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Philipp Spitta und die Geburt der Musikwissenschaft aus dem Geiste der Philologie

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Musikwissenschaft — eine verspätete Disziplin?

Zusammenfassung

1874 attackierte Friedrich Nietzsche in seiner kleinen Streitschrift Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben1 den Historismus, wie er durch die Geschichtsphilosophie Hegels begründet und zur beherrschenden Weltanschauung geworden war. Den Grundgedanken seines Essays faßte Nietzsche in der Formel »Die historische Krankheit als Feindin der Cultur«2 zusammen. Die Polemik richtete sich damit vor allem gegen die nivellierende Macht des »historischen Sinnes«, der von einem vermeintlich objektiv-distanzierten Standpunkt aus analysiert, relativiert und damit alle Kultur zur unverbindlichen »Gebildetheit« verkommen läßt. Es ist wohl kein Zufall, wenn Nietzsche hier auch die noch so junge musikwissenschaftliche Forschung im Visier hatte:

Es giebt Menschen, die an eine umwälzende und reformirende Heilkraft der deutschen Musik unter Deutschen glauben: sie empfinden es mit Zorne und halten es für ein Unrecht, begangen am Lebendigsten unserer Cultur, wenn solche Männer wie Mozart und Beethoven bereits jetzt mit dem ganzen Wust des Biographischen überschüttet und mit dem Foltersystem historischer Kritik zu Antworten auf tausend zudringliche Fragen gezwungen werden. Wird nicht dadurch das in seinen lebendigen Wirkungen noch gar nicht Erschöpfte zur Unzeit abgethan oder mindestens gelähmt, dass man die Neubegierde auf zahllose Mikrologien des Lebens und der Werke richtet und Erkenntnis-Probleme dort sucht, wo man lernen sollte zu leben und alle Probleme zu vergessen3.

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Notizen

  1. Vgl. Friedrich Nietzsche, Unzeitgemässe Betrachtungen, zweites Stück: Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben [1874], in: Nietzsche, Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe, hrsg. Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Band I, München: Deutscher Taschenbuch-Verlag 1980, S. 243–334.

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  2. Friedrich Nietzsche, Nachlaß, Fragment des Heftes U II 1 [1873],

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  3. zitiert nach: Jörg Salaquarda, Studien zur zweiten unzeitgemässen Betrachtung, in: Nietzsche-Studien. Internationales Jahrbuch für die Nietzsche-Forschung 13 (1984), S. 1–45; hier S. 16.

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  4. Vgl. Otto Jahn, W. A. Mozart, 4 Teile, Leipzig: Breitkopf & Härtel 1856, 1856, 1858 und 1859.

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  5. Vgl. Alexander Wheelock Thayer, Ludwig van Beethoven’s Leben. Nach dem Originalmanuskript deutsch bearbeitet von Hermann Deiters, 3 Bände, Berlin: Schneider 1866, 1872 und 1879.

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  6. Mehrfach hat sich Nietzsche etwa mit der klassizistischen Haltung seines Bonner Universitäts-Lehrers Jahn auseinandergesetzt, vgl. Barbara von Reibnitz, Otto Jahn bei Friedrich Nietzsche. Der »Grenzbotenheld« als Wagner-Kritiker, in: Otto Jahn (1813–1868). Ein Geisteswissenschaftler zwischen Klassizismus und Historismus, hrsg. William M[us-grave] Calder III., Hubert Cancik und Bernhard Kytzler, Stuttgart: Steiner 1991, S. 204–233;

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  7. Andreas Eichhorn, »… aus einem inneren Keim Ideen entwickeln…«. Zur Musikanschauung Otto Jahns, in: Archiv für Musikwissenschaft 52 (1995), S. 220–235.

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  8. Vgl. Friedrich Chrysander, Georg Friedrich Händel, 3 Bände [unvollendet], Leipzig: Breitkopf & Härtel 1858, 1860 und 1867 (Reprint in 2 Bänden: Hildesheim: Olms/Wiesbaden: Breitkopf & Härtel 1966 und 1967).

