Zusammenfassung
Der weit verbreitete Eindruck, in keiner anderen Kunstgattung erscheine der menschliche Körper »in solcher Irritation der Geschlechtlichkeit wie im Ballett«, bezieht sich nicht allein auf den aktuellen Phänotyp einer schlanken, muskulösen, aber »busenarm [en]« Tänzerin, die, »sanft und hart« zugleich, das »klare Bild von Mann und Frau«2 verflüssige, sondern auch auf ihr Pendant, den modernen Tänzer, dessen »außergewöhnliche Virilität« durch die »Poesie der Bewegung« gebrochen werde.3 Handelt es sich dabei um eine >Verdrängung des Weiblichem gemäß männlicher »Wunschprojektion «,4 wie es die heimliche Hierarchie der Androgynie-Vorstellung nahezulegen scheint? Die männlichen Megastars des 20. Jahrhunderts tragen indes Spuren homoerotisch getönter Effeminiertheit. Der legendäre Tänzer Vaslav Nijinsky, der zum ›Sprungwunder‹ seiner Epoche avancierte, wurde zumindest auf der Bühne als mädchenhaft wahrgenommen, was in der Zeit des Ersten Weltkriegs skandalös wirkte. Die spätere ›Callas des Balletts‹, der russische Dissident Rudolf Nurejew, konnte dagegen bereits von seiner geschlechtlich zweideutigen Wirkung profitieren, weil sie in den 60er Jahren zum Sinnbild sexueller Befreiung wurde. Aber die androgyne Aura, die das klassische Ballett umgibt, läßt sich nicht allein auf Körpertypen oder deren Stilisierungen beschränken, vielmehr scheint sie in der medialen Qualität und der Ästhetik dieses Kunsttanzes selber verankert zu sein. Daher stellt sich die Frage, was die vieldeutige und oftmals mit Sexuellem versetzte Rede von der vermeintlichen Aufhebung der Geschlechtergrenzen im Ballett in systematischer wie historischer Hinsicht überhaupt besagt.
»Meine Seele ist eine leidenschaftliche Tänzerin«
Bettine von Arnim1
für Helena
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Anmerkungen
Zit. in: Lorenz, Verna: PrimaBallerina. Der zerbrechliche Traum auf Spitzen. Frankfurt/ M. 1987, S. 126.
Vgl. Aurnhammer, Achim: Androgynie. Studien zu einem Motiv in der europäischen Literatur. Köln, Wien 1986.
Bock, Ulla: Wenn die Geschlechter verschwinden. In: Hartmut Meesmann / Bernhard Sill (Hg.): Androgyn. »Jeder Mensch in sich ein Paar!?« Androgynie als Ideal geschlechtlicher Identität. Weinheim 1994, S. 19–34; hier S. 23.
Vgl. Jacques Derrida (1966): Die Struktur, das Zeichen und das Spiel im Diskurs der Wissenschaften vom Menschen. In: Ders.: Die Schrift und die Differenz. Frankfurt/M. 1976, S. 422–443; hier S. 424. Vgl. den Bezug auf die Geschlechtskategorie bei Link- Heer, Ursula: Das Zauberwort ›Differenz‹ — Dekonstruktion und Feminismus. In: Hannelore Bublitz (Hg.): Das Geschlecht der Moderne. Genealogie und Archäologie der Geschlechterdifferenz. Frankfurt/M., New York 1998, S. 49–71.
Taper, Bernard (1984): Balanchine. A Biography. Berkeley, Los Angeles, London 1996, S. 145.
Brandstetter, Gabriele: Nachwort. In: Dies. (Hg.): Aufforderung zum Tanz. Geschichten und Gedichte. Stuttgart 1993, S. 401–424; hier: S. 421.
Baxmann, Inge: Tanztheater. Rebellion des Körpers, Bildertheater und die Frage nach dem Sinn der Sinne. In: K. Ludwig Pfeiffer / Michael Walter (Hg.): Kommunikationsformen als Lebensformen. München 1990, S. 149–169, hier: S. 159.
Terpis, Max: Tanz und Tänzer. Zürich 1946, S. 76, 142 f.
Junk, Victor (1948): Grundlegung der Tanzwissenschaft. Hg. v. Elisabeth Wamlek-Junk. Hildesheim, Zürich, New York 1990, S. 48 f.
Fischer-Lichte, Erika: Semiotik des Theaters. Das System der theatralischen Zeichen. Tübingen 1984, Bd. 1;
vgl. Greimas, Algeridas J.: Conditions d’une sémiotique du monde naturel. In: Ders.: Du sens. Essais sémiotiques. Paris 1970, S. 49–93.
