buch zur Ausstellung Jakob Michael Reinhold Lenz, Jena 1996, S. 46–57;
Matthias Luserke, Reiner Marx, Nochmals S[turm] und D[rang]. Anmerkungen zum Nachdruck der Philosophischen Vorlesungen von J. M. R. Lenz, in: Matthias Luserke (Hg.), Jakob Michael Reinhold Lenz im Spiegel der Forschung, Hildesheim 1995, S. 407–414.
Vgl. auch Gert Sautermeister, »Unsre Begier wie eine elastische Feder beständig gespannt«. Der »Geschlechtertrieb« in Lenzens Theorie, Lyrik und Dramatik, in: Etudes Germaniques 52 (1997), S. 79–98.
Lenz verwendet die Formel mit der Erläuterung »wenn ich mit Baumgartenschen Ausdrücken reden soll«. Zumindest an dieser Stelle, womöglich auch ibid. S. 488 dürfte nicht der bekannte Ästhetiker Alexander Gottlieb Baumgarten (1714–1762) gemeint sein, wie Sauder, Konkupiszenz und empfindsame Liebe, S. 13, annimmt, sondern dessen Bruder, der Hallenser Theologe Siegmund Jacob Baumgarten (1706–1757), eine Übergangsfigur zwischen Pietismus und Neologie, dessen Evangelische Glaubenslehre (Halle 1759–1760) vermutlich auch Lenz’ theologisches Denken beeinflußt hat. Vgl. dazu Hayer, Das Genie und die Transzendenz, S. 271, sowie Martin Schloemann, Siegmund Jacob Baumgarten. System und Geschichte in der Theologie des Übergangs zum Neuprotestantismus, Göttingen 1974.
Vgl. Martin Rector, Sieben Thesen zum Problem des Handelns bei Jakob Lenz, in: Zeitschrift für Germanistik, N.F. 3 (1992), S. 628–639.
Vgl. die Hinweise bei Sauder, Konkupiszenz und empfindsame Liebe, S. 18–21, sowie bei Karl Aner, Die Theologie der Lessingzeit, Halle 1929 (Nachdruck Hildesheim 1964), S. 158–164.
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Rector, M. (1999). Zur Anthropologie von Jakob Michael Reinhold Lenz. In: Menninghaus, W., Scherpe, K.R. (eds) Literaturwissenschaft und politische Kultur. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-03797-8_24
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