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Mozart und Methode. Otto Jahns Beitrag zur Begründung der modernen Musikgeschichtsschreibung

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Musikwissenschaft — eine verspätete Disziplin?
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Zusammenfassung

Der Ruhm derer, die neue Wissenschaften gründen, pflegt schnell zu schwinden. Je stärker sie die Forschung beflügeln, desto rascher überrollt deren Fortschritt ihre eigenen gelehrten Resultate. So ist die herbe Kritik, die Otto Jahn (1813–1868) von seinen Nachfolgern erfuhr, beinahe schon ein Beweis für seine forschungsgeschichtliche Bedeutung1. Allzu einmütig kritisierte man den Klassischen Philologen, der die Leipziger Bach-Gesellschaft und die erste kritische Beethoven-Edition mitbegründet und sein letztes Lebensdrittel einer monumentalen Mozart-Biographie gewidmet hatte, als Inbegriff eines Dilettanten. Bereits Friedrich Chrysander mißfiel, »daß Jahn in Urteilen und noch mehr in den historischen Übersichten so häufig über seine Kräfte ging und soviel Nebel verbreitete, damit sein Held glänzen könnte«2. Zum Klassiker aber, so behauptete Friedrich Nietzsche, stilisiere der »behagliche« Spießer seinen Mozart nur deshalb, um zeitgenössische Genies wie Richard Wagner »hochmüthig abzuweisen«. Der »stumpfe aufschwunglose Mann« mißbrauche die historische Methode als Waffe gegen wahre, »lebendig produzirende« Größe3. Jahn habe, so resümierte Alfred Einstein, die Mozart-Forschung zwar begründet, aber, weil er »alle tieferen Dissonanzen in Mozarts Leben und Werk halb unbewußt, halb geflissentlich übersah«, zugleich in eine »schiefe Bahn geleitet«4.

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Notizen

  1. Das einzige moderne Standardwerk zu Otto Jahn ist die Aufsatzsammlung Otto Jahn (1813–1868). Ein Geisteswissenschaftler zwischen Klassizismus und Historismus, hrsg. William M[usgrave] Calder III., Hubert Cancik und Bernhard Kytzler, Stuttgart: Steiner 1991. Über Jahns Beziehungen zur Musik informieren die Essays von Gernot Gruber, Otto Jahns Bedeutung für die Mozart-Forschung, ebd., S. 144–150; Andreas Eichhorn, »Otto Jahn, dem das Beethovensche Lied an die Freude nicht heiter genug erschien«. Zu Otto Jahns musikästhetischem Denken, ebd., S. 151–168; und Joachim Draheim, Otto Jahn als Komponist, ebd., S. 169–188. Daneben enthält das Buch eine von Gerson Schade erstellte Bibliographie von Jahns Werken und der spärlichen Forschungsliteratur (ebd., S. 258–286). Als maßgebliche älteren biographische Skizzen können gelten: Adolf Michaelis, Jahn, Otto, in: Allgemeine Deutsche Biographie, Band XIII, Leipzig: Duncker & Humblot 1881, S. 668–686;

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  2. und Adolf Michaelis, Otto Jahns Lehen, in: Otto Jahn in seinen Briefen, hrsg. Eugen Petersen, Leipzig/Berlin: Teubner 1913, S. 1–52.

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  3. Ausschließlich aus ihnen schöpft Carl Werner Müller, Otto Jahn. Mit einem Verzeichnis seiner Schriften, Stuttgart/Leipzig: Teubner 1991. Alle nicht eigens nachgewiesenen Fakten zu Otto Jahn stammen aus Michaelis’ Darstellung.

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  4. Hermann Kretzschmar, Gesammelte Aufsätze über Musik und Anderes, Band II, Leipzig: Peters 1911, S. 160. — Dies gelte, so fand Kretzschmar, der diesen Tadel beifällig zitiert, besonders für Jahns Darstellung der italienischen Oper wie der Werke Glucks, die er zugunsten der Mozart’schen abwerte; vgl. ebd., S. 147, 259–260, 270 und 194. Zu Jahns Urteil über Chrysander vgl. auch unten, S. 38, Anm. 23.

