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Musik und Theologie

August Halm am Kreuzungspunkt seines beruflichen und schöpferischen Weges

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Zusammenfassung

Wegen der besonderen musikalischen Begabung, die sich in früher Jugend zeigt, erkennen und verfolgen künftige Komponisten und Instrumentalisten sehr früh ihre Laufbahn. Musiktheoretiker kommen dagegen wegen der besonderen Anforderungen ihres Faches sehr viel später zu ihrer Berufsentscheidung, erst nach Erreichen intellektueller Reife. Hugo Riemann und Heinrich Schenker beispielsweise studierten erst die Rechte, bevor sie sich der Musik zuwandten. Ähnlich übte August Otto Halm (1869–1929) sich zunächst in Theologie.1 Dieser Weg war durch seinen Großvater Philipp Adam Halm, seinem Onkel Wilhelm Otto Halm und seinem Vater, Hermann Friedrich Halm, gewiesen, allesamt protestantische Pfarrer. Von August, dem jüngsten und begabtesten von drei Söhnen, war anzunehmen, daß er in die Fußstapfen seiner Vorfahren treten würde. Die Erwartung sollte Gewißheit werden, als der Vater, der verehrte Pastor Hermann Halm starb, kurz nachdem August das Gymnasium absolviert hatte. Die Mutter, die ihren 35jährigen Gatten verloren hatte, wünschte wohl die Familientradition fortgesetzt zu sehen. Sie sollte nicht enttäuscht werden. Im Herbst 1887 schrieb sich Halm pflichtbewußt im bekannten Evangelischen Seminar in Tübingen ein, wo Jahrhunderte zuvor Melanchthon Luthers Lehre verbreitet hatte und wo Hegel und Schelling einmal Zimmergenossen gewesen waren.

Die Forschungsarbeiten für diesen Text wie für eine Monographie über Halm wurden während des akademischen Jahres 1993–94 mit großzügiger Unterstützung der Fritz Thyssen Stiftung (Köln) durchgeführt, die mir erlaubte, für ein ganzes Jahr in verschiedenen Archiven zu arbeiten: dem Halm-Archiv am Musikwissenschaftlichen Institut der Universität Tübingen, der Handschriftenabteilung der Universitätsbibliothek Tübingen, dem Deutschen Literaturarchiv in Marbach, dem Landeskirchlichen Archiv in Stuttgart, der Manuskript- und Musikabteilung der Württembergischen Landesbibliothek in Stuttgart, dem Archiv der Deutschen Jugendbewegung auf Burg Ludwigstein in Witzenhausen, dem Stadtarchiv in Saalfeld/Saale und schließlich der Freien Schulgemeinde Wickersdorf, wo Halm unterrichte hatte.

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Notizen

  1. Kauffmann hatte im April 1890 eine lobende Besprechung von Wolfs Mörike-Liederbuch (1888) für die Schwäbische Chronik geschrieben. Wolf antwortete erfreut in einem Brief vom 21. Mai 1890 mit einigen Anmerkungen zur Kritik. Unangemeldet besuchte er Kauffmann das erste Mal später in diesem Jahr (14.–15. Oktober 1890); beide Männer wurden danach enge Freunde. Wolfs Briefe an Kauffmann sind 1903 veröffentlicht worden (Wolfs Briefe an Emil Kauffmann, hrsg. v. Edmund Hellmer, Berlin 1903). Über Wolfs Besuche in Tübingen berichten Ernst Decsey (Hugo Wolf Band 3, Leipzig und Berlin 1904, S. 42–47 im Kapitel Der Künstler und die Welt 1892–1895) und als Zeitzeuge Kauffmanns Schwiegersohn Wilhelm Schmid (Hugo Wolf und der Tübinger Kreis, in: Neue Musikzeitung 46, 1925, S. 154–163).

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  2. August Halm, Horae Poenitentiales (Stuttgart: Zumsteeg, 1901). Das Werk besteht aus drei Sätzen über Hymnen des St. Galler Mönchs Notker Balbulus (um 900). Halm erinnert sich an seine Komposition im Beitrag Über mein musikalisches Schaffen (Neue Musikzeitung 59, 1928, S. 375 bis 378; wieder abgedruckt in dem von Siegfried Schmalzriedt herausgegebenen Sammelband Von Form und Sinn der Musik, Wiesbaden 1978, S. 284–291, hier S. 287). Wolf übermittelte in einem Brief an Kauffmann vom 27. April 1891, geschrieben kurz nach einem Tübingen-Besuch, Grüße an die starkgläubigen Seminaristen, besonders an Halm (Briefe 1903, S. 35f).

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  3. Schrempf war der erste deutsche Kierkegaard-Übersetzer und einer der Hauptsprecher für »liberale Theologie« um 1900. Seine Entwicklung und seine Ideen sind Gegenstand einer Untersuchung von Ernst Müller (Christoph Schrempf 1872–1943: der umgekehrte Pietist, in: Schwäbische Profile, Stuttgart 1950, S. 167–199).

