Skip to main content

Gesichtsverlust und Gewaltsamkeit

Zur Psychodynamik von Scham und Schuld in Kleists ›Familie Schroffenstein‹

  • Chapter
Kleist-Jahrbuch 1999

Part of the book series: Kleist-Jahrbuch ((KLJA))

  • 185 Accesses

Zusammenfassung

Versuche der Wiederherstellung verletzter Ehre mittels Fehde und Blutrache leiten den Handlungsgang der ›Familie Schroffenstein‹. Der Ehrbegriff bei Kleist ist, wie ich zeigen werde, psychodynamisch eng an die Problematik der Scham und des symbolischen Gesichtsverlusts geknüpft. Beschämung führt zu physischer Gewalt, Gewalt löst wiederum Reue und Scham aus. Die Wechselseitigkeit dieser Affekte läßt sich in bezug zur parallelen Architektonik des Stückes setzen, zur symmetrischen Regularität von Figurenkonstellation und Handlungschronologie dieses Familiendnells. Denn ebenso wie die Affekte der Scham und der Schuld sich fortwährend ablösen, so wechseln die Schicksalsschläge zwischen den Schroffensteinern zu Rossitz und denen zu Warwand. In beiden verfeindeten Zweigen der titelgebenden einen Familie ist zu Beginn ein kleiner Sohn verstorben, ein weiteres Kind starb in beiden Häusern schon zuvor. Der Tod wird der jeweils anderen Seite angelastet, sei es als Mordanschlag mit Waffen, als versuchter Giftmord oder als heimliche Erdrosselung. In der einen wie der anderen Familie werden im Laufe des Stückes zudem Ritter beim Überbringen einer Nachricht der Gegenseite brutal vom Volk gelyncht, das Heroldsrecht und damit die Ehre der Grafen mißachtend. Beide Väter planen unabhängig voneinander schließlich den Mord an dem jeweils letzten Erben. Das Prinzip des ›Zahn um Zahn‹, Gleiches mit Gleichem zu vergelten, ist in einem derart blind aufeinander bezogenen, polaren System endlos, sofern der mythische Anfang, die alles initiierende Tat nicht definiert werden kann.

This is a preview of subscription content, log in via an institution to check access.

Access this chapter

Institutional subscriptions

Preview

Unable to display preview. Download preview PDF.

Unable to display preview. Download preview PDF.

Notizen

  1. Hinrich Seeba, Der Sündenfall des Verdachts. Identitätskrise und Sprachskepsis in Kleists ›Familie Schroffenstein‹. In: DVjs 4 (1970), H. 1, S. 64–100.

    Article  Google Scholar 

  2. Joachim Bohnert, Positivität des Rechts und Konflikt bei Kleist. In: KJb 1985, S. 39–55, hier S. 43.

    Google Scholar 

  3. Georges Bataille, Der heilige Eros, hg. und übersetzt von Max Hölzer, Neuwied und Berlin 1963, S. 13.

    Google Scholar 

  4. Zur Problematik des »einen Wortes« bei Kleist vgl. Walter Müller-Seidel, Versehen und Erkennen. Eine Studie über Heinrich von Kleist, Köln und Wien 1971, S. 58–61.

    Google Scholar 

  5. Vgl. Dietrich Schwanitz, Das Duell als Drama. Zur Codierung der Ehre zwischen literarischer Verklärung der Noblesse und sozialer Selbststilisierung der Stände. In: Ehre. Archaische Momente in der Moderne, hg. von Ludgera Vogt und Arnold Zingerle. Frankfurt a.M. 1994, 270–290, hier S. 272. Zu den »Anachronismen und Schiefheiten« bei Kleist, was Fragen des Duells und des Zweikampfs, aber auch des Mittelalter-Bildes insgesamt angeht,

    Google Scholar 

  6. vgl. Jan-Dirk Müller, Kleists Mittelalter-Phantasma. Zur Erzählung ›Der Zweikampf‹. In: KJb 1998, S., hier S.5.

    Google Scholar 

  7. Vgl. zur Umcodierung von Ehre im Übergang von der ständischen zur modernen Gesellschaft: Dietrich Schwanitz, Entwurf zu einem Kurs ›Shakespeare und die Liebe‹. Beispiel für die Applikation der Systemtheorie auf die Literatur, Hamburg 1992 (maschinenschriftliches Manuskript), S. 11. Siehe auch Ute Frevert, Ehrenmänner. Das Duell in der bürgerlichen Gesellschaft, München 1991.