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  9. Nachdem im Zuge des wissenschaftsgeschichtlichen Interesses bereits Studien zu Hermann Kretzschmar, Friedrich Chrysander, Guido Adler und August Wilhelm Ambros entstanden waren, zog Spitta erst jüngst die Aufmerksamkeit auf sich; vgl. Ulrike Schilling, Philipp Spitta. Leben und Wirken im Spiegel seiner Briefwechsel. Mit einem Inventar des Nachlasses und einer Bibliographie der gedruckten Werke, Kassel: Bärenreiter 1994;

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  10. Friedhelm Krummacher, Geschichte als Erfahrung: Schütz und Bach im Blick Philipp Spittas, in: Schütz-Jahrbuch 1995, S. 9–27;

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  11. Wolfgang Sandberger, Das Bach-Bild Philipp Spittas. Ein Beitrag zur Bach-Rezeption des 19. Jahrhunderts (Beihefte zum Archiv für Musikwissenschaft, 39), Stuttgart: Steiner 1997.

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  12. Philipp Spitta, Denkmäler Deutscher Tonkunst, in: Grenzboten 52 (1893), S. 16–27; hier S.25.

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  13. Philipp Spitta, Kunstwissenschaft und Kunst [1883], in: Spitta, Zur Musik. Sechzehn Aufsätze, Berlin: Paetel 1892, S. 1–14; hier S. 7.

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  14. Vgl. Dietrich Buxtehude, Orgelcompositionen, hrsg. Philipp Spitta, 2 Bände, Leipzig: Breitkopf & Härtel 1876 und 1877.

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  15. Spitta, Denkmäler deutscher Tonkunst (wie Anm. 12), S. 25. Mit dieser Formulierung ging der Musikhistoriker auf die Vorstellungswelt der Frühromantik, genauer auf Novalis, Teplitzer Fragmente, 14, in: Novalis, Schriften, Band II (Das philosophische Werk 1), hrsg. Richard Samuel, Stuttgart: Kohlhammer 1960, S. 597, zurück, der der Vergangenheit mit seiner Forderung »Respekt für alles, was geschehen ist« ebenfalls per se einen unermeßlichen Wert zuerkannte. War dieser Respekt bei Novalis noch als romantische »Geschichts-Andacht« zu verstehen, so setzte Spitta diesen Respekt in der wissenschaftlichen Arbeit um; vgl. dazu auch Rudolf Heinz, Geschichtsbegriff und Wissenschaftscharakter der Musikwissenschaft in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts (Studien zur Musikgeschichte des 19. Jahrhunderts, 11), Regensburg: Bosse 1968. Heinz erkennt in seinem ideologiekritischen Ansatz als »Hintersinn« dieser Formulierung, daß »eher moralische Maxime denn sachbedingte Nötigungen das historische Unternehmen motivieren und tragen, ferner, daß die bloße Existenz eines Faktischen, historisch Gegebenen schon dessen Rechtsgrund ausmacht« (S. 31). Der Rückgriff auf die romantische Tradition bleibt allerdings unerkannt.

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  16. Diese — fast wieder zurückgezogene — Widmung darf einen Schlüsselcharakter bei der Interpretation der beiden Motetten beanspruchen; vgl. auch den Brief von Johannes Brahms an Fritz Simrock vom 31. Oktober 1878, in: Johannes Brahmes, Briefe an P. J. Simrock und Fritz Simrock, hrsg. Max Kalbeck, Band II (Brahms-Briefwechsel, 10), Berlin: Deutsche Brahms-Gesellschaft 1917 (Reprint: Tutzing: Schneider 1974), S. 91: »Widme ich dem Musikgelehrten und Bachbiographen Motetten, so sieht es aus, als ob ich Besonderes, Mustergültiges in dem Genre machen zu können glaubte, usw. usw.« Die hier geäußerten Skrupel machen deutlich, wie weit diese Dedikation über eine rein biographische Marginalie hinausweist.

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  17. Philipp Spitta, Johann Sebastian Bach, Band I, Leipzig: Breitkopf & Härtel 1873, S. 656.

