Zusammenfassung
Ob diejenigen Zeitgenossen, die Johann Caspar Lavaters Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe enthusiastisch begrüßten als, wie Friedrich Leopold Stolberg schreibt, »Werk von einer selbst erfundnen Wissen-schaft«und als »die menschlichste aller Wissenschaften, welche lehrt aus der Bildung des Menschen die verborgene Natur des Menschen kennen zu lernen«1, lediglich dem publizistischen Coup aufsaßen, mit dem Johann Georg Zimmermann bereits Lavaters programmatischen Entwurf Von der Physiognomik lanciert hatte, oder ob manchen von ihnen die seit dem pseudoaristotelischen Traktat über die Physiognomica nicht abgerissene Traditionslinie wenig vertraut war von der Kunst und Lehre, »aus der äusserlichen Beschaffenheit der Gliedmassen oder den Lineamenten des Leibes eines Menschen dessen Natur- und Gemüths-Disposition zu erkennen«2, darf unausgemacht bleiben. Wenn allerdings auch ausgewiesene Kenner und Liebhaber der Materie wie Friedrich Nicolai in Lavaters Unternehmen den »ausführlichen Plan einer ganzen physiognomischen Wissenschaft«3 angelegt sehen, wenn auch hier die »Neuheit des Gegenstandes, die Wichtigkeit der Sache« hervorgehoben werden und der Diakon der Zürcher Waisenhauskirche als »der erste Wiederhersteller einer verloren gegangenen Wissenschaft« gilt, der »seine Vorgänger ganz verlassen habe«4, dann scheint die hier intendierte »Logik der körperlichen Verschiedenheiten«5 auch als methodische Renovation begriffen worden zu sein. Lavater selbst, der sein Konzept der Physiognomik noch traditionell als erlernbare Kunst, als vom Bereich des Wissens, der έτιιστήμη ττοιετκή, nicht zu scheidende τέχνη oder Kunstfertigkeit faßte, hatte sich aus methodischen Gesichtspunkten zunächst entschieden gegen die physiognomischer Lehre inhärente mantische Dimension, gegen die »abgeschmackte, seynsollende Kunst, die speciellen und individuellen Schicksale des Menschen aus seinem Gesichte zu prophezeyen« verwahrt.
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Notizen
Friedrich Leopold Stolberg, »Schreiben an Herrn Matthias Claudius in Hamburg«, Deutsches Museum 1,3 (1776), 41
Johann Caspar Lavater, Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe [=PF]. Erster Versuch, Zürich, Winterthur 1775
Johann Caspar Lavater, Von der Physiognomik (1772), hrsg. und mit einem Nachwort von Karl Riha und Carsten Zelle, Frankfurt/Main, Leipzig 1991
Georg Christoph Lichtenberg, Sudelbücher, D [1773–1775] 499, Schriften und Briefe, hrsg. von Wolfgang Promies, zweite Aufl. München 1978
Johann Bernhard Merian, »Parallèle des nos deux Philosophies nationales« [1797], hier zitiert nach Adolf Harnack, Geschichte der Königlich Preussischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin 1,1, Berlin 1900
Christian Wolff, Vernünfftige Gedancken von der Menschen Thun und Lassen, Zu Beförderung ihrer Glückseeligkeit [1720], Gesammelte Werke, hrsg. v. Jean École u. a., Nachdruck der vierten, vermehrten Auflage [1733], Hildesheim, New York 1976
Jaques Pernettis Lettres philosophiques sur les physionomies, 1760 in zweiter, erweiterter Auflage in Lyon erschienen, im Umkreis der Berliner Akademie tatsächlich rezipiert worden sind, belegt Julien Offray de la Mettrie, L’Homme Machine, Œuvres Philosophiques 1, Berlin 1774
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Clairmont, H. (1997). … Un Tableau Vivant. In: Malsch, W., Adler, H., Koepke, W. (eds) Herder Jahrbuch Herder Yearbook 1996. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-03672-8_4
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