Skip to main content

Kleists Mittelalter-Phantasma

Zur Erzählung ›Der Zweikampf‹ (1811)

  • Chapter

Part of the book series: Kleist-Jahrbuch ((KLJA))

Zusammenfassung

In einem seiner atemlosen, gedrängten Sätze exponiert Kleist die Voraussetzungen seiner Erzählung von 1811. Ihr Kern — das mittelalterliche Ritual und seine Bedeutung — ist umstritten: Wie ernst kann es Kleist mit seiner eigenartigen Versuchsanordnung gewesen sein? Ist das ›Mittelalterliche‹ dieser Erzählung, das Gottesgericht zumal, bloße Drapierung, ist es ironisches Zitat oder was bedeutetet es sonst?

Herzog Wilhelm von Breysach, der, seit seiner heimlichen Verbindung mit einer Gräfin, namens Katharina von Heersbruck, aus dem Hause Alt-Hüningen, die unter seinem Range zu sein schien, mit seinem Halbbruder, dem Grafen Jakob dem Rotbart, in Feindschaft lebte, kam gegen Ende des vierzehnten Jahrhunderts, da die Nacht des hl. Remigius zu dämmern begann, von einer in Worms mit dem deutschen Kaiser abgehaltenen Zusammenkunft zurück, worin er sich von diesem Herrn, in Ermangelung ehelicher Kinder, die ihm gestorben waren, die Legitimation eines, mit seiner Gemahlin vor der Ehe erzeugten, natürlichen Sohnes, des Grafen Philipp von Hüningen ausgewirkt hatte (S. 229).1

This is a preview of subscription content, log in via an institution.

Preview

Unable to display preview. Download preview PDF.

Unable to display preview. Download preview PDF.

Anmerkungen

  1. Die Zeitangabe gehört auch zum historistischen Kolorit. Der Kommentar S. 909 weist auf die Parallelen »Montag nach Trinitatis« und »Montag nach Palmarum« (Kohlhaas). Doch als Bezugspunkt aller übrigen Datierungen bleibt die »Nacht des heiligen Remigius« ein »blinder Fleck der Lektüre, […] dessen Auflösung in Textsinn aber vom Text über sein Ende hinaus aufbehalten wird. (Na[i]cht des Verstehens)« — »Entzug[ ] von Bedeutung«. Vgl. Roland Reuß, »Mit gebrochenen Worten«. Zu Kleists Erzählung »Der Zweikampf«. In: Brandenburger Kleist-Blätter 7 (1994), S. 3–41;

    Google Scholar 

  2. Zum folgenden Ernst Schubert, Der Zweikampf. Ein mittelalterliches Ordal und seine Vergegenwärtigung bei Heinrich von Kleist. In: KJb 1988/89, S. 280–308.

    Google Scholar 

  3. Zweikampf-Motiv mit der Erzählung gemeinsam hat, so hat schon Sembdner 1939 die einschlägigen Texte miteinander konfrontiert: Heinrich Sembdner, Die Berliner Abendblätter Heinrichs von Kleist, ihre Quellen und ihre Redaktion, Berlin 1939, S. 199–217;

    Google Scholar 

  4. vgl. ders., Heinrich von Kleists unbekannte Mitarbeit an einem Hamburger Journal. In: Jb. d. Dt. Schillergesellschaft 25 (1981), S. 47–76. Hinzutreten weitere intertextuelle Beziehungen

    Google Scholar 

  5. vgl. Joachim Müller, Literarische Analogien in Heinrich von Kleists Novelle ›Der Zweikampfs Berlin 1969 (Sitzungsberichte der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig, Phil.-hist. Klasse, 114,4).

    Google Scholar 

  6. Bernd Fischer, Der Ernst des Scheins in der Prosa Heinrich von Kleists: am Beispiel des Zweikampfes. In: ZfdPH 105 (1986), S. 213–234;

    Google Scholar 

  7. hier S. 215. Daß dies parodiert werde, betont besonders Wolfgang Wittkowski, ›Die heilige Cäcilie‹ und ›Der Zweikampf‹. Kleists Legenden und die romantische Ironie. In: Colloquia Germanica 6 (1972), H. 1, S. 17–58;

    Google Scholar 

  8. vgl. Lothar Müller, Sonderbare Mißverständnisse. Zweideutigkeit, Täuschung und Fehlurteile bei Heinrich von Kleist. In: Johannes Janota (Hg.), Kultureller Wandel und die Germanistik in der Bundesrepublik. Vorträge des Augsburger Germanistentags 1991, Tübingen 1993, S. 193–202;