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  18. Daß der Rückgriff auf die Geschichte im Zeitalter des Historismus zugleich als eine Art Krisenbewältigung verstanden wurde, hat bereits Droysen hervorgehoben; vgl. Johann Gustav Droysen, Vorwort, in: Droysen, Geschichte des Hellenismus, Band II (Geschichte der Bildung des hellenischen Staatssystems. Mit einem Anhange über die hellenistischen Staatsgründungen), Hamburg: Perthes 1843, S. III–XXII; auch in:

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  19. Droysen, Historik. Vorlesungen über Enzyklopädie und Methodologie der Geschichte, hrsg. Rudolf Hübner, München/Berlin: Oldenbourg 1937, S. 369–385. Ihn motivierte die »brausende Gärung der Gegenwart, die alles zertrümmert, was war und galt« (ebd., S. XXII bzw. S. 385), zu seiner Wendung hin zur Geschichte, die der Gegenwart ein historisches Bewußtsein und damit eine Orientierungsmöglichkeit geben sollte.

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  20. Brief Philipp Spittas an Johannes Brahms vom 29. Dezember 1873, vgl. Johannes Brahms im Briefwechsel mit Philipp Spitta (wie Anm. 14), S. 51–52; vgl. auch das Originalzitat bei Wilhelm Giesebrecht, Geschichte der deutschen Kaiserzeit, Band I (Gründung des Kaisertums) [1855], Braunschweig: Schwetschke 31863, S. 767.

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  21. Friedrich Carl von Savigny, Vermischte Schriften, Band I, Berlin: Veit 1850, S. 111.

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  22. Jacob Grimm, Kleinere Schriften, Band VIII, Gütersloh: Bertelsmann 1890 (Reprint: Hildesheim: Olms 1966), S. 309; Band I, Berlin: Dümmler 1864 (Reprint: Hildesheim: Olms 1965), S. 402.

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  23. Philipp Spitta, Joseph Haydn in der Darstellung C. F. Pohl’s [1883], in: Spitta, Zur Musik (wie Anm. 13), S. 151–176; hier S. 156.

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  24. Demgegenüber verteidigte Heinrich Ehrlich, Die Musik-Ästhetik in ihrer Entwickelung von Kant bis auf die Gegenwart, Leipzig: Leuckart 1882, S. 107–108, den rein biographischen Ansatz, die »schlichte, wahrheitsgetreue Darstellung des Lebens eines grossen Künstlers«, die viel mehr »zu gesunder Kunstanschauung« beitrage, als »hochtrabende Urtheile und Aburtheilungen und schönrednerische ästhetische Beschreibungen, Analysen und Erklärungen in wissenschaftlichen Werken«. Dieses Urteil verrät freilich eine grundsätzliche Skepsis gegenüber einem spezifisch musikwissenschaftlichen Anspruch in der Biographie.

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  25. Hermann Abert, Über Aufgaben und Ziele der musikalischen Biographie, in: Archiv für Musikwissenschaft 2 (1920), S. 417–433; hier S. 423; auch in:

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  26. Abert, Gesammelte Schriften und Vorträge, hrsg. Friedrich Blume, Halle an der Saale: Niemeyer 1929 (Reprint: Tutzing: Schneider 1968), S. 562–588; hier S. 571.

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  27. Joachim Wach, Das Verstehen. Grundzüge einer Geschichte der hermeneutischen Theorie im 19. Jahrhundert, Band III (Das Verstehen in der Historik von Ranke bis zum Positivismus), Tübingen: Mohr 1933 (Reprint: Hildesheim: Olms 1966), S. 12.