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  5. Eine Liste aller Äußerungen Nietzsches über Jahn, bei dem er 1864/65 Altertumswissenschaft studiert und dessen Verbindung philologischer und musikalischer Interessen er anfangs tief bewundert hatte, gibt Barbara von Reibnitz, Otto Jahn bei Friedrich Nietzsche. Der »Grenzbotenheld« als Wagner-Kritiker, in: Otto Jahn (1813–1868) (wie Anm. 1), S. 204–233; insbesondere S. 227–233. — Da sie sich auf direkte »Testimonia« beschränkt, erzählt sie allerdings nur die halbe Geschichte. So ließe sich zeigen, daß Nietzsches eigener später Anti-Wagnerianismus seinerseits Argumente Jahns übernimmt. Vgl. Jahns vernichtende Rezensionen über Tannhäuser, in: Die Grenzboten. Politik, Literatur und Kunst 12 (1853), Heft 1, S. 327–342; auch in: Otto Jahn, Gesammelte Aufsätze über Musik, Leipzig: Breitkopf & Härtel 1866 (Reprint: Farnborough: Gregg 1969), S. 64–86; und Lohengrin, in: Die Grenzboten. Politik, Literatur und Kunst 13 (1854), Heft 1, S. 81–100; auch in: Jahn, Gesammelte Aufsätze, S. 112–164.

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  6. Alfred Einstein, Mozart. Sein Charakter — Sein Werk [1947], Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag 1978, S. 305, 13 und 122.

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  7. Otto Jahn, W.A. Mozart, Band I, Leipzig: Breitkopf & Härtel 1856 (Reprint: Hildesheim: Olms 1976), S. 391, 484 und 487. — »Mit welchem Blick und von welcher Seite wir auch Mozart anschauen mögen«, so erklärt Jahn im Schlußwort, ebd., Band IV, Leipzig: Breitkopf & Härtel 1859 (Reprint: Hildesheim: Olms 1976), S. 746–747, »immer tritt uns die echte, reine Künstlernatur entgegen in ihrem unbezwinglichen Schaffensdrang und in ihrer unerschöpflichen Schaffenskraft, erfüllt von der unversiegbaren Liebe die keine Freude und Befriedigung kennt als im Hervorbringen des Schönen, beseelt von dem Geist der Wahrheit der allem was er ergreift den Odem des Lebens einhaucht, gewissenhaft in ernster Arbeit, heiter in der Freiheit des Empfindens. […] Und schauen wir mit Bewunderung und Verehrung zu dem großen Künstler auf, so ruht unser Blick mit immer gleicher Theilnahme und Liebe auf dem edlen Menschen«.

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  8. Noch 1856 — zu einem Zeitpunkt, als er das Haydn-Projekt aus »Mangel an Stoff« bereits aufgegeben hatte — fühlte er sich als »künftiger Biograph Beethovens« (ebd., S. 112, 144 und 125). Er hoffte sogar, daß dessen Lebensbeschreibung dem zu dick geratenen Mozart-Buch auch finanziell »vielleicht aufhilft« (ebd., S. 112). Allerdings verarbeitete er einen Großteil seines Materials 1863/64 in einem Werkverzeichnis zur kritischen Beethoven-Ausgabe; vgl. Otto Jahn, Beethoven und die Ausgaben seiner Werke, in: Die Grenzboten. Literatur, Kunst und Politik 23 (1864), Heft 1, S. 271–281, 296–311 und 341–356; auch in: Jahn, Gesammelte Aufsätze (wie Anm. 3), S. 271–337. Dieses Werkverzeichnis bezeichnete Jahn in einem Brief an Hermann Härtel vom 9. Dezember 1863 als »eine wesentliche Grundlage für die Biographie« (Otto Jahn in seinen Briefen [wie Anm. 1], S. 211); vgl. auch die Briefe Jahns an Hermann Härtel vom 9. April 1861, ebd., S. 195–197, vom 9. Oktober 1861, ebd., S. 199–200, und vom 16. November 1861, ebd., S. 200–202. Den Rest seiner Energien absorbierte die Umarbeitung des Mozart-Buches für die zweite Auflage 1866;vgl. die Briefe Jahns an Hermann Härtel vom 8. April 1866, ebd., S. 219–221, und an Gustav Hartenstein vom 11. November 1866, ebd., S. 222.

