Zusammenfassung
Das, worin ich neu bin, worin ich Epoche mache in der deutschen Literatur, und mir keiner […] gleichkommt, ist meine Naturpoesie.1 Mit diesen vollmundigen Worten, sie gehören zu den vergleichsweise spärlich überlieferten poetologischen Äußerungen des Dichters, beschreibt Nikolaus Lenau (1802–1850) 1839 seinen vermeintlichen Rang innerhalb der Literaturgeschichte. Man wird ihm insofern zustimmen, als er mit einigen Dutzend seiner Gedichte jedenfalls nicht als (Vers-)Epiker oder Dramatiker in die Anthologien eingegangen ist. Nach seinem frühen Tod im Gefolge jahrelangen Dahinsiechens hinter den Mauern einer »psychiatrischen« Anstalt begann die Nachwelt, aus seinem Werk in immer neuen Auflagen bestimmte Gedichte zu re-edieren und zu rezitieren. Um die Jahrhundertwende, als binnen zweier Jahre Geburts- und Todestag runde Zahlen erreichten, feierte ihn ein durchaus emsiger Literatur- und Wissenschaftsbetrieb, Dutzende von Dissertationen entstanden, und von 1910 an wurde die große, für Jahrzehnte maßgebliche Werkausgabe von Eduard Castle ediert. Bis etwa 1920, als sich mit Kriegsende und sozialpolitischem Wandel auch neue ästhetische Werte und die Abkehr von der Einfühlungsästhetik und nachromantischem Gedankengut einstellten, befanden sich Lenaus Leben und Werk in der Hand einer großen akademischen Gemeinde und gerieten zum Gegenstand zahlreicher künstlerischer Auseinandersetzungen.2 Neben diversen Einzelgedichten sind es besonders die fünf »Schilflieder«, welche den Ruf des Lyrikers zu begründen halfen und bis heute als stimmungsintensive Naturpoesie in Erinnerung geblieben sind.
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Notizen
Lenau und die Familie Löwenthal. Briefe und Gespräche, Gedichte und Entwürfe, hrsg. von Eduard Castle, Leipzig 1906, S. 104f.
Vgl. Rainer Hochheims extensive Studie Nikolaus Lenau. Geschichte seiner Wirkung 1850–1918, (Diss. Phil. Bonn 1980), Frankfurt 1982. Hier wird selbst noch inmitten der aufwendigen und sachlich vollzogenen Erarbeitung des recherchierbaren Materials etwas vom nachwirkenden Nimbus des Naturlyrikers Lenau spürbar: Nikolaus Lenaus große lyrische Fähigkeiten werden in dem von uns untersuchten Zeitraum weder in der literarischen Kritik noch in der Literaturgeschichtsschreibung bestritten. Denn gemeinhin denkt man, wenn sein Name fällt, an seine unvergessenen lyrischen Meisterleistungen, für die die »Schilflieder« stellvertretend genannt werden können. Lenausche Werke dieser Art hatten einen Siegeszug durch die Literaturgeschichte angetreten, wurden vielfach vertont und gehören noch heute zum Hausschatz der deutschen Lyrik. (S. 131).
Ernst Hilmars dankbare Aufstellung aller belegbaren Vertonungen der Lyrik Nikolaus Lenaus, in: Lenau-Almanach 1969/75, Wien 1975, S. 51–123 wäre heute um kaum einen Titel zu ergänzen.
Vgl. stellvertretend Othmar Dorazil, Beobachtungen und Untersuchungen zur Musikalität in Lenaus Lyrik, Diss. Phil. Wien 1932
Konrad Huschke, Lenau und die Musik, Regensburg 1934.
Vgl. Ulrich Thieme, Studien zum Jugendwerk Arnold Schönbergs. Einflüsse und Wandlungen, (Diss. Phil. Köln, = Kölner Beiträge zur Musikforschung, Bd. 107), Regensburg 1979, S. 70–77.
Nikolaus Lenau, Werke und Briefe. Historisch-kritische Gesamtausgabe, Band 1, Wien 1995, S. 400 (alle folgenden Zitate nach dieser Ausgabe, soweit nicht anders angegeben).
Hans-Georg Werner, Lenaus »Schilflieder«. Thesen für eine wirkungsästhetische Interpretation, in: Merkurs ‘77, hrsg. von Dietrich Löffler und Dieter Bähtz, Halle 1978, S. 5–22, dort S. 11.
Hans Heinrich Eggebrecht, Sinn und Gehalt, Wilhelmshaven 21985, S. 213.
Heinrich Bischoff, Nikolaus Lenaus Lyrik. Ihre Geschichte, Chronologie und Textkritik, Berlin 1920, Bd. 1, S. 202.
Eine Ausnahme von der üblichen Praxis besteht darin, daß das Titelblatt sowohl das Kompositions- als auch das Veröffentlichungsjahr nennt: 1877 geschrieben, wurden die Lieder ein Jahr später im Verlag von J. Rieter-Biedermann (Pl.-Nr. 998 a-e) gedruckt. Im folgenden wird bei der Schreibweise verdeutlichend zwischen »Schilfliedern« als Teilsammlung der Lenauschen Gedichte und Schilfliedern als individuellem Werktitel für ein Liederheft unterschieden.
Auf die etymologische, altgermanisch verwurzelte Gemeinsamkeit von »See« und «Seele« hat Gerhard Kaiser aufmerksam gemacht: Augenblicke deutscher Lyrik Gedichte von Martin Luther bis Paul Celan, Frankfurt am Main 1987, S. 240.
In: Hermann Kretzschmar, Gesammelte Aufsätze über Musik und anderes aus den Grenzboten, Leipzig 1910, S. 1–35, dort S. 29.
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Wiegandt, M. (1997). Genrebilder? Traurige Liebesgeschichte? Zyklus?. In: Günther, G., Nägele, R. (eds) Musik in Baden-Württemberg. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-03725-1_4
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