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Zusammenfassung

Nach fast vierzig Jahren kehrt Momigliano in diesem Artikel zu Johann Gustav Droysen zurück, den er schon in den dreißiger Jahren gleich zweimal (vgl den vorhergehenden Beitrag*) eingehend behandelt hatte. Diesmal beschränkt er sich auf Droysens eigenes Konzept des Hellenismus, das er einer methodologisch stringenten, wissenschaftlich souveränen, gleichzeitig aber menschlich außerordentlich einfühlsamen Analyse unterzieht. Das Ergebnis ist eine der gelungensten wissenschaftshistorischen Darstellungen, die wir Momigliano verdanken, ein brillantes Beispiel der wechselseitigen Erhellung verschiedenartiger Ansätze in der Wissenschaftsgeschichte.

Das Kernproblem, von dem Momigliano ausgeht, ist der Widerspruch zwischen der Tatsache einerseits, daß Droysens Konzept des Hellenismus — als einer Übergangsperiode zwischen der klassischen griechischen Kultur und dem Christentum, wodurch die christliche Religion durch den Kontakt zwischen der griechischen und den orientalischen Religionen ohne wesentliche Beeinflussung durch das Judentum entstand — nicht nur politischer, sondern vor allem kultureller-religiöser Natur war, und dem Befund andererseits, daß Droysens Geschichte des Hellenismus vor allem in der zweiten Ausgabe im wesentlichen ausschließlich politische Geschichte erzählt und die ganze kulturelle Seite, die eigentlich die ausschlaggebende hätte sein müssen, unterschlägt. Wie kann man ein solches Schweigen erklären?

Die Antwort auf diese Frage ist deshalb besonders wichtig, weil auch späteren Forschern die Synthese dieser beiden Forschungsrichtungen — hellenistische Religion einerseits, hellenistische politische Geschichte andererseits — nicht mehr gelang. Momigliano erwägt frühere Lösungsansätze, die auf Droysens Entdeckung der Bedeutung des makedonischen Heers und seine Übertragung dieser Entdeckung auf die preußischen Zustände hinwiesen, wendet sich dann aber psychologischen Erklärungsmustern zu, um zu einerfundamentaleren Antwort zu gelangen. Er macht auf den Klassizismus Droysens aufmerksam, der ihn die athenische Dichtung des 5. Jahrhunderts v. Chr. gegenüber der alexandrinischen Literatur der hellenistischen Zeit bevorzugen ließ, aber vor allem weist er auf die große Anzahl von getauften Juden innerhalb Droysens unmittelbarem Familienkreis hin und betont das Tabu, das damals in solchen Zirkeln gegenüber dem Ansprechen jüdischer Themen vor einer christlichen Öffentlichkeit bestand. Droysen selbst war ein überzeugter Christ; aber nachdem er ab etwa 1838 angefangen hatte, sich mit der neueren Forschung zum Verhältnis zwischen Judentum und Christentum bekannt zu machen, brach er die Beschäftigung mit diesem Thema — vermutlich aus Rücksicht auf seine Verwandten — ab.

So hängt für Momigliano die Tatsache, daß Droysens Geschichte ein Torso geblieben ist, aufs engste zusammen mit der historischen Unmöglichkeit, die Juden in das deutsche Geistesleben voll einzugliedern. Droysens Werk bleibt eines der größten Denkmäler der deutschen Geschichtsschreibung gleichzeitig aber trägt es die Zeichen einer tiefen Verletzung, und diese Verletzung heißt Judentum.

Droysen bleibt ein zentraler Bezugspunkt der neueren wissenschaftshistorischen Forschung, auch wenn nur selten die Tiefe und die Menschlichkeit von Momiglianos Analyse wieder erreicht wurde.**

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Anmerkungen

Notizen

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Notizen

  1. Zu Droysen s. zusätzlich zu den Arbeiten, die im Laufe des Textes und der Anmerkungen zitiert werden, insbesondere O. Hintze, Allgemeine Deutsche Biographie, Bd. XLVIII, Berlin 1904, wieder in Ders., Gesammelte Abhandlungen, Bd. II, 2. Aufl. Göttingen 1964, 453–499 (vgl. auch den jüngeren, dort 500–518 nachgedruckten Aufsatz von 1930); und G. Droysen, J. G. Droysen, Bd. I, Leipzig und Berlin 1910. Hintze und G. Droysen sprechen von Droysens politischer Aktivität (letzterer nur bis 1848); R. Hübner, J. G. Droysens Vorlesungen über Politik, Zeitschrift für Politik 10, 1917, 325–376; H. Astholz, Das Problem ‹Geschichte› untersucht bei J. G. Droysen, Berlin 1933; J. Wach, Das Verstehen, Bd. III, Tübingen 1933; H. Diwald, Das historische Erkennen, Leiden 1955, 50–76; W Hock, Eberales Denken im Zeitalter der Paulskirche: Droysen und die Frankfurter Mitte, Münster 1957; P. Hünermann, Der Durchbruch geschichtlichen Denkens im 19. Jahrhundert, Freiburg 1967, 49–132. Unter den allgemeinen Geschichten der Historiographie ist zu Droysen noch immer am besten G. von Below, Die deutsche Geschichtsschreibung von den Befreiungskriegen bis zu unsern Tagen, Leipzig 1915, 2. Aufl. München und Berlin 1924, 48–50. Eine Kritik Droysens aus dem Blickwinkel der Ideologie des Heiligen Römischen Reiches unternimmt H. von Srbik, Geist und Geschichte vom deutschen Humanismus bis zur Gegenwart, Bd. I, Salzburg 1950, 367–377. Vgl. auch G. G. Iggers, The German Conception of History, Middletown/Conn. 1968, 104–119.