    Google Scholar 

  9. Reinhold Steig, Heinrich von Kleist’s Berliner Kämpfe, Berlin und Stuttgart 1901, S. 312;

    Google Scholar 

  10. Grundlegend zum gerichtlichen Zweikampf als Gottesurteil Hermann Nottarp, Gottesurteilstudien, München 1956 (Bamberger Abhandlungen und Forschungen 2);

    Google Scholar 

  11. Adalbert Erler, Gottesurteil, Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, Bd. 1, Sp. 1769–1773.

    Google Scholar 

  12. im Spiegel der Bezeichnungen für ›Kampf‹, Kämpfen, Waffen‹. In: Frühmittelalterliche Studien 18 (1984), S. 607–661;

    Google Scholar 

  13. — Rüdiger Schnell, Dichtung und Rechtsgeschichte. Der Zweikampf als Gottesurteil in der mittelalterlichen Literatur. In: Mitteilungen der Technischen Universität Carolo-Wilhelmina zu Braunschweig 18,2 (1983), S. 53–62 (allerdings geht es hier um kämpfende Frauen).

    Google Scholar 

  14. — Ders., Die Wahrheit eines manipulierten Gottesurteils. Eine rechtsgeschichtliche Interpretation von Konrads von Würzburg ›Engelhard‹. In: Poetica 16 (1984), S. 24–60;

    Google Scholar 

  15. — Zur Kritik schon im Frühmittelalter: Wolfgang Schild, Das Gottesurteil der Isolde. Zugleich eine Überlegung zum Verhältnis von Rechtsdenken und Dichtung. In: Alles was Recht war. Festschrift für Ruth Schmidt Wiegand, hg. von Hans Höfinghoff u.a., Essen 1996, S. 55–75, hier S. 62f.;

    Google Scholar 

  16. Zum Wahrheitsproblem bei Kleist: Donald P. Haase und Rachel Freudenburg, Power, Truth, and Interpretation. The Hermeutic Act and Kleist’s ›Die heilige Cäcilie‹. In: DVjS 60 (1986), S. 88–103.

    Article  Google Scholar 

  17. Vgl. Gerhard Neumann, Eselsgeschrei und Sphärenklang. Zeichensystem der Musik und Legitimation der Legende in Kleists Novelle ›Die heilige Cäcilie oder die Gewalt der Musik‹, in: Ders. (Hg.), Heinrich von Kleist. Kriegsfall — Rechtsfall — Sündenfall, Freiburg 1994 (Rombach Litterae 20), S. 365–389;

    Google Scholar 

  18. vgl.: Ders., Ritualisierte Kontingenz. Das paradoxe Argument des ›Duells‹ im ›Feld der Ehre‹ von Casanovas ›Il duello‹ (1780) über Kleists ›Zweikampf‹ (1811) bis zu Arthur Schnitzlers Novelle ›Casanovas Heimfahrt‹ (1918). In: Gerhart von Graevenitz und Odo Marquard (Hg.), Kontingenz, München 1998 (Poetik und Hermeneutik 17), S. 343–372, hier S. 357.

    Google Scholar 

  19. Barbara Belhalfoui, ›Der Zweikampf‹ von Heinrich von Kleist oder die Dialektik von Absolutheit und ihrer Trübung. In: Études germaniques 36 (1981), S. 22–42;

    Google Scholar 

  20. vgl. Petra Perry, Möglichkeit am Rande der Wahrscheinlichkeit: Die »fantastische Situation« in der Kleistschen Novellistik, Ann Arbor 1987, S. 98f.

    Google Scholar 

  21. Howard Bloch, Etymologies and Genealogies. A Literary Anthropology of the French Middle Ages, Chicago und London 1983.

    Google Scholar 

  22. Neumann sieht das Zweikampfmotiv zentral mit »der Frage nach der genealogisch begründeten Identität, der Kleistschen Identitätsformel schlechthin« verknüpft, wobei die genealogische Identität freilich ›infiziert‹ sei. Vgl. Neumann 1998 (wie Anm. 12), S. 355.

    Google Scholar 

  23. Anders Linda C. Demerit, The Role of Reason in Kleist’s ›Der Zweikampf. In: Colloquia Germanica 20 (1987), S. 38–52. Demerit sieht — in der Tradition Gerhard Frickes — im Durchbruch des ›innersten Gefühls‹ die von Gott garantierte Wahrheit bestätigt (S. 47).

