Zusammenfassung
Hat auch das lyrische Spätwerk in der Heine-Forschung in den letzten Jahren verstärkt Aufmerksamkeit gefunden, so blieben doch die ›historischen‹ Gedichte dabei relativ vernachlässigt. Hartmut Steinecke führt dies auf drei Vorurteile zurück:
These three widespread prejudices — that the thematization of history represents an escapist response to the present, that the concern with foreign cultures indicates a withdrawal from German problems, and that Heme’s pessimism about history results from an old man’s resignation — form the decisive reasons for the marginalization of the »historical« poem in Heine research.1
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Anmerkungen
Hartraut Steinecke: »The Lost Cosmopolite«: Heme’s Images of Foreign Cultures and Peoples in the Historical Poems of the Late Period. — In: Heinrich Heine and the Occident. Multiple Identities, Multiple Receptions, hrsg. von Peter Uwe Hohendahl und Sander L. Gilman. Lincoln und London 1991, S. 139–162, hier S. 146.
Ebd., S. 122. Zu den von Höhn angesprochenen ›aktuellen Phänomenen‹ vgl Andreas Böhn: Mythos, Geschichte, Posthistoire. Remythologisierung als Folge des Abschieds von der (Literatur-) Geschichte? — In: Literaturgeschichte als Profession, hrsg. von Harmut Laufhütte. Tübingen 1993, S. 423–446.
Christoph Jamme: »Gott an hat ein Gewand«. Grenzen und Perspektiven philosophischer Mythos-Theorien der Gegenwart. Frankfurt/M. 1991, S. 255f. Jamme bietet einen auf die aktuelle Diskusssion und die Bedingungen der Rezeption des Mythos in der Moderne hin perspektivierten Überblick über die Mythos-Forschung.
Die Metapher der ›Verschränkung‹ ist im folgenden zu erläutern. Das Gemeinte geht aber jedenfalls über die Einschätzung Benno von Wieses hinaus, daß »sich Mythisierung und Entmythisierung in Heines später Lyrik die wohl ausbalancierte Waage« halten (Benno von Wiese: Mythos und Historie in Heines später Lyrik. — In: Internationaler Heine-Kongreß Düsseldorf 1972. Referate und Diskussionen, hrsg. von Manfred Windfuhr. Hamburg 1973, S. 121–146, hier S. 134).
Vgl. Markus Winkler: Mythisches Denken zwischen Romantik und Realismus. Zur Erfahrung kultureller Fremdheit im Werk Heinrich Heines. Tübingen 1995, S. 212–231.
Markus Küppers: Heinrich Heines Arbeit am Mythos. Münster u. New York 1994, S. 288.
Auch John C. Pettey spricht von »mutual misunderstanding« (John Carson Pettey: Anticolonialism in Heine’s »Vitzliputzli«. — In: CollGerm 26. 1993, S. 37–47).
Es ist allerdings, wie ich meine, eine Überinterpretation dieser Relativierung, wenn man in ihr gleich ein Modell interkultureller Wechselwirkung sehen wollte, wie dies Susanne Zantop tut (Susanne Zantop: Colonialism, Cannibalism, and Literary Incorporation: Heine in Mexico. — In: Heinrich Heine and the Occident. Multiple Identities, Multiple Receptions, hrsg. von Peter Uwe Hohendahl und Sander L. Gilman. Lincoln und London 1991, S. 110–138). Zantop extrahiert aus Heines Text ein allgemeines Modell von ›Kannibalismus‹ als Einverleibung einer Kultur durch eine andere, das im zwanzigsten Jahrhundert im Zusammenhang mit lateinamerikanischer Identitätsfindung entwickelt wurde. Das Konzept als solches kann sicherlich als Basis einer Rezeptionstheorie dienen, wozu es von Zantop im Hauptteil ihres Aufsatzes auch genutzt wird. Aus »Vitzliputzli« ist es aber nicht analytisch, sondern nur metaphorisch-assoziierend zu entwickeln, so daß Zantop eine Brücke von dem Gedicht zu den Eigentümlichkeiten seiner mexikanischen Rezeption schlagen und Heine eine weitere Nuance bislang unentdeckter Modernität zuschreiben kann. Die historische Bedingtheit und individuelle Besonderheit von Heines Behandlung des aztekischen Mythos erhellt das moderne Konzept des ›Kannibalismus‹ aber nicht.
Das Moment des Komischen, das sich mit diesem und anderen Details verbindet und das zu der Grausamkeit des vorangehenden Opfers einen starken Kontrast bildet, bestätigt Steineckes allgemeine Einschätzung der ›historischen‹ Gedichte: »It is only a step from the sublime to the ridiculous: these words of Napoleon’s are known to have been one of Heine’s favorite quotations, and they fittingly describe one of his most important poetic techniques. Heine’s historical poetry shows that from the horrible and macabre of world history it is only a short step to the laughable.« (Steinecke [Anm. 1], S. 141). Schon Preisendanz hat gezeigt, daß bei Heine und insbesondere in der späten Lyrik »die Vermischtheit von Sublimem und Groteskem wie die Verbindung des Pathetischen mit dem Komischen als Grundmuster des Wirklichen anvisiert und als Vorwurf poetischer Darstellung proklamiert werden.« (Wolfgang Preisendanz: Heinrich Heine. Werkstrukturen und Epochenbezüge. 2. verm Aufl. München 1983, S. 126).
Derartige Überlegungen bleiben von den neueren Erkenntnissen über Heines Krankheit, nach denen es sich wahrscheinlich nicht um Syphilis handelte, unberührt; vgl. Henner Montanus: Der kranke Heine. Stuttgart 1995.
Keinesfalls bieten sie einen ›Schlüssel‹ für den Gesamttext, wie dies Rüdiger nahelegt (Horst Rüdiger: Vitzliputzli im Exil. — In: Untersuchungen zur Literatur als Geschichte. Festschrift für Benno von Wiese, hrsg. von Vincent J. Günther u. a. Berlin 1973, S. 307–324). Pettey [Anm. 17] zieht neben der Syphilis auch die negativen Auswirkungen des Kolonialismus und die Inquisition in Betracht, um zu deuten, was nun genau unter der Rache Vitzliputzlis zu verstehen sei Von Heines Mythostheorie her gesehen drängt sich eine viel textnähere Interpretation der ›Verteufelung‹ auf, die sich zudem mit dem zumindest regional verbreiteten volkstümlichen Bild von Vitzliputzli als einer Schreckgestalt trifft und somit auch Heines Tendenz zur Aufwertung des Volksglaubens entspricht.
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Böhn, A. (1999). Der fremde Mythos und die Mythisierung des Fremden. In: Kruse, J.A., Witte, B., Füllner, K. (eds) Aufklärung und Skepsis. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-03751-0_24
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