Zusammenfassung
»Es soll hierzulande immer alles sofort tiefsinnig und dunkel und allhaft sein, bei den Müttern, diesem beliebten deutschen Aufenthaltsort.«1 Mit dieser Anspielung an Goethes Faust und seinem »Gang zu den Müttern« umreißt Gottfried Benn wie wohl kein anderer zeitgenössischer Autor Höhepunkte und Abgründe der deutschen Kulturgeschichte. Als einer der begabtesten Repräsentanten des lyrischen Expressionismus und intelligentesten Advokaten — und nicht zuletzt Renegaten — des deutschen Faschismus war Benn der kulturpolitische Insider schlechthin, intellektueller Intimus sowohl der Weimarer Republik als auch des Dritten Reiches. Benns Parabel vom Faustischen Abstieg zu den Müttern chiffriert eine komplexe Konstellation politischer und kultureller Kräfte, die paradigmatische Bedeutung für die moderne deutsche Geschichte haben. Zum einen paraphrasiert sein Mutterhöhlen-Gleichnis den dramatischen Wechsel von der patriarchalen Realität zur matriarchalen Utopie, der — wie darzustellen sein wird — den historischen Umwälzungsprozeß zwischen Wilheminischem Kaiserreich und Weimarer Republik wesentlich charakterisiert. Zum anderen illustriert Benns Faust-Parabel auch eine sozialpsychologisch einmalige Verschiebung und Verkehrung der libidinösen Ökonomie von der Privatsphäre in die Kultursphäre. Im Rahmen dieser Transmutation offenbart sich schließlich die Weimarer Republik als imaginärer Mutterschoß und das Dritte Reich als phantasmagorischer Phallus.
Preview
Unable to display preview. Download preview PDF.
Anmerkungen
Gottfried Benn, »Probleme der Lyrik«, Gesammelte Werke in 4 Bänden, hrsg. Dieter Wellershoff, 1959, Bd. I, S. 508.
Vgl. dazu die zwei divergierenden Einschätzungen von Christine Buci-Glucksmann, Walter Benjamin und die Utopie des Weiblichen, Hamburg 1984,
und Angelika Rauch, »The Trauerspiel of the Prostituted Body or Woman as Allegory of Modernity«, Cultural Critique, 10 (1988), S. 77–88.
Hermann Hesse, Gesammelte Werke in 12 Bänden, Frankfurt a. M. 1970, Bd. XII, S. 326.
Walther Rathenau, Gesammelte Schriften in 5 Bänden, Berlin 1918, Bd. Ill, S. 198. Freilich handelte es sich bei dieser zeitgenössischen Furcht vor derVerweiblichung des Mannes und seiner Kultur nicht nur um deutsche Ängste. Zur gleichen Zeit klagte Philipp Gibbs, ein populärer britischer Schriftsteller, »that men are losing as women are gaining, and that the natural balances of the sexes and their biological relationship are being thwarted by the claims of women who are becoming [...] anarchical and rebellious against natural laws, while man, weakly acquiescing in his own destruction, is becoming emasculated, decadent and doomed«, zitiert nach Hilary Simpson, D.H. Lawrence and Feminism, London 1982, S. 104. Deutlicher ließ sich die self-fulfilling prophecy vom Verfall des Vaterrechts nicht artikulieren und in keiner anderen europäischen Nation erfüllte sie sich umfassender als in der deutschen Weimarer Republik.
Alexander Mitscherlich, Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft, München 1963, S. 367.
Jacques Lacan, Ecrits —A Selection, New York/London 1977.
Vgl. dazu etwa Toril Moi, Sexual /Textual Politics — Feminist Literary Theory, London/New York 1985, S. 99–101.
Sylvia Bovenschen, Die imaginierte Weiblichkeit. Exemplarische Untersuchungen zu kulturgeschichtlichen und literarischen Präsentationsformen des Weiblichen, Frankfurt a.M. 1979.
Zur überaus komplexen zeitgenössischen Rezeptionsgeschichte des Bachofenschen Mutterrechtsmodells vgl. v.a. Hans-Jürgen Heinrichs, Materialien zu Bachofens ›Das Mutterrecht‹, Frankfurt a. M. 1975.
