Zusammenfassung
Wenn von griechischen oder römischen Autoren und ihrem Publikum die Rede sein soll, muß man zunächst eine selbstverständliche Unterscheidung treffen. Einige der wichtigsten Gattungen der antiken Literatur — z. B. die epische Dichtung, das Drama, die Redekunst und die lyrische Dichtung (wenigstens in einigen ihrer Spielarten) — waren für eine bestimmte Gelegenheit geschrieben und hatten einen festlichen Charakter. Die epische Dichtung hatte ursprünglich die Aufgabe, wichtige Ereignisse der Vergangenheit ins Gedächtnis zurückzurufen und die Gäste bei Festen der Könige und der Aristokratie zu unterhalten, wie Homer selbst erklärt. Die Tragödie und die Komödie waren ausdrücklich als Festveranstaltungen konzipiert und haben sich niemals aus ihrem ursprünglichen Zusammenhang mit den religiösen Festen gelöst. Die Redekunst war durch ihren jeweiligen Schauplatz beeinflußt — entweder waren das die Gerichtshöfe oder (was zumindest für die Griechen fast dasselbe war) die Volksversammlung. Seltener traten die Redner als Gesandte vor Königen auf. Die lyrische Dichtung nahm häufig von der Anrufung einer Gottheit oder der eines Heroen ihren Ausgang oder sie war einem Herrscher oder einem Sieger bei den Spielen gewidmet. Selbst wenn Dichtung sich auf persönliche Umstände (politischer oder erotischer Art) bezieht, besteht von seiten des Dichters Gewißheit, an welches Publikum er sich wendet.
Sic ingens rerum numerus iubet atque operum lex.
Also befiehlt es der Tatsachen Zahl und die Satzung der Werke.
Juvenal (3, 7, 102)
Trotz der überragenden Bedeutung der Historiographie für unsere Kenntnis der Antike fehlen systematische Untersuchungen über die gesellschaftliche Rolle der antiken Historiker, die weniger eindeutig definiert war als diejenige von Dichtern, die für Aufführungen bei öffentlichen Festen oder Banketten schrieben, Rednern, die in der Öffentlichkeit auftraten, oder Philosophen, die als Lehrer wirkten. Momigliano skizzriert in diesem Aufsatz von 1978, daß eine Vielzahl von Fragen noch der Klärung bedürften; dazu zählen u.a. die nach Lesern und Käufern von historischen Werken, nach der Verfügbarkeit dieser Werke im Buchhandel und in Bibliotheken sowie zum Verhältnis der Historiker zu den jeweils Herrschenden in ihren Gesellschaften und den damit verbundenen möglichen persönlichen Risiken. Als auffälliges Beispiel dafür, wie wenig gesichert die gängigen Vorstellungen über das Verhältnis der Historiker zur Öffentlichkeit sind, führt er die Quellenzeugnisse über öffentliche Lesungen von Geschichtswerken an. Hier hat man sich zumeist auf die späteren Nachrichten über öffentliche Auftritte Herodots und die (vermeintliche) Ablehnung dieser Praxis durch Thukydides konzentriert. Während jedoch die Informationen zu Herodot weniger eindeutig sind, als allgemein angenommen, und sich über die Haltung von Thukydides, Xenophon und anderer Historiker des 4. Jahrhundert v. Chr. nichts ausmachen läßt, gibt es für die Zeit seit dem 3. Jahrhundert v. Chr. bis zur Spätantike eine überraschende Fülle von Informationen über Lesungen, die der Publikation von Geschichtswerken vorausgehen.
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Anmerkungen
Dazu s. meinen Aufsatz Storia Greca, Rivista Storica Italiana 87, 1975, 17–46, der auch ins Englische (History and Theory 17, 1978, 1–28) und Deutsche (Neues Handbuch der Literaturwissenschaft, in diesem Band oben, Text 2) übersetzt ist, mit der einschlägigen Literatur. Die im vorliegenden Aufsatz im Text und in den Anmerkungen gegebenen Hinweise sind nur eine kleine Auswahl der antiken Belege.
S. Gozzoli, Una teoria antica sull’origine della storiografia greca, Studi Classici e Orientali 19–20, 1970–71, 158–211 sowie die Ausgabe der Flugschrift des Dionysios durch W. K. Pritchett (Berkeley 1975).
Vgl. z.B. B. Gentili-G. Cerri, Le teorie del discorso storico nel pensiero greco e la storiografia romana arcaica, Rom 1975. Zum Unterschied von Beredsamkeit und Geschichtsschreibung s. Plin., ep. 5, 8; Quint., inst. 10, 1, 31; 33; Plut., mor. 347A (De gloria Athen. 3). Zur Rolle der Geschichtsschreibung in der »grammatischen Erziehung« s. Iuv. 7, 229–236.