Brandstetter, Gabriele: Defigurative Choreographie. Von Duchamp zu William Forsythe. In: Gerhard Neumann (Hg.): Poststrukturalismus. Herausforderung an die Literaturwissenschaft. Stuttgart, Weimar 1997, S. 598–624; hier: S. 613, vgl. S. 598 f.
Nach Kristeva, Julia: Die Revolution der poetischen Sprache. Frankfurt/M. 1978.
Vgl. Köhne-Kirsch, Verena: Die ›schöne‹ Kunst des Tanzes. Phänomenologische Erörterung einer flüchtigen Kunstart. Frankfurt / M. u. a. 1990.
Vgl. z. B. Leeker, Martina: Vom ›Geist‹ der Maschinen. Für eine Kultur der technologischen Manipulation des Körpers. In: Kunstforum International, 133, 1996, S. 130–139. Vgl. auch die Beiträge in: ballett international, tanz aktuell, H. 8 / 9, 1997.
Deleuze, Gilles (1983): Das Bewegungs-Bild. Kino I. Frankfurt/M. 1989, S. 17, 20, 26.
Kristeva, Julia: La revoke intime. Pouvoirs et limites de la psychoanalyse. Bd. 2. Paris 1997, S. 223 ff.
Hofmannsthal, Hugo von (1906): Die unvergleichliche Tänzerin. In: Gesammelte Werke. Reden und Aufsätze I. 1891–1913. Hg. v. Bernd Schoeller in Beratung mit Rudolf Hirsch. Frankflirt / M. 1979, S. 496–501; hier: S. 499.
Valéry, Paul (1935 / 36). In: Ders.: Tanz, Zeichnung und Degas. Frankfurt/ M. 1996, S. 15–20.
Mallarmé, Stéphane: Ballette. In: Brandstetter 1993, S. 352–355; hier: S. 354.
Sibony, Daniel: Le corps et sa dance. Paris 1995, S. 64.
Vgl. zur Lippe, Rudolf (1974): Naturbeherrschung am Menschen IL Geometrisierung des Menschen und Repräsentation des Privaten im französischen Absolutismus. Frankfurt/ M. 1981;
Bourcier, Paul: Naissance du ballet (394–1673). Saint-Etienne 1995.
Vgl. Sträßner, Matthias: Tanz-Meister und Dichter. Literatur-Geschichte(n) im Umkreis von Jean Georges Noverre. Lessing, Wieland, Goethe, Schiller. Berlin 1994. Er verweist aufWinckelmanns Beitrag zum Grazien-Begriff, den Kleist am Tanzbeispiel paradoxierte, und Wielands Rolle bei der Ballettreform.
Vgl. Kristeva, Julia: Histoires d’amour. Paris 1983, S. 225 ff, 251 ff.
Koch, Marion: Salomes Schleier. Eine andere Kulturgeschichte des Tanzes. Berlin 1995, S. 250.
Vgl. Klein, Gabriele: Frauen. Körper. Tanz. Eine Zivilisationsgeschichte des Tanzes. Weinheim, Berlin 1992: »Als Naturwesen verehrt, zur ätherischen Fee oder zum überirdischen Fabelwesen stilisiert, als geschlechtsloses Geschlecht körperlich androgyn modelliert«, sei die romantische Ballerina eine »ideale Trägerin bürgerlich-patriarchaler Imaginationen von Weiblichkeit« (S. 124). So auch Lorenz 1987, Koch 1995.
Vgl. Kittler, Friedrich A.: Dichter. Mutter. Kind. München 1991.
Müller, Hedwig: Von der äußeren zur inneren Bewegung. Klassische Ballerina — Tänzerin. In: Renate Möhrmann (Hg.): Die Schauspielerin. Zur Kulturgeschichte der weiblichen Bühnenkunst. Frankfurt/M. 1989, S. 283–300; hier: S. 286.
Vgl. Hönninghausen, Lothar: Präraffaeliten und Fin de Siècle. Symbolistische Tendenzen in der europäischen Spätromantik. München 1971.
Vgl. Praz, Mario(1930): Liebe, Tod und Teufel. Die Schwarze Romantik. 2 Bde., München 1970.
Heine, Heinrich: Florentinische Nächte. In: Werke. Ausgewählt und herausgegeben von Martin Greiner. 2. Bd. Köln, Berlin 1969, S. 501–551; hier: S. 531.
Lacan, Jacques: Funktion und Feld des Sprechens und der Sprache in der Psychoanalyse. In: Schriften I. Ölten, Freiburg i. Br. 1973, S. 144.
