Zusammenfassung
Schon neun Jahre nach der Veröffentlichung des vorhergehenden Beitrags kehrte Momigliano 1942 zu Rostovtzeff zurück. Anlaß war Rostovtzeffs im Jahr zuvor veröffentlichte Social and Economic History of the Hellenistic World. Diesmal unterzog er das von ihm erörterte Meisterwerk einer noch tiefschürfenderen, brillanten Analyse, in der es ihm gelang, nicht nur auf eine grundsätzliche Spannung in Rostovtzeffs Darstellung der hellenistischen Welt aufmerksam zu machen, sondern diese Spannung sowohl historisch in die Wesensart dieser Epoche als auch wissenschaftshistorisch in die Geschichte von deren Behandlung einzuordnen.
Die Kapitel 3 bis 6 des Werks Rostovtzeffs, in denen die hellenistische Welt nicht so sehr für sich verstanden, sondern eher mit Blick auf die Konsequenzen der Einwirkung Roms auf sie betrachtet wird, deutet Momigliano nämlich als eine endgültige Beantwortung der alten Streitfrage — ob Rom ein vitales Griechenland zerstörte oder ob Griechenland vielmehr zur Zeit der römischen Eroberung schon nicht mehr lebensfähig war — im Sinne der ersteren Alternative. Rostovtzeffs Ansatz dabei im wesentlichen an Verwaltung und Institutionen orientiert; Rom wird als aktiv, die hellenistische Welt als passiv verstanden. Dagegen fragt Rostovtzeff in seinem »Zusammenfassung und Nachwort« betitelten Schlußkapitel nach dem Wesen des Hellenismus selbst aus einer eher wirtschaftlichen und soziologischen Perspektive und versucht jetzt nicht etwa die Steuergesetze, sondern das Privatleben und die Denkstrukturen der Menschen zu rekonstruieren. Daher werden diesmal die östlichen Provinzen als eine schöpferische Kraft verstanden, im Unterschied zu der ihnen in den vorigen Kapiteln implizit zugeschriebenen Passivität.
Die Spannung liegt aber nach Momigliano in der Sache selbst und gelangt auch nicht durch Rostovtzeffs These, die hellenistische Welt sei im wesentlichen eine bürgerliche gewesen, zu einer Synthese. Denn politisch vermittelt die hellenistische Epoche zwischen Griechenland und Rom (und erklärt damit das römische Reich), aber religionsgeschichtlich gesehen vermittelt sie zwischen Griechenland und Christentum (und erklärt daher eher die katholische Kirche). Solange Politik und Religion zueinander in Spannung stehen — und dies ist bei fast allen Epochen der Weltgeschichte der Fall gewesen — kann dieser Dualismus nicht auf eine Einheit reduziert werden. Daher lassen sich auch zwei verschiedene Geschichten der hellenistischen Welt — eine von der Leistung des Hellenismus, eine andere von der Eroberung Roms — mit gleicher Berechtigung nebeneinander erzählen. Denn die hellenistische Leistung — die Kreativität, mit der Individuen neue Formen griechischen Lebens in fremden Umgebungen zu schaffen vermochten — war mit der grundsätzlichen Schwäche des Hellenismus — der politischen Unterdrückung durch Könige oder schließlich durch die Römer — untrennbar verbunden.
Der Aufsatz schließt mit einer rührenden Würdigung von Rostovtzeffs liberaler Liebe zum Leben. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, daß die Unterschiede in der Bewertung von Rostovtzeff zwischen diesem und dem vorhergehenden Beitrag nicht zuletzt auf Momiglianos eigene Erfahrungen mit dem italienischen Faschismus und dem englischen Liberalismus in den dazwischenliegenden neun Jahren zurückzuführen sind.
This is a preview of subscription content, log in via an institution.
Preview
Unable to display preview. Download preview PDF.
Anmerkungen
Vgl. W. von Humboldt, Sechs ungedruckte Aufsätze über das klassische Altertum, 1896 (= Werke, Bd. III, S. 171).
J. Burckhardt, Griechische Kulturgeschichte, Bd. IV, 3. Aufl. Berlin und Stuttgart 1902, S. 573.
K.J. Beloch in A. Gercke und E. Norden (Hg.), Einleitung in die Altertumswissenschaft, Bd. III, 2. Aufl. Leipzig 1914, S. 140. Vgl. F. Münzer, Die politische Vernichtung des Griechentums, Das Erbe der Alten 9, Leipzig 1925.
W.W. Tarn in: Cambridge Ancient History VII: The Hellenistic Monarchies and the Rise of Rome, Cambridge 1928, S. 700.
Zur Geschichte der Idee des Hellenismus vgl. meinen Aufsatz: Genesi storica e funzione attuale del concetto di Ellenismo, Giornale Critico della Filosofia italiana 16, 1935, 10–31 [s. in diesem Band Beitrag 8, S. 113ff.]. Zu Droysen s. auch meinen Artikel: Per il centenario dell’Alessandro Magno di J. G. Droysen, Leonardo Dezember 1933 (beide wieder in meinem Contributo alla storia degli studi classici e del mondo antico, Rom 1955). Vgl. die — für mich inakzeptablen — Einwände von F. Hampl, Gnomon 13, 1937, 474–483.
Vgl. die Bemerkung von A. Toynbee, A Study of History, Bd. I, Oxford 1934, 2. Aufl. S. 7: »Intrinsically the Seleucid Monarchy and not the Ptolemaic Monarchy is the field in which the pearl of great price awaits the historical explorer«.
Vgl. jetzt die wichtigen Bemerkungen von F. W. Walbank, Classical Review 56, 1942, 81–84.
W. Otto, Kulturgeschichte des Altertums, München 1925, S. 104. Vgl. die Bemerkung von W.W. Tarn, Hellenistic Civilisation, London 1927, 2. Aufl. ebenda 1930, S. 2.
A. N. Sherwin-White, The Roman Citizenship, Oxford 1939; vgl. dazu meine Besprechung in Journal of Roman Studies 31, 1941, 158, wieder in meinem Secondo Contributo alla storia degli studi classici e del mondo antico, Rom 1960, 389–400.
Vgl. meinen Aufsatz über Rostovtzeff in La Nuova Italia 4, 1933, 160–65.
Editor information
Rights and permissions
Copyright information
© 2000 Springer-Verlag GmbH Deutschland
About this chapter
Cite this chapter
Momigliano, A. (2000). Rostovtzeffs zweigeteilte Geschichte der Hellenistischen Welt. In: Most, G.W. (eds) Ausgewählte Schriften zur Geschichte und Geschichtsschreibung. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-03684-1_19
Download citation
DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-476-03684-1_19
Publisher Name: J.B. Metzler, Stuttgart
Print ISBN: 978-3-476-01513-6
Online ISBN: 978-3-476-03684-1
eBook Packages: J.B. Metzler Humanities (German Language)