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  9. Ursprünglich hatte Jahn geplant, »das reiche aber unverarbeitete und ungenießbare Material, das bei Nissen aufgehäuft liegt, zu einer lesbaren Darstellung von Mozarts Leben zu redigieren«. Seine Quellenfunde, so erklärt er in einer aus der Kantischen Philosophie geläufigen Gründer-Metapher, hätten ihm jedoch die Pflicht auferlegt, »auf neuem Grund ein ganz neues Gebäude aufzuführen« (ebd., S. IX). — Es gilt zu bedenken, daß die moderne Idee von »Forschung« als aktiver Wissenserweiterung zu Jahns Zeit allenfalls fünfzig Jahre alt war. Vgl. dazu Axel Horstmann, Die Forschung in der Klassischen Philologie des 19. Jahrhunderts, in: Konzeption und Begriff der Forschung in den Wissenschaften des 19. Jahrhunderts, hrsg. Alwin Diemer (Studien zur Wissenschaftstheorie, 12), Meisenheim am Glan: Hain 1978, S. 27–57.

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  10. Noch Friedrich Chrysander, Georg Friedrich Händel, 3 Bände, Leipzig: Breitkopf & Härtel 1858, 1860 und 1867 (Reprint in 2 Bänden: Hildesheim: Olms/Wiesbaden: Breitkopf & Härtel 1966 und 1967), verzichtet in seiner unvollendeten Monographie auf eine grundsätzliche Diskussion der Forschung. Er wolle sie, erklärt er in der Vorrede zum ersten Band (1858), jeweils an entsprechendem Ort führen. Das aber ist — wissenschaftsgeschichtlich betrachtet — die alte, antiquarische Form der Auseinandersetzung. Da die im Folgenden genannten Mozart-Biographen hier nur als Typen interessieren, sind biographische Nachweise überflüssig.

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  11. Die theoretische Grundlegung des Historismus ist neben Wilhelm von Humboldts in Anm. 25 genannter Rede von 1821 Droysens Historik, vgl. Johann Gustav Droysen, Historik. Historisch-kritische Ausgabe, hrsg. Peter Leyh, BAND I (Rekonstruktion der ersten vollständigen Fassung der Vorlesungen [1857]. Grundriß der Historik in der ersten handschriftlichen [1857/1858] und in der letzten gedruckten Fassung [1882], Stuttgart-Bad Cannstatt: Frommann-Holzboog 1977; vgl. zu den hier genannten Schlüsselbegriffen jeweils das ausführliche Register, ebd., S. 494–532. Die besten modernen Darstellungen sind das Kapitel Die Formierung des Historismus, in: Ulrich Muhlack, Geschichtswissenschaft im Humanismus und in der Aufklärung. Die Vorgeschichte des Historismus, München: Beck 1991, S. 412–435;

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  12. sowie Fulvio Tessitore, Introduzione a lo storicismo (I Filosofi, 55), Roma/Bari: Laterza 1991.

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  13. Wilhelm von Humboldt, Ueber die Aufgabe des Geschichtschreibers [1821], in: Humboldt, Werke in fünf Bänden, hrsg. Andreas Flitner und Klaus Giel, Band I, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1960, S. 585–606.

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  14. »Erst das ganze Corpus giebt ein rechtes Bild«, bemerkt er am 14. Januar 1857 in einem Brief an Gustav Freytag auch über Beethovens Briefe (Otto Jahn in seinen Briefen [wie Anm. 1], S. 150). Von Mozarts Kompositionen hat er dank des Archivs des Offenbacher Musikverlegers André »weitaus die meisten in seiner Handschrift kennen gelernt« (Jahn, W. A. Mozart, Band I [wie Anm. 5], S. XXVII). — Spätestens seit Karl Lachmann, dessen philologisches Seminar Jahn 1833 besucht hatte, galt es in der Philologie als selbstverständlich, daß kritische Aussagen über antike Texte nur aus der Autopsie aller überkommenen Handschriften erwachsen könne; vgl. Peter Lebrecht Schmidt, Lachmann’s method: on the history of a misunderstanding, in: The uses of Greek and Latin: historical essays, hrsg. A. C. Dionisotti, Anthony Grafton und Jill Kraye (Warburg Institute surveys and texts, 16), London: Warburg Institute 1988, S. 227–236.