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  2. Vgl. J. G. Droysen, Geschichte der Nachfolger Alexanders, Hamburg 1836, Vorrede, XV–XVI, der zumindest auf literarischem Gebiet sogar die Byzantinische Geschichte in den Begriff des Hellenismus einbezieht.

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  3. Mein Contributo alla storia degli studi classici, Rom 1955, 165–193 und 263–273 (mit Bibliographien) enthält zwei Aufsätze, die ich zwischen 1933 und 1934 geschrieben habe und die diesem Aspekten Droysens gewidmet sind [der erstgenannte Aufsatz, s. S. 113ff. in diesem Band].

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  4. Zu einem erneuten Überdenken der Vorstellung vom Hellenismus bei Droysen bin ich durch das Erscheinen eines bemerkenswerten Buches über ihn veranlaßt worden, das Benedetto Bravo, ein in Polen lehrender Italiener, veröffentlicht hat: Philologie, histoire, philosophie de l’histoire: Etude sur J. G. Droysen, historien de l’antiquité, Warschau 1968. Einige Bemerkungen, die ich in einer Rezension dieses Buches in Rivista Storica Italiana 1969 formuliert habe, wurden zum Ausgangspunkt für einen Artikel über Hellenismus und Gnosis: Randbemerkungen zu Droysens Geschichte des Hellenismus, der 1970 in dem als Festschrift für Joseph Vogt angelegten Jahresband der Zeitschrift Saeculum (21, 1970, 185–188) erschienen ist.

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  8. Vgl. D. Heinsius, Aristarchus Sacer, in: ders., Sacrorum Exercitationum ad Novum Testamentum libri XX, Leiden 1639, 653, 668 u. ö. Die Geschichte dieses Disputes verdiente, genauer erforscht zu werden.

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  10. Vgl. J. G. Droysen, Briefwechsel, hg. v. R. Hübner, Bd. I, Berlin und Leipzig 1929, 119 (Brief an F. Perthes vom 8. Februar 1837), wo Droysen das Motto zitiert: »Das wahre Faktum steht nicht in den Quellen«. Man beachte auch die signifikante Episode in O. Hintze, Allgemeine Deutsche Biographie a. a. O. 98, und allgemein G. Birtsch, Die Nation als sittliche Idee: Der Nationalstaatsbegriff in Geschichtsschreibung und politischer Gedankenwelt J. G. Droysens, Köln 1964.

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  11. J.G. Droysen, Historik, hg. v. R. Hübner, München und Berlin 1937, 425–428. Vgl. O. Hintze, Allgemeine Deutsche Biographie a. a. O. 88; G. von Below, Die deutsche Geschichtschreibung von den Befreiungskriegen bis zu unsern Tagen, Leipzig 1915, 2. Aufl. München und Berlin 1924, 48; Th. Schieder, Neue Deutsche Biographie, Bd. IV, Berlin 1959, 135.

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  17. C. Wehmer, Ein tief gegründet Herz: Der Briefwechsel Felix Mendelssohn-Bartholdys mit Johann Gustav Droysen, Heidelberg 1959 fügt dem Material, das sich bereits bei J. G. Droysen, Briefwechsel, hg. v. R. Hübner, Berlin und Leipzig 1929, findet, nichts hinzu.

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  25. Hans Liebeschütz, Das Judentum im deutschen Geschichtsbild von Hegel bis Max Weber, Tübingen 1967, zu Droysen 86–90; M. A. Meyer, The Origins of the Modern Jewish Identity and European Culture in Germany, 1749–1824, Detroit 1967. Zur politischen Seite s. H. Fischer, Judentum, Staat und Heer in Preußen im frühen 19. Jahrhundert, Tübingen 1968. Vgl. auch die Einführung von K. Wilhelm zu den ausgewählten Schriften über Wissenschaft des Judentums im deutschen Sprachbereich, 2 Bde., Tübingen 1967.

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  26. Vgl. K. Rudolph, Die Mandäer, Göttingen 1960 mit einer Zusammenfassung der Frage.

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  27. Vgl. die wichtige Rezension dieses Werkes von O. Murray, Classical Review 19, 1969, 69–72 mit weiteren Literaturangaben zum Hellenismus.

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  28. Cl. Préaux, Réflexions sur l’entité hellénistique, Chronique d’Egypte 40, 1965, 129–139 und allgemein alle historischen Untersuchungen dieser Autorin, angefangen mit L’Economie royale des Lagides, Brüssel 1939; S. K. Eddy, The King is Dead- Studies in the Near Eastern Resistance to Hellenism, 334 – 31 B. C., Lincoln/Nebraska 1961. Zu neuen Gesichtspunkten s. R. Pfeiffer, Ausgewählte Schriften, München 1960, 148–158; P. Lévêque, Le Monde hellénistique, Paris 1969. Das Standardwerk zur politischen Geschichte des Hellenistischen Zeitalters ist jetzt E. Will, Histoire politique du monde hellénistique, 2 Bde., Nancy 1966–67. Eine Sonderstellung hat L. Robert inne, dessen Beiträge zu unserem Wissen über alle Aspekte des Hellenismus durch seine Arbeiten zu den Inschriften unschätzbar sind; s. insbesondere seine Reihe Hellenica, Paris 1941ff. [Vgl. K. Christ, Von Gibbon zu Rostovtzeff, Darmstadt 1972, 50–67.]

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Momigliano, A. (2000). Johann Gustav Droysen zwischen Griechen und Juden. In: Most, G.W. (eds) Ausgewählte Schriften zur Geschichte und Geschichtsschreibung. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-03684-1_9

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