Klaus Theweleit, Männerphantasien, 2 Bände, Frankfurt a. M. 1980, Bd. I, S. 211
Zu einer konzisen Darstellung der zahlreichen Vater-Sohn-Dramen dieser Zeit siehe Jost Hermand, » ›Ödipus Lost‹: Oder der im Massenerleben der zwanziger Jahre ›aufgehobene‹ Vater-Sohn-Konflikt des Expressionismus«, in: Reinhold Grimm, Jost Hermand (Hrsg.), Die sogenannten Zwanziger fahre, Bad Homburg/ Berlin/Zürich 1970, S. 203–224.
Vgl. dazu Sandor Ferenczi, »Die Psychoanalyse der Kriegsneurose«, Zur Psychoanalyse der Kriegsneurose, Leipzig/Wien 1919, der das hohe Ausmaß an Impotenz-Symptomen auf Kriegsneurosen zurückfuhrt. Siehe dazu jetzt auch Lawrence Rickeis, »The Demonization of the Home Front: War Neurosis and Weimar Cinema«, in: Thomas W. Kniesche, Stephen Brockmann (Hrsg.), Dancing on the Volcano — Essays on the Culture of the Weimar Republic, Columbia 1994, S. 181–194, sowie Peter Jelavichs Charakterisierung der deutschen Niederlage im Ersten Weltkrieg als »symbolic castration, if ever there was one« in: Peter Jelavich, Berlin Cabaret, Cambridge/London 1993, S. 158.
Zum soziologischen und kulturellen Phänomen der »Neuen Frau« in der Weimarer Republik vgl. allgemein: Kristine von Soden, Maruta Schmidt (Hrsg.), Neue Frauen — Die zwanziger fahre, Berlin 1988.
Generell zu diesem Themenkomplex vgl. Renate Bridenthal, Atina Grossmann, Marion Kaplan (Hrsg.), When Biology Became Destiny: Woman in Weimar and Nazi Germany, New York 1984.
Allgemein zur sexuellen Ambiguität repräsentativer Weimarer Filme vgl. Patrice Petro, Joyless Streets — Woman and Melodramatic Representation in Weimar Germany, Princeton 1989, S. 226 et passim.
Andreas Huyssen, »Mass Culture as Woman: Modernism’s Other«, in: Andreas Huyssen (Hrsg.), After the Great Divide — Modernism, Mass Culture, Postmodernism, Bloomington 1986, S. 44–62.
Allgemein zur »Girlkultur« der Weimarer Republik vgl. Fritz Giese, Girlkultur: Vergleiche zwischen amerikanischem und europäischem Rhythmus und Lebensgefühl, München 1925, S. 302f.
Jost Hermand, Frank Trommler, Die Kultur der Weimarer Republik, Frankfurt 1988, S. 314–315.
Vgl. dazu Laura Mulvey, »Visual Pleasure and narrative Cinema«, Screen 16 (1975), S. 6–18 (dt.: »Visuelle Lust und narratives Kino«, in: Liliane Weissberg (Hrsg.), Weiblichkeit als Maskerade, Frankfurt a. M. 1994, S. 48–65).
Zur matriarchalen Elementarsymbolik von Berg und Höhle siehe Neumann (Anm. 3), S. 153ff und 256ff. Zur Gleichsetzung von Berg und Mutterschoß in der zeitgenössischen Literatur vgl. Hermann Brochs Bergroman Die Verzauberung, Frankfurt a. M. 1976, S. 93–94, wo es heißt: »Die Berge haben gekreißt [...] Bergmann im Berg, Kind im Leib, geborgen und geboren [...] Schoß der Berge.«
Nach Walter Mönch (Hrsg.), Kleines Deutsches Kulturlesebuch, Heidelberg 1958, S. 65.
Walter Laqueur, Weimar — Die Kultur der Republik, Frankfurt a. M./ Berlin/ Wien 1977, S. 320.