    Google Scholar 

  8. Ingeborg Harms, ›Wie fliegender Sommer‹. Eine Untersuchung der ›Höhlenszene‹ in Heinrich von Kleists ›Familie Schroffenstein‹. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 1984, S. 270–314, hier S. 276.

    Google Scholar 

  9. Raimar Zons, Der Tod des Menschen. Von Kleists ›Familie Schroffenstein‹ zu Grabbes ›Gothland‹. In: Grabbe und die Dramatiker seiner Zeit, hg. von Detlev Kopp und Michael Vogt, Tübingen 1990, S. 75–102, hier S. 80.

    Google Scholar 

  10. Till Bastian und Micha Hilgers, Kain. Die Trennung von Scham und Schuld am Beispiel der Genesis. In: Psyche 44 (1990), S. 1100–1112.

    Google Scholar 

  11. Léon Wurmser, Die Maske der Scham. Die Psychoanalyse von Schamaffekten und Schamkonflikten, 2. Aufl., Berlin 1993, S. 135.

    Google Scholar 

  12. Vgl. Ruth Benedict, The Chrysanthemum and the Sword. Patterns of Japanese Culture, London 1947, S. 222 f. Siehe auch Erec Robertson Dodds, Die Griechen und das Irrationale, Darmstadt 1970.

    Google Scholar 

  13. Vgl. Bastian und Hilgers, Kain (wie Anm. 13), S. 1105.

    Google Scholar 

  14. Hartmut Böhme, Enthüllen und Verhüllen des Körpers. Biblische, mythische und künstlerische Deutungen des Nackten. In: Paragrana 6 (1997), H. 1, S. 218–246, hier S. 224.

    Google Scholar 

  15. Erik. E. Erikson, Kindheit und Gesellschaft, Stuttgart 1982, S. 246f.

    Google Scholar 

  16. Vgl. Friedrich Ohly, Die Zerreißung als Strafe für Liebesverrat in der Antike und im alten Testament. In: Sprache und Recht. Beiträge zur Kulturgeschichte des Mittelalters, hg. von Karl Hauck u. a., Berlin und New York 1986, S. 554–624, hier S. 613ff.

    Google Scholar 

  17. Hermann Schmitz, Der Rechtsraum. System der Philosophie, Bd. 3.2,2. Aufl., Bonn 1982, S.40.

    Google Scholar 

  18. Vgl. zu diesen Ausdifferenzierungen im einzelnen Dietmar Skrotzi, Die Gebärde des Errötens im Werk Heinrich von Kleists, München 1971, S. 12. Zur entstehenden Körpersprache im Drama des 18. Jahrhunderts allgemein vgl. auch Alexander Košenina, Anthropologie und Schauspielkunst. Studien zur ›eloquentia corporis‹ im 18. Jahrhundert, Tübingen 1995;

    Google Scholar 

  19. Hans-Thies Lehmann, Das Welttheater der Scham. Dreißig Annäherungen an den Entzug der Darstellung. In: Merkur 45 (1991) H. 9/10, S. 824–838; hier S. 829.

    Google Scholar 

  20. Vgl. zum Begriff der Scham als ›Hemmung‹ auch Otto Friedrich Bollnow, Die Ehrfurcht, Frankfurt a.M. 1947, S. 109.

    Google Scholar 

  21. Vgl. Lehmann, Das Welttheater der Scham (wie Anm. 28), S. 829. So spricht etwa Johann Jakob Engel davon, daß der »Beschämte« Sorge dafür tragen muß, »Gesicht und Auge vor jedem Blik [sic] des Andren zu verwahren«. Johann Jakob Engel, Ideen zu einer Mimik. Zwei Teile, Darmstadt 1968, S. 283.

    Google Scholar 

  22. Bereits Ottokar Fischer geht kurz auf die Gebärde der Gesichtsverhüllung als Zeichen der Trauer, der Scham, aber auch der Verzweiflung ein. Er bezieht sich aber nur auf Szenen, in denen das Gesicht mit den Händen bedeckt wird und nicht auf solche, in denen es abgewendet wird. Ottokar Fischer, Mimische Studien zu Heinrich von Kleist. In: Euphorion 15 (1908), S. 488–510, S. 716–25 und Euphorion 16 (1909), S. 62–92, S. 412–425, S. 747–772, hier S. 86 f.