Die Belege für öffentliche Lesungen aus Geschichtswerken scheinen nicht systematisch gesammelt worden zu sein, vgl. jedoch E. Rohde, Der griechische Roman, 3. Aufl., Leipzig 1914, 328 (Nd. Hildesheim 1974). Eine typische Geschichte findet man Suda s. v. Kornoutos (offenbar aus Aelian).
Ich frage mich, warum G. Daux in seinem Buch über Delphi Syll.3 702 nicht benutzt hat. War Pomtow wieder einmal nicht zuverlässig? Allgemeiner s. dazu M. Guarducci, Poeti vaganti e conferenzieri dell’età ellenistica, Memorie dell’Accademia dei Lincei 2, 6, 1929, 627–665.
Vgl. S. Cagnazzi, Notizia di 28 logoi di Erodoto, Annali delia Facoltà di Lettere di Bari 16, 1973, 85–96.
Allgemeiner dazu L. Canfora, Il Ciclo Storico, Belfagor 26, 1971, 653–670.
Außerdem S. Cagnazzi, Tavola dei 28 Logoi di Erodoto, Hermes 103, 1975, 385–423.
Wenn wir annehmen wollen, daß Herodot Lesungen abhielt, dann muß er wohl mit seinen Bemerkungen 3, 80 und 6, 43 über die Glaubhaftigkeit der persischen Verfassungsdebatte auf die Kritik von Zuhörern bei früheren Gelegenheiten antworten; aber der Text erlaubt auch andere Interpretationen. Vgl. F. Jacoby, RE Suppl. 2, 1913, 226–227 s. v. Herodotos.
Mit der eingehenden Analyse des Melierdialogs durch L. Canfora, Per una storia del dialogo dei Melii e degli Ateniesi, Belfagor 26, 1970, 409–26 stimme ich nicht überein. Aber man vgl. auch seinen wichtigen Aufsatz L. Canfora, Storici e Società ateniese, Rendiconti dell’Itituto Lombardo 107, 1973, 1136–1173. Aus Dion. Hal., comp. 22 kann man nicht viel ersehen.
Der Herausgeber G. Manganaro, Una biblioteca storica nel Ginnasio di Tauromenion e P. Oxy. 1241, La Parola del Passato 29, 1974, 389–409 gibt einen ausgezeichneten Kommentar,
der auch bei A. Alföldi, Römische Frühgeschichte, Heidelberg 1977, 83–96 aufgenommen wird.
Zu Bibliotheken s. die nicht erschöpfende Untersuchung durch M. Burzachechi, Ricerche epigrafiche sulle antiche biblioteche del mondo greco, Rendiconti dell’Accademia dei Lincei 8, 18, 1963, 75–96.
Zu diesen Subskriptionen hofft man mehr aus künftigen Untersuchungen von J. E. G Zetzel zu erfahren. Vorläufig s. J. E. G Zetzel, Emendaui ad Tironem. Some notes on scholarship in the second century A. D., Harvard Studies in Classical Philology 11, 1973, 225–243.
A. La Penna, Storiografia di senatori e storiografia di letterati, Problemi 1967, 57–63; 118–124; 187–195, sowie jetzt A. La Penna, Aspetti del pensiero storico latino, Bari 1978. Zur Freiheit des Historikers s. Plin., ep. 9, 19.
Es mag genügen, auf den Aufsatz von E. Bickerman, The Colophon of the Greek Book of Esther von 1944 hinzuweisen, jetzt in E. Bickerman, Studies in Jewish and Christian History Bd. 1, Leiden 1976, 225–245.
Ein anderer interessanter Text ist Fouilles de Delphes III 2, 1909, n. 47. Vgl. dazu M. Holleaux, Etudes Bd. 1, Paris 1938, 404. Die gesamte Chronik von Lindos ist wichtig für das Thema. Zum Ansehen des Geschichtsschreibers findet man Material bei J. Cramps, Labraunda III 2, 2, Stockholm 1972, 137
und in den Bemerkungen dazu von D. M. Lewis, Classical Review 25, 1975, 327.
R. Reitzenstein, Hellenistische Wundererzählungen, Leipzig 1906, 84–99;
B. E. Perry, The Ancient Romances, Berkeley-Los Angeles 1967, 166.
M. Moore, The Manuscript Tradition of Polybius, Cambridge 1965.
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Momigliano, A. (1998). Die Historiker der Antike und ihr Publikum. In: Nippel, W. (eds) Ausgewählte Schriften zur Geschichte und Geschichtsschreibung. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-03682-7_1
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