Zusammenfassung
Im Herbst des Jahres 1989 ging auf dem Gebiet der ehemaligen DDR ein historisches Projekt in ein Konkursverfahren, das an Konsequenz nichts zu wünschen übrig ließ. Und heute stehen viele, wenn nicht gar die meisten, der ehemaligen DDR-Bürger verstört und verstummt vor einem Berg von Trümmern, den sie meist nicht als Produkt ihres eigenen Tuns begreifen wollen — oder nicht begreifen können. Dies ist zumindest psychologisch verständlich. Der Zusammenbruch des politischen und wirtschaftlichen Systems der DDR war so gründlich, daß die Benommenheit des Bewußtseins noch fünf Jahre nach der Wende die Erinnerung und das Begreifen lähmt. Fast könnte man geneigt sein, diesen Zustand mit einem Kollaps zu vergleichen, der bis zum heutigen Tag eine vernünftige Urteilsbildung blockiert. Hinzu kommt, daß es sich mit einer Biographie als Opfer besser zu leben scheint. Und das betrifft nicht etwa nur den größten Teil der DDR-Bevölkerung, sondern auch die einstige Elite, die sich heute in schönster Gleichheit mit allen Betroffenen wahrnimmt und recht genau notiert, wie sie hier und dort einen Kampf mit diesem oder jenem Hierarchen bestanden hat; wobei der Sinn dieses Kampfes quasi in der Antizipation dessen bestanden haben soll, was nunmehr mit Erfolg durch die Deutsche Wiedervereinigung gekrönt worden ist. So nehmen sie sich nicht als Produzenten und Täter, sondern als Produzierte und Opfer wahr, erzeugt von den Umständen und einem übermächtigen System, das sie nicht gemacht, sondern vorgefunden haben; ein System, welches nicht nur in ökonomischer Hinsicht die Person als Wirtschaftssubjekt, d. h. als souveränen Vertragspartner aufhob, sondern mit der Liquidierung der Dreiteilung der Gewalten und der Denunziation des formellen Rechts eben auch die liberalen Freiheitsrechte abschaffte.
»Wie leicht alles wird, doch wird's nicht wahr: wenn ich mir einrede, nur Produkt meiner Zeit gewesen zu sein — während ich mich doch genauso produzierte, wie sie mich wollte! «
Rolf Hochhuth
⋆Ich danke Dr. habil. Andreas Wild und Horst Gronke für die hilfreiche und kritische Diskussion des Manuskriptes.
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Notizen
Foucault, Michel: Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit. Bd. 1, Frankfurt am Main 1977, S. 116.
Diese Habitusform der Selbstkontrolle, als ein »Erzeugungs- und Strukturprinzip von Praxisformen«, betrachte ich als ein kulturelles und politisches Dispositiv des Handelns und Verhaltens. Vgl. Bourdieu, Pierre: Entwurf einer Theorie der Praxis, Frankfurt am Main 1979, S. 165 f.
Schiller, Friedrich: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen, in: ders., Über Kunst und Wirklichkeit. Claus Träger (Hg.), Leipzig 1975, S. 276.
Vgl. Engler, Wolfgang: Selbstbilder. Das reflexive Projekt der Wissenssoziologie, Berlin 1992, S. 154.
Ullmann, Wolfgang: »Die triste Kumpanei der Kollaboration. Zum Umgang mit der Stasi-Vergangenheit«, in: Freitag vom 20. 08. 1993, Nr. 34, S. 3.
Görlitz, Axel: Handlexikon zur Rechtswissenschaft, Reinbek bei Hamburg 1974, S. 401.
Vgl. Davidson, Donald: Wie ist Willensschwäche möglich? in: ders., Handlung und Ereignis, Frankfurt am Main 1990, S. 60.
Viel Material dazu findet sich bei Reuth, Ralf Georg: IM »Sekretär«. Die »Gauck-Recherche« und die Dokumente zum »Fall Stolpe«, Berlin 1992.
Vgl. Frisch, Max: Sittlich leben, in: ders., Aus einem Tagebuch und Reden, Berlin 1974, S. 29.
Habermas, Jürgen: Erläuterungen zur Diskursethik, Frankfurt am Main 1991, S. 65.
Vgl. Weber, Max: Politik als Beruf, in: ders., Gesammelte politische Schriften, Hg. von Johannes Winkelmann, Tübingen 1958, S. 549 ff.
Vgl. Böhler, Dietrich: »Legitimationsdiskurs und Verantwortungsdiskurs. Menschenwürdegrundsatz und Euthanasieproblem in diskursethischer Sicht«, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 7 (1991) S. 736.
So meint Kant, daß es »ein heiliges, unbedingt gebietendes, durch keine Konvenienzen einzuschränkendes Vernunftgebot (sei): in allen Erklärungen wahrhaft (ehrlich) zu sein« — egal ob diese Wahrhaftigkeit einem selbst oder jemand anderem schadet. Vgl. Kant, Immanuel: Über ein vermeintes Recht aus Menschlichkeit zu lügen, in: ders., Von den Träumen der Vernunft. Steffen und Birgit Dietzsch (Hg.), Leipzig und Weimar 1979, S. 502.
Zum Problem der konsequentialistischen und deontologischen Normierungstheorie vgl. Mackie, John Leslie: Ethik. Die Erfindung des moralisch Richtigen und Falschen, Stuttgart 1983, S. 189ff.
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Tietz, U. (1996). Die schmutzigen Hände. In: Ballestrem, K.G., Gerhardt, V., Ottmann, H., Thompson, M.P. (eds) Politisches Denken Jahrbuch 1995/96. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-03633-9_17
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