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Zusammenfassung

(I) Bereits Tertullian war überzeugt, daß die Philosophie Senecas der christlichen Lehre nahestehe: »Seneca saepe noster« (Seneca ist häufig der unsere).2 Minucius Felix, wann immer er auch gelebt haben mag, kannte und benutzte Seneca, ohne ihn im übrigen zu zitieren. Mit Laktanz nimmt hingegen die Billigung seines Denkens von Seiten des Christentums festere Formen an, und er gilt als »omnium Stoicorum acutissimus« (der scharfsinnigste aller Stoiker). Seneca hätte ein gläubiger Anhänger des wahren Gottes sein können, wenn jemand ihm den Weg gewiesen hätte (»potuit esse verus Dei cultor, si quis Uli monstrasset«). Laktanz schrieb um 325 n. Chr., und es ist offensichtlich, daß er von einem Briefwechsel zwischen Seneca und Paulus nichts gehört hatte.3

Momigliano interessierte sich immer sowohl für Fälschungen als auch für die Entwicklung der Echtheitskritik in der Antike und in der Neuzeit. In diesem Aufsatz legte er auf überzeugende Weise dar, wie die Kirchenväter den gefälschten Briefwechsel zwischen Seneca und Paulus zu deuten versucht hatten. Er unterzog die Form, die Sprache und den angeblich biographischen und historischen Inhalt der Briefe einer eingehenden Untersuchung bei der sich herausstellte, daß weder die Identität noch die Situation des Fälschers genau feststellbar war. Ziel des Essays war aber nicht so sehr, die gefälschten Texte, als vielmehr ihre spätere Rezeption zu analysieren. Aus den Texten der Kirchenväter ergab sich, daß sie Seneca zwar zu den Heiligen, nicht aber zu den Christen gezählt hatten; ihrer Meinung nach war er eher ein tugendhafter Philosoph als ein Anhänger des wahren Gottes gewesen. Im Mittelalter aber — so die Meinung fast aller Historiker, die sich mit den gefälschten Briefen beschäftigt hatten — sei die Fegende entstanden, daß Seneca wirklich Christ gewesen sei. Momigliano unternahm es, die mittelalterliche Seneca-Tradition zu rekonstruieren. Er arbeitete sich durch die Handschriften und alten Drucke der Bodleian Library, wobei er auch feststellen konnte, daß die Oxforder Mediävisten recht hatten, als sie behaupteten, die klassische Kultur des Mittelalters sei längst nicht so lückenhaft und oberflächlich, wie frühere Historiker geglaubt hatten. Ihm gelang es den Beweis dafür zu erbringen, daß nicht einmal Otto von Freising oder Abaelard, die Seneca offensichtlich sehr bewunderten, so weit gegangen waren, ihn als einen Christen zu bezeichnen. Paradoxerweise waren die ersten Gelehrten, die ernsthaft behaupteten, daß Seneca sich bekehrt hatte, nicht die historisch unbewanderten Scholastiker des Mittelalters, sondern die ersten Humanisten, wie etwa Giovanni Colonna, die entsprechend zu erklären versuchten, wie es dazu hatte kommen können, daß ein heidnischer Philosoph überhaupt mit Paulus in Verbindung gestanden hatte. Die Fegende des christlichen Seneca entstand durch die ersten Versuche, die römische Literaturgeschichte zu rekonstruieren; sie wurde widerlegt, als die Humanisten ihre Quellenkritik weiter verfeinert hatten. Paradoxerweise stellte sich heraus, daß die Humanisten diese Fegende zunächst selbst erfunden hatten, bevor sie sie dann entlarvten. In letzter Zeit sind die antiken sowie die mittelalterlichen Fälschungen von Fuhrmann, Speyer und anderen erneut untersucht worden. Der Essay Momiglianos bleibt ein unübertroffenes Beispiel dafür, wie der Wissenschaftshistoriker nicht nur den Leistungen, sondern auch den unvermeidlichen Fehlinterpretationen früherer Philologen nachgehen muß, um der historischen Kompliziertheit der Tradition gerecht werden zu können.*

Der englische Text dieser Abhandlung wurde am 26. Mai 1950 vor der Classical Association in Oxford vorgetragen. Neben den Freunden, die ich im Text zitiere, möchte ich noch A. Degrassi, H. M. Last, L. Minio Paluello und B. Smalley danken.

Der englische Text dieser Abhandlung wurde am 26. Mai 1950 vor der Classical Association in Oxford vorgetragen. Neben den Freunden, die ich im Text zitiere, möchte ich noch A. Degrassi, H. M. Last, L. Minio Paluello und B. Smalley danken.

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Literatur

  • H. Fuhrmann (Hg.), Fälschungen im Mittelalter, 6 Bde, Hannover 1988–90.

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  • L. Jardine, Erasmus, Man of Letters, Princeton 1993.

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  • W. Speyer, Die literarische Fälschung im heidnischen und christlichen Altertum, München 1971. Ders. Bücherfunde in der Glaubenswerbung der Antike, Göttingen 1970.

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Anthony Grafton

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© 1999 Springer-Verlag GmbH Deutschland

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Momigliano, A. (1999). Bemerkungen über die Legende vom Christentum Senecas. In: Grafton, A. (eds) Ausgewählte Schriften zur Geschichte und Geschichtsschreibung. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-03683-4_3

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  • DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-476-03683-4_3

  • Publisher Name: J.B. Metzler, Stuttgart

  • Print ISBN: 978-3-476-01512-9

  • Online ISBN: 978-3-476-03683-4

  • eBook Packages: J.B. Metzler Humanities (German Language)

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