Zusammenfassung
In der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts n. Chr. wurde der griechische Osten wirtschaftlich stärker, militärisch sicherer und religiös christlicher als der lateinische Westen. Der Aufstieg von Konstantinopel zur Position eines neuen Rom war der spürbarste Ausdruck der neuen Situation, doch hatte auch Antiocheia kaum weniger Prestige. Freilich war das Lateinische die Sprache des Gesetzes und weitgehend auch der Verwaltung; es war auch die Sprache der Armee. Viele Griechen fühlten, daß sie Latein schon deshalb lernen mußten, weil ihre Aussichten auf eine Karriere in der römischen Verwaltung damit besser wurden. In Ägypten (und zweifellos auch in anderen griechisch-sprachigen Regionen) las man nun erstmals die Werke lateinischer Dichter und Geschichtsschreiber. In Antiocheia fürchtete sich Libanios vor der Konkurrenz von Lehrern lateinischer Rhetorik (or. 2, 44; 58, 21 Förster; ep. 870 Wolf = 951 Förster). Eine Kompetenz im Lateinischen war eine Leistung, derer sich griechisch-sprachige Menschen in Prosa und Vers rühmten: »Gefüllt mit den Gesetzen, vermischst Du die italische Muse mit dem süßen gesprochenen Honig der attischen.«1 Für die heidnischen Intellektuellen des Ostens hatte das Lateinische die zusätzliche Attraktion, die Sprache des weniger christlichen Teils des Römischen Reichs zu sein.
Ammianus Marcellinus (ca. 330 — nach 395) ist der größte lateinische Historiker des 4. Jahrhunderts, obwohl er, aus Antiocheia stammend, mit Griechisch als Muttersprache aufgewachsen war. Sein Geschichtswerk setzte mit der Zeit des Kaisers Nerva (96–98) ein; er verstand es offensichtlich als eine Fortsetzung der Werke des Tacitus. Von den insgesamt 31 Büchern dieses Werkes sind die ersten dreizehn verloren; da die Darstellung der erhaltenen Bücher 14–31 die Zeit von 353 bis 378 (bis zur Schlacht bei Adrianopel, in der der Kaiser Valens eine vernichtende Niederlage gegen die Goten erlitt) abdeckt, ist erkennbar, daßerdie Geschichte seiner eigenen Zeit sehr viel ausführlicher behandelt hat als die früheren Zeiträume. Ammianus, der lange als Offizier tätig gewesen war, hat sein Werk vermutlich in Rom niedergeschrieben, hat es jedenfalls dort in Lesungen vorgetragen (vgl zu diesem Aspekt des Verhältnisses der Historiker zu ihrem Publikum oben den Text Nr. 1). Momigliano stellt in seinem Aufsatz aus dem Jahre 1974 heraus, daß die diversen Äußerungen, die Ammianus zu Zeitgenossen fallen läßt, den Eindruck einer weitgehenden sozialen und intellektuellen Isolierheit suggerieren. Er erklärt dies mit dessen Haltung, sich hinsichtlich der großen Streitfragen seiner Zeit — dem Konflikt zwischen Christentum und Heidentum in Rom, den Spannungen zwischen den Kaisern und der römischen Senatsaristokratie oder den unterschiedlichen Einschätzungen der angemessenen Politik gegenüber den Germanen — jeder Parteinahme zu enthalten und sich stattdessen auf eine (oft klischeehafte) nostalgische Verklärung der römischen Vergangenheit zu konzentrieren. Momiglianos Aufsatz stellt vor allem eine Distanzierung von diversen Versuchen in der Forschung dar, Ammianus als Repräsentanten bestimmter sozialer Gruppen oder politischer Parteiungen verstehen zu wollen.
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Momigliano, A. (1998). Der einsame Historiker Ammianus Marcellinus. In: Nippel, W. (eds) Ausgewählte Schriften zur Geschichte und Geschichtsschreibung. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-03682-7_15
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