    Google Scholar 

  24. Hans Peter Ecker, Die Legende. Kulturanthropologische Annäherungen an eine literarische Gattung, Stuttgart und Weimar 1993. Ecker entwickelt brauchbare Kriterien für die Legende im Kontext von Hochreligionen (S. 137–145), und zwar in Abgrenzung von verwandten Gattungen, verkennt aber die literarischen Möglichkeit, mit dem eruierten strukturell-funktionalen Modell zu spielen. So kann er die literarische Substitution einzelner Elemente und die Subvertierung des Legendenschemas nur als Ironisierung des religiösen Gehalts fassen. Ihm entgeht, daß Kleist das Schema aufruft, um es — jedoch gänzlich unironisch — in einer entscheidenden Funktion (›Reduktion kognitiver Dissonanz‹) leerlaufen und mithin das legendarische Sinnversprechen frustrieren zu lassen.

    Google Scholar 

  25. vgl. zum Inhalt Jacobi a Voragine ›Legenda aurea vulgo Historia lombardica dicta, rec. Theodor Graesse, 31890 (Nachdr. 1965);

    Google Scholar 

  26. auf dt. zugänglich in: Iacobus de Voragine Legenda aurea, dt. von Richard Benz, 2 Bde., Jena 1921, Bd. I, Sp. 146–149;

    Google Scholar 

  27. Bei näherem Zusehen verliert das Datum ›Nacht zum 1. Oktober‹ seine Eindeutigkeit. Der 1. Oktober ist bis heute im Römischen Kalender das Fest des hl. Remigius. Entsprechend wird seine Legende in der ›Legenda aurea‹ des Jacobus a Voragine in der Reihe der Heiligenfeste des Oktober erzählt. Jacobus macht aber darauf aufmerksam, daß dieses Fest an die wunderbare Bestattung des Heiligen erinnere, nicht an seinen Tod, dessen an einem Tag im Januar gedacht werde (Iacobus de Voragine 1921, wie Anm. 39, Bd. II, Sp. 239). Dementsprechend findet sich im ersten Teil der ›Legenda aurea‹ im Anschluß an die Legende des Erz-Eremiten Paulus (15. Januar) ein weiterer Abschnitt aus der Lebensgeschichte des Heiligen. Das Januarfest ist nach dem Tridentinum verschwunden. Doch ist »gegen Ende des vierzehnten Jahrhunderts« die Zeitangabe »Fest des hl. Remigius« nicht völlig eindeutig. Daß Kleist dies wußte, ist freilich eher unwahrscheinlich.

    Google Scholar 

  28. der Lesungstext: »Ich rief zum Herrn, dem Vater meines Herrn, daß er mich nicht verlasse am Tage meiner Trübsal, zur Zeit, da die Übermütigen mich verfolgen. […] Du hast mich bewahrt vor dem Untergang und aus schlimmer Zeit mich errettet« (Eccl. 51: Inuocaui Dominum patrem Domini mei, vt non me relinquat in die tribulatione meae. et in tempore superborum sine adiutorio. […] Liberasti me de perditione, et eripuisti me de tempore iniquo): Missale Romanum ex decreto sacrosancti Concilii restitutum […], Antwerpen 1618, S. XXVI. Zu Margarethe vgl. Biblioteca sanctorum, Bd. 8, Rom 1966 s.v. Marina Sp. 1150–1165.

    Google Scholar 

  29. vgl. Bettine Menke, Sturm der Bilder und zauberische Zeichen. Kleists ›Die heilige Cäcilie oder die Gewalt der Musik. Eine Legende‹. In: Hendrik Birus (Hg.), Germanistik und Komparatistik (DFG-Symposion 1993), Stuttgart und Weimar 1995, S. 209–245, hier S. 209f.;

    Google Scholar 

  30. Er ist der ›blitzhafte‹ Einschlag, der die falsche Konstellation der Zeichen zerstört und den richtigen Text wiederherstellt. Vgl. Neumann 1994 (wie Anm. 12), S. 373.

    Google Scholar 

Download references

Authors

Editor information

Günter Blamberger

Rights and permissions

Reprints and permissions

Copyright information

© 1998 Springer-Verlag GmbH Deutschland

About this chapter

Cite this chapter

Müller, JD. (1998). Kleists Mittelalter-Phantasma. In: Blamberger, G. (eds) Kleist-Jahrbuch 1998. Kleist-Jahrbuch. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-03755-8_1

Download citation

  • DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-476-03755-8_1

  • Publisher Name: J.B. Metzler, Stuttgart

  • Print ISBN: 978-3-476-01626-3

  • Online ISBN: 978-3-476-03755-8

  • eBook Packages: J.B. Metzler Humanities (German Language)

Publish with us

Policies and ethics