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  15. Jahn, W. A. Mozart, Band I (wie Anm. 5), S. XXXI. — Vgl. zum zeitgenössischen Ideal der »lebendigen Vergegenwärtigung«: Gerrit Walther, Der »gedrungene« Stil. Zum Wandel der historiographischen Sprache zwischen Aufklärung und Historismus, in: Historismus in den Kulturwissenschaften. Geschichtskonzepte, historische Einschätzungen, Grundlagenprobleme, hrsg. Otto Gerhard Oexle und Jörn Rüsen, Köln/Weimar/Wien: Böhlau 1996, S. 99–116.

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  16. Vgl. zu diesem Komplex: Carl Dahlhaus, Die Idee der absoluten Musik, Kassel: Bärenreiter/München: Deutscher Taschenbuch-Verlag 1978.

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  17. Weil Musik sich nach Georg Friedrich Wilhelm Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik [1835], hrsg. Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Band III (Hegel, Werke, 15), Frankfurt am Main: Suhrkamp 1970, S. 133 und 222, »das Subjektive als solches sowohl zum Inhalte als auch zur Form nimmt«, erleben die Hörer eines Virtuosen »das wundervolle Geheimnis, daß ein äußeres Werkzeug zum vollkommen beseelten Organ wird, und haben zugleich das innerliche Konzipieren wie die Ausführung der genialen Phantasie in augenblicklichster Durchdringung und verschwindendstem Leben blitzähnlich vor« sich.

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  18. Ebd., Band I, S. 484; vgl. auch Jahn, W. A. Mozart, Band III, Leipzig: Breitkopf & Härtel 1858, S. 429: »Das ist es, was die Werke genialer und schöpferischer Naturen als solche bezeichnet, daß auch in demjenigen, was nur als die Erfüllung eines gebotenen Gesetzes erscheint, sich die Freiheit einer selbständigen Individualität offenbart. Denn das, was als formale Vorschrift und abstracte Regel ausgesprochen und als solche erlernt und angewendet werden kann, ist ja nur der unvollkommene Ausdruck eines lebendigen Naturgesetzes, nach welchem die Dinge entstehen und sich entwickeln, das allem künstlerischen Schaffen zu Grunde liegt«.

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  19. Theodor W[iesengrund] Adorno, Ideen zur Musiksoziologie [1958], in: Adorno, Musikalische Schriften I–III (Gesammelte Schriften, 16), Frankfurt am Main: Suhrkamp 1978, S. 9–23, hier S. 17–18.

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  20. Wenn der Historiker verfolge, »wie die Menschen einer bestimmten Epoche gedacht und gelebt haben, dann findet er, daß […] jede Epoche ihre besondere Tendenz und ihr eigenes Ideal hat« (Leopold von Ranke, Über die Epochen der neueren Geschichte. Vorträge dem Könige Maximilian II. von Bayern gehalten, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1970, S. 7–8).

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  21. Vgl. Alfred Heuß, Theodor Mommsen als Geschichtsschreiber, in: Deutsche Geschichtswissenschaft um 1900, hrsg. Notker Hammerstein (Aus den Arbeitskreisen »Methoden der Geisteswissenschaften« der Fritz Thyssen Stiftung), Stuttgart: Steiner 1988, S. 37–95; hier S. 65–68 (mit dem Zitat von Eduard Meyer) und 78–82.

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Walther, G. (2000). Mozart und Methode. Otto Jahns Beitrag zur Begründung der modernen Musikgeschichtsschreibung. In: Gerhard, A. (eds) Musikwissenschaft — eine verspätete Disziplin?. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-03772-5_2

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