Zusammenfassung
Nichts sei gewiß, hatten die akademischen Skeptiker geglaubt, und unser Wissen, unsere Annahmen über die Welt daher bestenfalls eine Sache von Wahrscheinlichkeiten. Die skeptische Haltung selbst ist dabei natürlich ebenso ungewiß, sie kann keinen Anspruch auf die Wahrheit ihrer eigenen Behauptung machen, weil wir uns über jede vermeintliche Evidenz täuschen könnten, auch die, daß nichts gewiß sei. Die skeptizistische Argumentation ist also selbstrückbezüglich. Etwas weniger radikal plädierten die pyrrhonischen Skeptiker dann dafür, daß wir uns eines jeden Urteils in allen Fällen nicht-evidenten Wissens enthalten müßten. Im Minenfeld philosophischer Meinungen und Gegenmeinungen machte der antike Skeptizismus seinen strategischen Vorstoß vor allem gegen den Dogmatismus, mit der Neubelebung der skeptizistischen Argumentationen in Reformation und Renaissance trugen Papisten und Religionsreformer ihre Scharmützel um die Frage, ob die Gewißheiten des Glaubens denn nun in kirchlicher auctoritas, oder, wie Luther behauptete, in der Schrift zu verankern seien, mit dem gegenseitigen Vorwurf aus, die je andere Seite sei dem Skeptizismus ergeben.1 Und den sündhaften Ursprung allen Skeptizismus konnte man, mit Rekurs auf Genesis 3.1, in der fragenden Schlange sehen.2
Preview
Unable to display preview. Download preview PDF.
Notizen
Zu den skeptizistischen Debatten in Reformation und Renaissance siehe Richard H. Popkin, The History of Scepticism from Erasmus to Spinoza, Berkeley 1979.
G. Wedderkopf, Diss. teol. de scepticismo profano et sacro praecipue reemonstrantium (Straßburg 1664), 3.67, zitiert nach dem Artikel »Skepsis, Skeptizismus«. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 9, hg. von Joachim Ritter, Darmstadt 1995, Sp. 955.
So sieht etwa Gerhard Fricke die Wirklichkeit des Ich und dessen unmittelbares Gefühl als die Basis einer »absoluten Gewißheit« inmitten des »Chaos der Zeit«: Gerhard Fricke, Gefühl und Schicksal bei Heinrich von Kleist. Studien über den inneren Vorgang im Leben und Schaffen des Dichters (Reprint der Ausgabe Berlin 1929), Darmstadt 1963, S. 63.
— Zu Alkmenes ›Ach‹ oder Käthchens somnambuler Gewißheit als Formen der Innerlichkeit siehe Peter-André Alt, Der Bruch im Kontinuum der Geschichte. Marionettenmetaphorik und Schönheitsbegriff bei Kleist und Büchner. In: Wirkendes Wort 37 (1987), S. 2–24.
— Zur Entstellung der Innerlichkeit des Gefühls durch Repräsentation und Substitution siehe Leonard G. Schulze, Alkmene’s Ominous ›Ach‹! On Bastards, Beautiful Souls, and the Spirit in Heinrich von Kleist. In: Studies in Romanticism 19 (1980), S. 249–266.
— Christian Moser problematisiert die so unterstellte Gefühlsgewißheit bei Kleist als »reflexives Begehren«, durch das der Körper »zum Ort einer vermeintlichen Wechselerkenntnis«, damit aber auch der Täuschung wird: »An ihm erfolgt der Umschlag eines stets vorläufig entzifferten Wissens in vermeintliche Gefühlsgewißheit.« Christian Moser, Verfehlte Gefühle. Wissen — Begehren — Darstellen bei Kleist und Rousseau, Würzburg 1993, S. 10 f.
Jurij Nikolaevich Tynjanov, Dostoevsky und Gogol. Zur Theorie der Parodie. In: Texte der russischen Formalisten, Bd. 3, Texte zur allgemeinen Literaturtheorie und zur Theorie der Prosa, hg. von Jurij Striedter, München 1969–1972, S. 300–361, hier S. 302.
Harold Bloom, Einfluß-Angst. Eine Theorie der Dichtung, Basel und Frankfurt a.M. 1995, S. 13.