    Google Scholar 

  23. Sigrid Weigel, Der Körper am Kreuzungspunkt von Liebesgeschichte und Rassendiskurs in Heinrich von Kleists Erzählung ›Die Verlobung in St. Domingo‹. KJb 1991, S. 202–217, hier S.212.

    Google Scholar 

  24. — Anthony Stephens, Verzerrungen im Spiegel. Das Narziß-Motiv bei Heinrich von Kleist. In: Heinrich von Kleist. Kriegsfall — Rechtsfall — Sündenfall, hg. von Gerhard Neumann, Freiburg 1994 (Rombach Litterae; 20), S. 249–297; hier S. 273.

    Google Scholar 

  25. Ralf Konersmann, Der Schleier des Timanthes. Perspektiven der historischen Semantik, Frankfurt a.M. 1994, S. 13.

    Google Scholar 

  26. Franciscus Lang, Dissertatione de actione scenica, hg. und übersetzt von Alexander Rudin, Bern und München 1975, S. 198; ein entsprechender Kupferstich findet sich auf S. 51.

    Google Scholar 

  27. Vgl. Erika Fischer-Lichte, Semiotik des Theaters, Bd. 2: Vom ›künstlichen‹ zum ›natürlichen‹ Zeichen. Theater des Barock und der Aufklärung, 2. Aufl., Tübingen 1989, S. 165.

    Google Scholar 

  28. Vgl. Gisela Ecker, Trauer zeigen: Inszenierung und die Sorge um den Anderen. In: Trauer tragen — Trauer zeigen. Inszenierungen der Geschlechter, hg. von Gisela Ecker, München 1999, S. 9–25, hier S. 13.

    Google Scholar 

  29. So die Niobe-Figur der Attitüden Lady Hamiltons, die als Kupferstiche überliefert wurden. Vgl. den Reprint bei Dagmar von Hoff, Dramen des Weiblichen. Deutsche Dramatikerinnen um 1800, Opladen 1989, S. 196. Antike Plastiken der Niobe-Gruppe (etwa die in den Uffizien in Florenz) zeigen Niobe zwar mit einer erhobenen Hand, diese ist jedoch nach vorn gestreckt und nimmt somit eher einen abwehrenden als einen verhüllenden Gestus ein.

    Google Scholar 

  30. René Girard, Das Heilige und die Gewalt, übersetzt von Elisabeth Mainberger-Ruh, Frankfurt a.M. 1992, S.21f.

    Google Scholar 

  31. In der Bibel sind Skorpione ein Bild für die Strafe Gottes. Vgl. Manfred Lurker, Wörterbuch der Symbole, Stuttgart 1991, S. 684. Rupert bezeichnet sein Spiegelbild, mit dem er über eine Quelle gebeugt konfrontiert wird, als »Skorpion von einem Menschen« (Vs. 2231) und als eines »Teufels Antlitz« (Vs. 2229).

    Google Scholar 

  32. Max Kommerell, Die Sprache und das Unaussprechliche. Eine Betrachtung über Heinrich von Kleist. In: Ders., Geist und Buchstabe der Dichtung. Goethe — Kleist — Hölderlin, Frankfurt a.M. 1940, S. 243–317, hier S. 306.

    Google Scholar 

Download references

Authors

Editor information

Günter Blamberger

Rights and permissions

Reprints and permissions

Copyright information

© 2000 Springer-Verlag GmbH Deutschland

About this chapter

Cite this chapter

Benthien, C. (2000). Gesichtsverlust und Gewaltsamkeit. In: Blamberger, G. (eds) Kleist-Jahrbuch 1999. Kleist-Jahrbuch. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-03787-9_10

Download citation

  • DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-476-03787-9_10

  • Publisher Name: J.B. Metzler, Stuttgart

  • Print ISBN: 978-3-476-01709-3

  • Online ISBN: 978-3-476-03787-9

  • eBook Packages: J.B. Metzler Humanities (German Language)

Publish with us

Policies and ethics