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  4. Claude Welch erörtert die Geschichte protestantischer Theologie im späten 19. Jahrhundert (Protestant Thought in the Nineteenth Century, vol. 2: 1870–1914, New Haven, 1985. Die Seiten 212–223 fassen die wichtigsten Punkte zusammen. Vol. 1 behandelt die Zeit von 1799–1870. Der Begriff Kultur-Protestantismus, wie er in den Schriften von Karl Barth und H. Richard Niebuhr (Christ and Culture, New York 1956) auftaucht, wird hauptsächlich negativ gebraucht, als polemische Beschreibung eines verwässerten, akkulturierten Christentums. Allerdings kann der Begriff auch positiv verstanden werden, als Bezeichnung für the Christian ethical imperative to inform and shape the whole of life so that it realizes the ultimately religious significance which is its ground and end (George Rupp, Culture-Protestantism: German Liberal Theology at the Turn of the Twentieth Century, Missoula Montana, 1977, S. 9).

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  5. Halm, Über mein musikalisches Schaffen (Neue Musikzeitung 59, 1928, S. 371–378; wieder abgedruckt bei Schmalzriedt 1978, S. 288). Kauffmann hatte seinerzeit vor möglicher Enttäuschung beim Konservatoriums-Unterricht gewarnt. Halms Prüfung fand am 8. und 9. Juli 1895 statt, das Zeugnis ist vom 12. Juli datiert. Die Noten waren 2, gut in Kontrapunkt, Komposition und Klavier sowie 1, vorzüglich in Chorgesang und Musikgeschichte.

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  6. Halm, Erinnerungen an Hugo Wolf, in: Der Kunstwart 51/2, 1927/28, S. 100 (wieder abgedruckt bei Schmalzriedt 1978, S. 270); vgl. auch Musik und Volk (2), in: Von schwäbischer Scholle. Kalender für schwäbische Literatur und Kunst, Heilbronn 1922, S. 69.

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  7. heiratete Halm Wynekens Schwester Hilda (1893–1965). Die beiden besten Arbeiten über Wyneken sind jene von Ulrich Panter (Gustav Wyneken. Leben und Werk, Weinheim 1960)

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  8. Heinrich Kupffer (Gustav Wyneken, Stuttgart 1970).

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  9. Nützlich ist auch ein kurzer Aufsatz von Kupffer (Gustav Wyneken. Leben und Werk, in: Jahrbuch des Archivs der deutschen Jugendbewegung 2, 1970, S. 23–32).

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  10. Gustav Wyneken: Als wir uns näher kennenzulernen anfingen, entdeckten wir eine seltsame Beziehung zwischen uns, eine Art von prästabilierter Harmonie (Wickersdorf, Lauenburg 1922, S. 104), anspielend auf Leibniz’ Ausdruck. Die Passage aus dem Wickersdorf-Buch mit der Überschrift »Die Musik an der Freien Schulgemeinde Wickersdorf« ist wieder abgedruckt in: Die deutsche Jugendmusikbewegung in Dokumenten ihrer Zeit, von den Anfängen bis 1933, hrsg. v. Wilhelm Scholz, Waltraut Jonas-Corrier und anderen, Wolfenbüttel und Zürich, 1980, S. 629.

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  11. Wyneken, Die neue Schulgemeinde; in: Wickersdorfer Jahrbuch 1908 (Jena, 1909), S. 10; siehe auch Wyneken, Die Schule, in: Schule und Jugendkultur (Jena 1914), S. 62.

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  12. Halm, Musikalischer Schülerkursus, in: Die Freie Schulgemeinde 2, 1911–12, S. 128; Teilabdruck unter dem Titel »Gegensätze« in: Musikalische Jugendkultur, hrsg. v. Fritz Jöde, Hamburg 1918, S. 56.

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  13. Halm, Gegenwart und Zukunft der Musik (ed. bei Schmalzriedt 1978, S. 251f).

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  14. Halm, Rationale Musik!, in: Der Kunstwart 41/1, 1927, S. 153: Musikgeist (wieder abgedruckt bei Schmalzriedt 1978, S. 80); Halm, Beethoven, Berlin 1927 S. 173: Kulturgeist’, Halm, Gegenwart und Zukunft der Musik, in: Das hohe Ufer 2, 1920 (wieder abgedruckt bei Schmalzriedt 1978, S. 252): Musik-Gott. Schon in der Harmonielehre hatte Halm gesagt: Die Musik ist unter allen Äußerungen des menschlichen Geistes die elementarste (1900, S. 33). Die Bibelanspielung auf Johannes 1,14 findet sich in Rationale Musik! (S. 139, bei Schmalzriedt 1978, S. 79).

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  15. Zweifellos spielt hier auch Wagners Lieblingswort vom »Unendlichen« eine Rolle; s. dazu Fritz Reckow, Zu Wagners Begriff der »unendlichen Melodie«, in: Das Drama R. Wagners als musikalisches Kunstwerk, Regensburg 1970, hrsg. v. Carl Dahinaus 1970, S. 81–110; ferner Manfred Hermann Schmid, Musik als Abbild. Studien zum Werk von Weber, Schumann und Wagner, Tutzing 1981, S. 142f.