So definiert etwa Roland Barthes den Intertext als »die Unmöglichkeit, außerhalb des unendlichen Textes zu leben«. Roland Barthes, Die Lust am Text. Frankfurt a.M. 1984, S. 54. Julia Kristeva versteht Intertextualität im Anschluß an Bachtin als »eine Überlagerung von Text-Ebenen, ein Dialog verschiedener Schreibweisen«; der Textbegriff wird dabei entgrenzt, so daß Geschichte und Gesellschaft ihrerseits als ›Texte‹ gesehen werden, die vom Schriftsteller gelesen und in den literarischen Text eingelesen werden. Julia Kristeva, Wort, Dialog und Roman bei Bachtin. In: Literaturwissenschaft und Linguistik, Band 3, hg. von Jens Ihwe, Frankfurt a.M. 1972, S. 345–375, hier S. 346.
Rosemarie Puschmann, Heinrich von Kleists Cäcilien-Erzählung, Bielefeld 1988.
Die Quellen, auf die Kleist im ›Homburg‹ zurückgreift, sind die Werke Friedrichs II. und Karl Heinrich Krause, Mein Vaterland unter den hohenzollerischen Regenten (Wesel 1801 und Halle 1803–1805). Zu diesen Quellen und zum Bezug auf Wallenstein siehe Johannes Endres, Das ›depotenzierte‹ Subjekt. Zu Geschichte und Funktion des Komischen bei Heinrich von Kleist, Würzburg 1996, S. 132.
Meta Corssen, Kleist und Shakespeare, hg. von Walther Brecht, Weimar 1930 (Forschungen zur neueren Literaturgeschichte Bd. LXI), S. 29, Anm. 1.
Michail Bachtin, Probleme der Poetik Dostoevskijs. Frankfurt a.M., Berlin und Wien 1985. In der Sprache als Gegenstand Linguistik gebe es keine dialogischen Beziehungen, argumentiert Bachtin, »weder zwischen den Elementen im System der Sprache noch zwischen Elementen eines ›Textes‹« und auch nicht zwischen Texten, wenn man sie linguistisch betrachte. Bachtin geht über die linguistisch orientierte Bestimmung von Intertextualität darum mit seinem Konzept einer »Metalinguistik« des Dialogischen und Polyphonen hinaus (S. 202 f.).
Roland Barthes, The Death of the Author. In: Ders., Image — Music — Text, New York 1990, S. 142–148, hier S. 146.
Katharina Mommsen, Kleists Kampf mit Goethe, Heidelberg 1974.
William Shakespeare, König Heinrich der Vierte. Übersetzung von August Wilhelm Schlegel, Stuttgart 1978, S. 18 (1. Teil, I, 3).
William Shakespeare, Othello, The Arden Edition of the Works of William Shakespeare, hg. von M.R. Ridley, London 1974, S. 154 (IV, 2).
William Shakespeare, The Tragedy of Romeo and Juliet, hg. von J.A. Bryant, London 1964, S. 78 (II, 2).
William Shakespeare, Antony and Cleopatra. The Arden Shakespeare, hg. von John Wilders, London 1995, S. 250f. (IV, 12).
Auf diese Übereinstimmungen weist Meta Corssen hin, jedoch ohne eine weitere Interpretation der Verschiebungen, die Kleist vornimmt. Siehe Meta Corssen, Kleist und Shakespeares dramatische Sprache. Inaugural-Dissertation, Friedrich-Wilhelms-Universität Berlin 1919 (German Monographs 117), S. 20.
Niklas Luhmann, Liebe als Passion, Frankfurt a.M. 1988, S. 71.
Stanley Cavell, The Avoidance of Love. A Reading of King Lear. In: Ders., Must we mean what we say? Cambridge 1976, S. 267–353.
Siehe auch Stanley Cavell, Disowning Knowledge. In: Ders., Six Plays of Shakespeare. New York 1987, S. 5
Stanley Cavell, Benjamin and Wittgenstein: Signals and Affinities. In: Critical Inquiry 25 (1999), no. 2, S. 235–246, hier S. 237.
August Wilhelm Schlegel, Vorlesungen über dramatische Kunst und Literatur, 2. Teil. In: Ders., Kritische Schriften und Briefe, Bd. VI, hg. von Edgar Lohner, Stuttgart 1967, S. 120–144.
Friedrich Schlegel, Literarische Notizen, hg. von Hans Eichner, Berlin 1980, Nr. 108.
Jakob Michael Reinhold Lenz, Anmerkungen übers Theater. In: Ders., Werke und Briefe in drei Bänden, Bd. 2, hg. von Sigrid Damm, Leipzig 1987, S. 666.