Ausführlich zum muttermythischen Sub- und Kontext dieser beiden Werke vgl. Frederick A. Lubich, »Bachofens ›Mutterrecht‹, Hesses ›Demian‹ und der Verfall der Vatermacht«, The Germanic Review 65 (1990), S. 150–158,
sowie Frederick A. Lubich, »Thomas Manns >Der Zauberberge Spukschloß der Großen Mutter oder die Männerdämmerung des Abendlandes«, Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 67 (1993), S. 729–763.
Peter Gay, Weimar Culture — The Outsider as Insider, New York 1970, S. 52.
Thomas Mann, Rede über Lessing, Gesammelte Werke in dreizehn Bänden, Frankfurt a. M. 1960, Bd. IX, S. 229–245, hier: S. 245. Die eigentliche Inspirationsquelle zu Thomas Manns mutterrechtlicher Kulturkritik war Alfred Baeumlers präfaschistische Umfunktionierung des Muttermythos zum ideologischen Bodensatz des Dritten Reiches, siehe Marianne Baeumler, Hubert Brunträger, Hermann Kurzke, Thomas Mann und Alfred Baeumler- Eine Dokumentation, Würzburg 1989.
Siehe dazu den Bildband von Klaus Haeses und Wolfgang U. Schütte, Frau Republik geht Pleite. Deutsche Karrikaturen der Zwanziger Jahre, Leipzig 1989.
Carl Zuckmayer, Als wär’s ein Stück von mir, Frankfurt a. M. 1966, S. 311.
Vgl. Monica Sjöö, Barbara Mor, The Great Cosmic Mother — Rediscovering the Religion of the Earth, San Francisco 1987, S. 102.
Zur Illustrierten-Kultur der Weimarer Republik vgl. allgemein Wilhelm Marckwardt, Die Illustrierten der Weimarer Zeit, Publizistische Funktion, ökonomische Entwicklung und inhaltliche Tendenzen, München 1982.
T. S. Eliot, »Notes Towards the Definition of Culture«, The Idea of a Christian Society as Christianity and Culture, New York 1968, S. 142. Eliot war schon sehr früh mit Hesses Blick ins Chaos bekannt geworden. Hesses Prophezeihung einer Faustischen Rückkehr zu den Müttern hatte ihn offensichtlich so beeindruckt, daß er Teile daraus in seinem epischen Gedicht The Waste Land (1922) verarbeitet hat;
siehe Richard Ellmann, Robert O’Clair (Hrsg.), The Norton Anthology of Modern Poetry, New York 1973, S. 470.
Zur Theorie der hysterischen Verkehrung vgl. u.a. Sigmund Freud, Zur Ätiologie der Hysterie, Gesammelte Schriften in 12 Bänden, hrsg. von Alexander Mitscherlich, Angela Richards, James Strachey, Frankfurt a. M. 1982, Bd. I. Zur Theorie der frühkindlichen Sexualität und zur Kloakentheorie siehe Sigmund Freud, Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie und Über infantile Sexualtheorien, Gesammelte Schriften, Bd. I und Bd. IV Zur metaphorischen Identifikation der Konzentrationslager mit dem Exkrementalbereich vgl. Terence De Pres, The Survivor: An Anatomy of Life in the Death Camps (1976), zitiert nach Alan Dundes, Life is Like a Chicken Coop Ladder — A Study of German National Character Through Folklore, Detroit 1989, der u.a. über Des Pres’ Studie schreibt: »His third chapter, ›Excremental Assault‹ gives shocking details of how inmates were subjected to constant humiliation and degradation through anal means« (S. 127, et passim S. 128–136).
Editor information
Rights and permissions
Copyright information
© 1997 Springer-Verlag GmbH Deutschland
About this chapter
Cite this chapter
Lubich, F.A. (1997). La Loi du Père vs. Le Désir de la Mère. Zur Männerphantasie der Weimarer Republik. In: Erhart, W., Herrmann, B. (eds) Wann ist der Mann ein Mann?. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-03664-3_12
Download citation
DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-476-03664-3_12
Publisher Name: J.B. Metzler, Stuttgart
Print ISBN: 978-3-476-01456-6
Online ISBN: 978-3-476-03664-3
eBook Packages: J.B. Metzler Humanities (German Language)