Zusammenfassung
Mit feucht-kalten Gebüschen, staubigen Kohlenkellern, mit Ruinen beim Hamburger Heiligengeistfeld, am Rand von St. Pauli setzen die Erinnerungen an frühpubertäre Abenteuer im Schreiben Hubert Fichtes ein. Kurz nach der Geburt war seine Mutter mit ihrem unehelichen Sohn von Perleberg, Westprignitz, zu den Großeltern nach Hamburg umgezogen. Sein jüdischer Vater galt als auf der Flucht vor den Nazis verschollen. Während des Zweiten Weltkrieges wurde der halbjüdische, evangelische Halbwaise von der Mutter in einer bayrischen Klosterschule untergebracht. In seinem ersten Roman Das Waisenhaus (1965) beschreibt Hubert Fichte jene traumatischen Spannungen, die in einem sechsjährigen Jungen zwischen Internat und Pfarrkirche entstehen: Während der Priester von der Kanzel den »Herrn« beschwört, dessen Sohn dahinter blutüberströmt am Kreuz hängt, terrorisieren die Zöglinge als Teufelsgestalten den Neuling mit latent sadomasochistischen Spielen. Die anstaltsinternen Hierarchien unter den Kindern sind in einem System körperlicher Abhängigkeit manifestiert, deren Schauplatz die wenigen intimen Orte sind, die den kontrollierenden Blicken der Nonnen verborgen bleiben: der Waschraum, der Schlafsaal, der Platz unter der Bettdecke. Regiert dort zunächst die pure Angst, so verwandelt sie sich schließlich in erregte Aufmerksamkeit, in ein Beobachten und Phantasieren des eigenen Körpers und der Körper der anderen, um sich selbst im Kontext des neuen Sozialgefüges orientieren zu können. Im allgegenwärtigen Verdikt des Sexuellen entfalten die Jungen des katholischen Waisenhauses ein stilles Gespräch der Körper, dessen Grammatik von jenen Orten ausgeht, die der offiziellen Sprachlosigkeit anheimfallen: Es ist ein Diskurs des Analen, in dem sich die Waisenhauszöglinge orientieren, in dem ihre Ängste und ihr Begehren um das »Unkeusche« kreisen, während ihre Phantasien eben jenes verbotene Terrain erkunden, das es aus dem Bewußtsein zu verdrängen gilt. »Detlev sah Joachims Rücken. Joachim hatte einen schwarzen Schwanz, unter dem Schwanz ein großes schwarzes Loch. Das Loch verbreiterte sich, bis es den halben Rücken einnahm. Blut floß daraus hervor.«
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Notizen
Arnold, Heinz Ludwig (Hg.): Hubert Fichte. Text + Kritik, H. 72, 1981.
Böhme, Hartmut: Hubert Fichte. Riten des Autors und Leben der Literatur. Stuttgart: Metzler, 1992.
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© 1997 Springer-Verlag GmbH Deutschland
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Tiling, N. (1997). Hubert Fichte (1935–1986). In: Busch, A., Linck, D. (eds) Frauenliebe Männerliebe. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-03666-7_37
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