Zusammenfassung
Ich will mich einer genaueren Erörterung des Lebens und Denkens von Dion von Prusa zuwenden. Er ist ein weniger lebhafter Denker als Seneca und sicherlich ist sein Griechisch weniger persönlich und weniger attraktiv als Senecas Latein. Doch weil er weniger originell ist, ist er auch typischer als Seneca. Sein Leben entwickelte sich nach einem Muster, das man als recht repräsentativ für ein Philosophenleben im 1. Jahrhundert n. Chr. ansehen darf. Er war ein gewöhnlicher Moralprediger — und wie alle gewöhnlichen Moralprediger war er ein Langweiler. Wie vielen Langweilern gelang es aber auch ihm, ein Publikum zu finden. Obgleich viele seiner Werke — einschließlich seiner Bücher über die Geschichte — verloren sind, zeugen achtzig Reden von unterschiedlicher Länge noch immer von seinen Interessen.
Dion von Prusa (ca. 40–50 — nach 110), von der Nachwelt wegen seiner Eloquenz Chrysostomos (»Goldmund«) genannt, ist eine in vielen Hinsichten repräsentative Figur für die öffentliche Rolle, die »Philosophen« in der frühen Kaiserzeit sowohl in ihren Heimatstädten wie in Rom spielen konnten. Momigliano wendet sich in seinem 1969 publizierten Vortrag aus dem Jahre 1950 zunächst gegen eine, zumal von Hans von Arnim (Leben und Werke des Dio von Prusa, Berlin 1898) verfochtene, Rekonstruktion des Lebens Dions, die eine deutliche Trennung zwischen einer »sophistischen« und einer anschließenden »philosophischen« Phase unterstellt. Er bestreitet ferner die Möglichkeit, verschiedene Werke Dions (bis auf eine Ausnahme) der Zeit seiner Verbannung (aus Italien und seiner Heimatprovinz Bithynien) durch den Kaiser Domitian zuweisen zu können, während der er die Rolle des » Wanderphilosophen« annahm. Als Dion nach 96 unter den Kaisern Nerva und Trajan aus einer quasi-offiziösen Position heraus die theoretischen Grundlagen des römischen Kaisertums neu zu formulieren versuchte, zeigte sich das Dilemma einer stoischen Theorie, die mit dem Rückgriff auf die Tradition der Unterscheidung zwischem dem guten Herrscher und dem Tyrannen die realen Machtstrukturen nicht erfassen und vor allem kein Konzept für die Bewahrung der Tradition bürgerlicher Selbstregierung in den griechischen Städten des Reiches entwickeln konnte. Die sich bei Dion andeutende theo-kratische Überhöhung des Kaisertums war maßgeblich für die beachtliche Nachwirkung seiner Theorie in der Spätantike.
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Anmerkungen
Vgl. S. Weinstock, Besprechung von A. Breiich, Die geheime Schutzgottheit von Rom (1949), Journal of Roman Studies 40,1950,149–150, spez. 150 mit einer Rechtfertigung der hier wiedergegebenen Chronologie.
Die deutschen Übersetzungen von Dions Werken folgen hier W Elliger, Dion Chrysostomos: Sämtliche Reden, Bibliothek der Alten Welt, Zürich und Stuttgart 1967
[im englischen Original: J. W. Cohoon, Dio Chrysostom, Loeb Classical Library, 5 Bde. Cambridge/Mass, und London 1932–1951].
J. R. Asmus, Synesius und Dio Chrysostumus, Byzantinische Zeitschrift 9, 1900, 85–151;
[K. Treu, Synesios von Kyrene: Ein Kommentar zu seinem »Dion«, Berlin 1958].
Ein im Mai 1864 gehaltener Vortrag von J. Burckhardt über Dion findet sich in ders., Vortrage, hg. v. E. Dürr, Gesamtausgabe Band XIV, Stuttgart u.a. 1933.
Wichtig ist R. Höistad, Cynic Hero and Cynic King, Uppsala 1948, 150–222.
Vgl. jetzt die Bibliographie in W Elliger, Dion Chrysostomos: Sämtliche Reden, Bibliothek der Alten Welt, Zürich und Stuttgart 1967, 836–838;
ergänzende Hinweise bei K. Gerth, Die Zweite oder Neue Sophistik, RE Suppl. VIII, 1956,719–782, spez. 744–747
und bei F. Dvornik, Early Christian and Byzantine Political Philosophy, Bd. II, Washington 1966, 537 und 705.
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Momigliano, A. (1998). Dion Chrysostomos. In: Nippel, W. (eds) Ausgewählte Schriften zur Geschichte und Geschichtsschreibung. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-03682-7_11
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