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  28. Carl Dahlhaus, Geschichtliche und ästhetische Erfahrung, in: Die Ausbreitung des Historismus über die Musik, hrsg. Walter Wiora (Studien zur Musikgeschichte des 19. Jahrhunderts, 14), Regensburg: Bosse 1969, S. 243–247; hier S. 244–245. Vor diesem Hintergrund hat Dahlhaus in einem Kurzessay mit dem Titel Wozu noch Biographien?, in: Melos/Neue Zeitschrift für Musik 1 (1975), S. 82, die Fragwürdigkeit von Biographien überhaupt unterstrichen. Ob allerdings in der Tat davon gesprochen werden kann, daß »biographische Momente zwar in die Entstehung, die Genesis eines Werkes eingreifen, aber über dessen Sinn und ästhetische Geltung nichts besagen« (ebd.), darf mehr als bezweifelt werden. Bezeichnenderweise diskutiert Dahlhaus das Verhältnis der Biographik zur allgemeinen musikalischen Historiographie nicht.

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  29. Philipp Spitta, Palestrina im sechzehnten und neunzehnten Jahrhundert, in: Deutsche Rundschau 79 (1894), S. 74–95; hier S. 83. Spittas Position hat die weitere methodische Zielsetzung des Faches nachhaltig beeinflußt. Biographisch-hermeneutische Verfahren waren lange Zeit verpönt. Noch 1987 hat etwa Carl Dahlhaus im Kapitel I. Werk und Biographie, in: Carl Dahlhaus, Ludwig van Beethoven und seine Zeit, Laaber: Laaber 1987, S. 29–73, dargelegt, was »biographische« beziehungsweise »hermeneutische« Methoden für die Werkanalyse zu leisten vermögen. Letztlich hat sich Dahlhaus dabei für das ästhetisch autonome Kunstwerk ausgesprochen und den »biographischen« Ansatz vor allem hinsichtlich der Wissenschaftlichkeit in Frage gestellt.

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  30. Vgl. zu dieser Problematik auch Martin Geck und Peter Schleuning, »Geschrieben auf Bonaparte«, Beethovens »Eroica«: Revolution, Reaktion, Rezeption, Reinbek: Rowohlt Taschenbuch Verlag 1989, S. 387–392.

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  31. Vgl. zu dieser Problematik insbesondere Vladimir Karbusicky, Verbalisierung musikalischer Sinngehalte: zwischen »schlechter Poesie« und dem »Gemachten am Werk«?, in: Verbalisierung und Sinngehalt. Über semantische Tendenzen im Denken in und über Musik heute, hrsg. Otto Kolleritsch (Studien zur Wertungsforschung, 21), Wien/Graz: Universal Edition 1989, S. 9–27.

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  32. Vgl. Philipp Spitta, Ueber Robert Schumanns Schriften [1892], in: Spitta, Musikgeschichtliche Aufsätze, Berlin: Paetel 1894, S. 383–401; hier S. 387: »Die Zergliederung eines Musikwerkes bis in seine kleinsten Theile darf sich Keiner erlassen, der praktisch lernen will, wie man es machen soll, und zeigen, wie man solche Zergliederungen anstellt, ist gewiß eine wichtige Aufgabe der Compositionslehre. Nicht anders auch, als auf diesem Wege wird die Erkenntniß dessen gewonnen, was ein Kunstwerk von dem anderen, was bei weiterer Umschau einen Meister von dem andern unterscheidet. Die geschichtlichen Zusammenhänge lassen sich, wenn man ihre feinsten Fasern bloßlegen will, ohne irgendeine analytische Arbeit nicht aufzeigen«.

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  33. Philipp Spitta, Johann Sebastian Bach, Band II, Leipzig: Breitkopf & Härtel 1880, S. 531.

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  34. Walter Blankenburg, Das Wort-Ton-Verhältnis in J. S. Bachs h-Moll-Messe, in: Johann Sebastian Bach, Messe H-Moll, »opus ultimum« BWV 232. Vorträge der Meisterkurse und Sommerakademien J. S. Bach 1980, 1983 und 1989, hrsg. Ulrich Prinz (Schriftenreihe der Internationalen Bachakademie Stuttgart, 3), Kassel: Bärenreiter 1990, S. 104–117; hier S. 111.

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Sandberger, W. (2000). Philipp Spitta und die Geburt der Musikwissenschaft aus dem Geiste der Philologie. In: Gerhard, A. (eds) Musikwissenschaft — eine verspätete Disziplin?. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-03772-5_3

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