Johann Gottfried Herder, Von Deutscher Art und Kunst. Einige fliegende Blätter. II Shakespear. In: Ders., Sämmtliche Werke, hg. von Bernhard Suphan, Bd. 5, Berlin 1891, S. 208–257, hier S. 218.
Friedrich Schlegel, Über das Studium der Griechischen Poesie. Paderborn und München 1981, S. 179.
Friedrich Schlegel, Gespräch über die Poesie. In: Ders., Über Goethes Meister. Gespräch über die Poesie, hg. von Hans Eichner, Paderborn und München 1985, S 135.
Johann Wolfgang Goethe, Shakespeare und kein Ende. In: Ders., Werke, Bd. 6, hg. von Emil Staiger, Frankfurt a.M. 1966, S. 218–229, hier S. 222.
Ernst Cassirer, Heinrich von Kleist und die Kantische Philosophie, Berlin 1919.
Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft. In: Ders., Werke, hg. von Wilhelm Weischedel, Bd. IV, Frankfurt a.M. 1974, A 424 / B 452.
Immanuel Kant, Logik. In: Ders., Werke in 6 Bänden, hg. von Wilhelm Weischedel, Darmstadt 1959, Bd. 3, S. 421–582, A 131.
Rene Descartes, Meditationen über die Grundlagen der Philosophie, hg. von A. Buchenau, Hamburg 1977, 30–41.
Zu dieser Unterscheidung siehe etwa Thompson Clarke, The Legacy of Skepticism. In: The Journal of Philosophy 69 (1972), S. 754–769.
Wolf Kittler, Die Geburt des Partisanen aus dem Geist der Poesie. Heinrich von Kleist und die Strategie der Befreiungskriege, Freiburg 1987, S. 191–216.
Ludwig Tieck, Shakspeare’s Behandlung des Wunderbaren (Einleitung zu Tieck’s Übersetzung des ›Sturm‹ von Shakspeare 1793). In: Ders., Kritische Schriften, Bd. 1, Leipzig 1848, S. 35–74.
Als Widerstreit zwischen Realität und »Ich-Bewußtsein« interpretiert Hermann Reske diese und andere Traumszenen bei Kleist, ohne jedoch deren skeptizistischen Hintergrund zu erwähnen. Hermann Reske, Traum und Wirklichkeit im Werk Heinrich von Kleists, Stuttgart 1969, S. 20.
Siehe etwa Rolf Dürst, Heinrich von Kleist. Dichter zwischen Ursprung und Endzeit, Bern 1977, S. 151 zum ›Homburg‹: »Der Schlaf weist zurück auf das völlig Unbewußte reinen Gefühls, das Wachen erinnert an das bewußte Handeln der Reflexion.«
Vgl. Barry Stroud, The Problem of the External World. In: Ders., The Significance of Philosophical Scepticism, Oxford 1984, S. 1–38.
Alfred Schutz spricht sogar von einer Schockerfahrung angesichts differenter Wirklichkeitsinterpunktionen: Alfred Schutz, On Multiple Realities. In: Ders., Collected Papers, Le Hague 1962, Bd. 1, S. 231.
Zur Unterscheidung von Referenz und Code siehe Niklas Luhmann, Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1995, S. 304.
Gregory Bateson, Eine Theorie des Spiels und der Phantasie. In: Ders., Ökologie des Geistes, Frankfurt a.M. 1985, S. 241–261.
David Roberts schlägt darum vor, den Code der Kunst nicht analog zur binären Differenzierung anderer funktionaler Systeme zu bestimmen, sondern als Unbestimmtheit, als die virtuelle Differenz zwischen dem Realen und dem Möglichen. Siehe David Roberts, Paradox Preserved: From Ontology to Autology. Reflections on Niklas Luhmann’s ›The Art of Society‹. In: Thesis Eleven 51 (1997), London 1997, S. 53–74.
Wolfgang Iser, Das Fiktive und das Imaginäre. Perspektiven literarischer Anthropologie, Frankfurt a.M. 1993, S. 426–480.
Editor information
Rights and permissions
Copyright information
© 2000 Springer-Verlag GmbH Deutschland
About this chapter
Cite this chapter
Theisen, B. (2000). Der Bewunderer des Shakespeare. In: Blamberger, G. (eds) Kleist-Jahrbuch 1999. Kleist-Jahrbuch. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-03787-9_8
Download citation
DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-476-03787-9_8
Publisher Name: J.B. Metzler, Stuttgart
Print ISBN: 978-3-476-01709-3
Online ISBN: 978-3-476-03787-9
eBook Packages: J.B. Metzler Humanities (German Language)