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  16. Halm, Leben und Kunst, in: Der Wanderer 9, 1917, S. 171; Neudruck unter dem Titel Musik und Leben, in: Musikalische Jugendkultur S. 24 (wieder abgedruckt bei Schmalzriedt 1978, S. 240).

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  17. Halm, Gegenwart und Zukunft der Musik (Schmalzriedt 1978, S. 253). Zur Bedeutung von Musik für die Volksbildung siehe Unser Musikleben: Volkskunst oder Luxuskunst?, in: Die Tat 9, 1917, S. 146 sowie Die Musik in der Volksgemeinschaft, in: Das hohe Ufer 1, 1919, S. 120: Die Musik nennen wir eine vorzüglich volkbildende Macht. Halm schrieb verschiedene Aufsätze, alle in ähnlichem Sinne, über die soziale Wichtigkeit von Musik und die Verantwortung des Publikums dafür, so: Leben und Kunst (vgl. Anm. 45 oben); Musik und Volk (1); Musikalische Jugendkultur S. 9–22; Musik und Volk (2) in: Von schwäbischer Scholle. Kalender für schwäbische Literatur und Kunst, 1922.

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  18. Der Aufsatz Von der Faustischen Krankheit, in: Die kritische Tribüne 1, 1912, S. 197–200 (wieder abgedruckt bei Schmalzriedt 1978, S. 73–77) wählt sich Kretzschmar und Bekker als Beispiele für hermeneutische Sünden (S. 198f, bei Schmalzriedt 1978, S. 74f); vgl. auch Musik und Volk (2) S. 69f. In Von zwei Kulturen liefert Halm eine beißende Kritik zu Bekkers Analyse von Beethovens Sturmsonate (31947, S. 38–81). Ich bespreche Halms Kritik in Musical Analysis, Cultural Morality, and Sociology in the Writings of August Halm, in: Indiana Theory Review 16, 1995, S. 171–196.

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  19. Halm, Musikalische Erziehung (3), in: Deutsche Kunstschau 1, 1924, S. 308 (wieder abgedruckt bei Schmalzriedt 1978, S. 204); Musikalische Erziehung (2), in: Die Tat 5/2, 1913/14, S. 1255.

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  20. Halm, Musikalische Erziehung (3), S. 311 (bei Schmalzriedt 1978, S. 209); Die Musik der Schule, in: Die Freie Schulgemeinde 1(2, 1910/11, S. 49 (bei Schmalzriedt 1978 S. 237). Bezeichnenderweise ist Matthäus 6,33 eben der Vers, den Christoph Schrempf 1891 als Thema für eine Predigt gewählt hatte, nach der er sich weigerte, das Apostolische Glaubensbekenntnis bei der Taufe zu benutzen, was zur Entfernung aus dem Dienst führen sollte.

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  21. Halm, Beethoven, Berlin 1927, S. 173; Einführung in die Musik, Berlin 1926, S. 77; Von zwei Kulturen 31947, S. 36; Musikalische Erziehung (1), S. 61 (wieder abgedruckt bei Schmalzriedt 1978, S. 203); Reden bei Gelegenheit musikalischer Vorträge, S. 66.

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  22. Halm, Unsere Zeit und Beethoven, in: Die Rheinlande 11, 1911 (wieder abgedruckt bei Schmalzriedt 1978, S. 160).

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  23. Halm, Musik und Hochschule, in: Die Freie Schulgemeinde 2/1, 1911, S. 23: Schmalzriedt erörtert Halms Meinung zu Reger und Strauss wie zur musikalischen Moderne im Vorwort des Sammelbandes von 1978 (S. 46–48). Zwei Aufsätze, Fortschrittler oder Altgläubiger. Ein Gespräch (in: Die Musikantengilde 2, 1924, S. 61–70) und Müssen wir mitmachen? Gedanken über Musik und Zeit (in: Die grüne Fahne 2, 1925, S. 18–26) sind ausführliche Polemiken gegen musikalischen Modernismus. Beide sind in die Einführung in die Musik aufgenommen (S. 310–334: Neutöner und Altgläubige).

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  24. Es gibt zahlreiche Bücher über die fragliche Zeit, die wilhelminische Ära und die Zeit der Weimarer Republik, darunter jenes von Marion Doerry (Übergangsmenschen. Die Mentalität der Wilhelminer und die Krise des Kaiserreiches, Weinheim und München 1986), von Henry Stuart Hughes (Consciousness and Society. The Reorientation of European Social Thought, 1890–1930, New York 1976), von Hans Kramer (Deutsche Kultur zwischen 1871 und 1918, Frankfurt a. M. 1971), von Gerhard Masur (Prophets of Yesterday. Studies in European Culture, 1890–1914, New York 1961), von Fritz Ringer (The Decline of the German Mandarins. The German Academic Community, 1890–1933, Cambridge/Mass., 1969), von Fritz Stern (The Politics of Cultural Despair.

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Rothfarb, L.A. (1996). Musik und Theologie. In: Günther, G., Völkl, H. (eds) Musik in Baden-Württemberg. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-03676-6_6

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