Zusammenfassung
Schon als Autor der »Reisebilder« und des »Buchs der Lieder« schlüpfte Heine — trotz oder möglicherweise gerade wegen der unmittelbaren Anrede seines Publikums und der dadurch gestifteten Nähe — in verschiedenste Rollen (durch die er sich halb auch wieder entzog), entwarf er die unterschiedlichsten Bühnenprospekte, aus deren Kulissen er als ernsthafter Partner seiner Leser oder ironischer Unterhalter hervortrat oder in die er sich zurückzog. Die Rollen konnten phantastische Entwürfe oder Identifikationen mit literarischen oder historischen Vorbildern sein. Sie waren allen Epochen und Weltreligionen entlehnt und für die zeitgenössischen Leser entschlüsselbar als Solidarisierungs- oder Identifikationsmuster, nach denen der Schriftsteller Heine seine privaten Befindlichkeiten in Beziehung setzte zu den politischen und sozialen Zuständen der Zeit. Als Graf vom Ganges in »Ideen. Das Buch Le Grand«, als Hofnarr Kunz von der Rosen im »Schlußwort« von »Reisebilder« IV, als sterbender Fechter im »Buch der Lieder«1 wechselte er die Masken je nach biographischer Station und Aussageabsicht. Ständig perfektionierte er seinen Anspielungsreichtum. Vergleiche und Identifizierungen mit dem Don Quijote oder dem Tannhäuser, mit dem Propheten Arnos oder dem Reformator Martin Luther, mit dem Messias bzw. Jesus von Nazareth, mit Aristophanes, Lessing und Goethe, mit Merlin oder dem aussätzigen Kleriker aus der Limburger Chronik, mit dem König Nebukadnezar und Hiob aus dem Alten oder dem Verlorenen Sohn und den Lazarus-Gestalten aus dem Neuen Testament knüpfen ein assoziatives Netz historischer, poetischer und individueller Anspielungen, die für den Dichter selber gerade in der Spätzeit als lebensnotwendige Stilisierungen gebraucht werden.
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Anmerkungen
Jacques Hillairet: Dictionnaire Historique des Rues de Paris. 2 Bde., Paris 61976, Supplbd. (zusammen mit Pascal Payen-Appenzeller), Paris 21975; hier Bd. I, S. 500 (La Maison de Saint-Lazare, Faubourg-Saint-Denis Nr. 99–105); Bd. II, S. 453–455 (rue Saint-Lazare).
Dolf Oehler: Ein Höllensturz der Alten Welt. Zur Selbsterforschung der Moderne nach dem Juni 1848. Frankfurt am Main 1988, S. 248 (das IV Kapitel des 2. Teiles ist Heines Spätzeit und seiner Lazarus-Rolle gewidmet: »Letzte Worte — Die Lektion aus der Matratzengruft«, S. 239–267).
Vgl. Pierre Larousse: Grand Dictionnaire Universel du XIXe Siècle, Bd. X, Paris 1873, S. 280.
Vgl. Norbert Schöll: »Ich bin der Krankste von Euch allen«. Zum Stil in Heines Berichten über das Zeitgeschehen. — In: HJb 19 (1980), S. 49–68.
Vgl. Manfred Windfuhr: Heinrich Heine. Revolution und Reflexion. Stuttgart 21976, S. 109, der sich auf den Medizinhistoriker Hans Schadewaldt, Düsseldorf, berufen kann. — Zur gesamten Krankheitsgeschichte vgl. Gerhard Höhn: Heine-Handbuch. Zeit, Person, Werk. Stuttgart 1987, S. 114; s. auch Arthur Stern: Heinrich Heines Krankheit und seine Ärzte. — In: HJb 3 (1964), S. 63–79. — Zuletzt Henner Monta-nus: Der kranke Heine. Stuttgart u.a. 1995 (= Heine-Studien) und die ausführliche Rezension des Buches von Ch. auf der Horst und A. Labisch in: HJb 35 (1996).
Vgl. z.B. Peter Henisch: Hamlet, Hiob, Heine. Gedichte. Salzburg und Wien 1989 (mit Heine-Parodien bzw. -Paraphrasen).
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Kruse, J.A. (1997). Heinrich Heine — Der Lazarus. In: Heine-Zeit. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-03693-3_11
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