Vgl. Hanna, Judith Lynne: Dance, Sex and Gender. Signs of Identity, Dominance, Defiance, and Desire. Chicago, London 1988, die sich darüber wundert, daß Frauen im Ballett »vertical much of the time« (S. 176) seien, obwohl das Aufrechte doch mit dem Männlichen assoziiert werde.
Vgl. Kuhn, Andrea: Sprachlosigkeit — das Geheimnis des Hermaphroditen. In: Ursula Prinz (Hg.): Androgyn. Sehnsucht nach Vollkommenheit. Berlin 1986, S. 120–127.
Vgl. Savalle, Joseph: Travestis. Métamorphoses. Dédoublements. Essai sur l’oeuvre romanesque de Théophile Gautier. Paris 1981, S. 162 ff.
So bei Bachelard, Gaston (1942): L’eau et les rêves. Essai sur l’imagination de la matière. Paris 1981, S. 50 ff.
Regitz, Hartmut / Regner, Otto Friedrich / Schneiders, Heinz-Ludwig (Hg.): Reclams Ballettführer. 11., durchgesehene Aufl. Stuttgart 1992, S. 604.
Vgl. z. B. Badinter, Elisabeth (1992): XY. Die Identität des Mannes. München 1993, oder Mosse, George L. (1996): Das Bild des Mannes. Zur Konstruktion der modernen Männlichkeit. Frankfurt / M. 1997.
Vgl. Nectoux, Jean-Michel u. a.: Mallarme-Debussy-Nijinsky-de Meyer. Nachmittag eines Fauns. Dokumentation einer legendären Choreographie. München 1989; Stanciu- Reiss, Françoise / Pourvoyeur, Jean-Michel (Hg.): Ecrits sur Nijinsky. Paris 1992.
Vgl. Lacan, Jacques (1966): Die Bedeutung des Phallus. In: Ders.: Schriften IL Ölten, Freiburg i.Br. 1975, S. 119–133. Wird bei Lacan Maskerade bekanntlich zur Metapher dafür, daß es ein Sein der Geschlechter nicht gibt, sondern nur den Schein des Phallus-Habens oder Phallus-Seins, fuhrt die »Tatsache, daß die Weiblichkeit ihr Refugium« in der »Maske« findet, dazu, »daß beim Menschen die männliche Parade selbst als weiblich erscheint« (S. 132).
Clair, Sarah: Jean Babilée ou la danse buissonnière. Paris 1995, S. 67 f., 91, 148.
Garber, Marjorie: Vested Interests. Cross Dressing & Cultural Anxiety. New York 1992, S. 360 f. Rudolph Valentino, der >Latin lovers den ›Rudi‹ Nurejev, als Herrenimitator eines Herrenimitators, in einem Film von Ken Russell (USA 1978) spielte, ist Garbers Beispiel für diesen kulturhistorisch wie psychoanalytisch interessanten Umschlag übertriebener Virilität ins Feminine.
Balanchine, George: Schlaflose Nächte mit Tschaikowsky. Das Leben Balanchines in Gesprächen mit Solomon Volkov. Weinheim, Berlin 1994, S. 124.
Garcia-Marquez, Vincente: Massine. A Biography. New York 1995, S. 188, 221, 317, 322.
Vgl. Stuart, Otis: Nurejew. Die Biographie. Wien, München 1995, S. 40 ff.
Petit, Roland: J’ai dansé sur les flots. Paris 1993, S. 77 f.
Kirkland, Gelsey (with Greg Lawrence): Dancing on my Grave. The Fairy-Tale Success Story that Became a Living Nightmare. New York 1992.
Bentley, Toni (1982): Tanzen ist beinahe alles. Selbstporträt einer Tänzerin aus dem New York City Ballet. Reinbek bei Hamburg 1983.
Max Brod: »Das Ballettmädchen«. In: Brandstetter 1993, S. 174–186; hier S. 179.
Döblin, Alfred: Die Tänzerin und der Leib. In: Brandstetter 1993, S. 121–126.
Frisch, Max: Julika und das Ballett. In: Brandstetter 1993, S. 126–139; hier S. 127.
Lacan, Jacques (1958): Die Ausrichtung der Kur und die Prinzipien ihrer Macht. In: Schriften I, Ölten, Freiburg i. Br. 1973, S. 171–240, bes. S. 148, 160, 222.
Vgl. Wetzel, Michael: ›Le Nom/n de Mignon‹ — Der schöne Schein der Kindsbräute. In: Dietmar Kamper / Christoph Wulf (Hg.): Der Schein des Schönen. Göttingen 1989, S. 380–411.
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Runte, A. (1999). Ballerina / Ballerino. Androgynie im Ballett. In: Bock, U., Alfermann, D. (eds) Querelles. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-03774-9_6
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