Zusammenfassung
Für Prosa scheint es gravierende Übersetzungsprobleme kaum zu geben; in der Regel sind sie rein transpositorischer Art und als solche zu lösen. Mit Gedichten verhält es sich anders. Je mehr sie ihre Klanggestalt, Bild-und Formfindungen der einen Sprache verdanken, desto weniger gelingt ihre Nachbildung in der anderen. Diesen Befund vor Augen, hat Gottfried Benn in der bündigsten aller Bestimmungen »das Gedicht als das Unübersetzbare« definiert.1 Wären damit nur vokabulär-lexikalische Schwierigkeiten gemeint, brauchte sich kein Vermittler entmutigt zu fühlen. Tatsächlich aber ist mit dieser Definition eine prinzipielle Fremdsprachigkeit der Poesie in ihrer je eigenen Herkunftssprache behauptet. (Was für Benn zugleich ein Qualitätspostulat für Gedichte bedeutet: sie seien »exorbitant […] oder gar nicht«.2) Originell an diesem Gedanken ist seine Zuspitzung auf das Übersetzungsproblem und sein Erscheinen in einer Poetik der Moderne, wie sie Benn 1951 in seiner Rede Probleme der Lyrik vortrug. Vorgedacht ist er in Johann Georg Hamanns Aesthetica in nuce (1762), und dort nicht nur im berühmten Wort von der Poesie als der »Muttersprache des menschlichen Geschlechts«.3 Läßt man dieses Fundamentalbonmot gelten und liest man Benns Definition und Befund in der von Hamann her sich fortschreibenden Tradition, so ist die Poesie als Ur-und Muttersprache ein den Nationalsprachen historisch Vorgegebenes, zugleich aber auch ein jederzeit mögliches Reden durch jede von ihnen hindurch und aus keiner zur anderen hin übersetzbar.
Preview
Unable to display preview. Download preview PDF.
Notizen
Gottfried Benn: Gesammelte Werke in vier Bänden, hrg. von Dieter Wellershoff. Wiesbaden und München 1959, Bd. 1, S. 510.
Johann Georg Hamann: Sokratische Denkwürdigkeiten. Aesthetica in nuce. Hrg. von Sven-Aage Jørgensen. Stuttgart 1968, S. 81.
Günter Eich: Gesammelte Werke. Revidierte Ausgabe. Bd. IV: Vermischte Schriften. Hrg. von Axel Vieregg. Frankfurt 1991, S. 613f.
Joseph von Eichendorff: Ahnung und Gegenwart, 3. Kapitel. Historisch-kritische Ausgabe. Bd. III. Hrg. von Christine Briegleb und Clemens Rauschenberg. Stuttgart-Berlin-Köln-Mainz 1984, S. 27. — Zu Eichs Bezügen auf romantische Dichter: Neumann, [wie Anm. 4], S. 25f., passim. — Zum Welt-Buch-Topos Grundsätzliches in: Hans Blumenberg: Die Lesbarkeit der Welt, Frankfurt 1983. (Besonders das Novalis-Kapitel »Die Welt muß romantisiert werden«, S. 232–265.)
Author information
Authors and Affiliations
Editor information
Rights and permissions
Copyright information
© 1996 Springer-Verlag GmbH Deutschland
About this chapter
Cite this chapter
Neumann, P.H. (1996). Translatio. Transgressio. Günter Eichs Poetik des Übersetzens von Nicht-Übersetzbarem. In: Stadler, U., Jackson, J.E., Kurz, G., Neumann, P.H. (eds) Zwiesprache. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-03659-9_25
Download citation
DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-476-03659-9_25
Publisher Name: J.B. Metzler, Stuttgart
Print ISBN: 978-3-476-01450-4
Online ISBN: 978-3-476-03659-9
eBook Packages: J.B. Metzler Humanities (German Language)