Zusammenfassung
Ein jüdischer Obersekundaner, so schreibt der Berliner Gymnasiallehrer Martin Havenstein am 31.12.1930 an seinen Frankfurter Kollegen Otto Schumann1, habe kürzlich in einem Aufsatz Siegfried, und zwar den Heb-belschen Siegfried, dreist verspottet. Dabei sei die Behandlung des Stoffs in der Hebbelschen Bearbeitung schon eine Konzession an den Zeitgeist gewesen, denn, so fährt Havenstein fort, »das Nibelungenlied wagen die Herren den Klassen mit mehr als 50 Prozent Juden (solche haben wir reichlich) gar nicht mehr darzubieten. Und das hängt am Ende doch damit zusammen, daß diese alten Dinge mehr zu unserem Blute reden als zu israelischem Geiste.« Schumann gibt in seinem Antwortschreiben an Havenstein zu bedenken, »daß ein sehr großer Prozentsatz auch unserer nichtjüdischen Schüler froh wäre, wenn man sie nicht mit mittelhochschdeutsch plagte. Und« - so fragt er - »ist das denn so wunderbar und ist es denn so schlimm?«2 Gerade das Nibelungenlied werde in der Schule zu früh behandelt, denn die Obersekundaner seien für diese Thematik eigentlich noch nicht reif. »Die Jungen mausern sich auf dieser Stufe doch gerade erst aus den Flegeljahren heraus. Und wenn einmal einer den Hebbelschen Siegfried dreist verspottet, dann nehme ich das auch nicht tragisch. … Nun ist gewiß eine solche kritische Stellungnahme bei den Juden im Durchschnitt häufiger als bei uns.
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Notizen
Vgl. Otfried Ehrismann, Das Nibelungenlied in Deutschland. Studien zur Rezeption des Nibelungenlieds von der Mitte des 18. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg, München 1975;
Lerke von Saalfeld, Die ideologische Funktion des Nibelungenliedes in der preußisch-deutschen Geschichte von seiner Widerentdeckung bis zum Nationalsozialismus, Diss.phil., Berlin 1977;
Helmut Brackert, Nibelungenlied und Nationalgedanke. Zur Geschichte einer deutschen Ideologie, in: Mediaevalia litteraria. Festschrift für Helmut de Boor zum 80. Geburtstag, München 1971, S. 343 ff;
Klaus von See, Das Nibelungenlied — ein Nationalepos? in: Die Nibelungen. Ein deutscher Wahn, ein deutscher Alptraum. Studien und Dokumente zur Rezeption des Nibelungenstoffs im 19. und 20. Jahrhundert, hg. von Joachim Heinzle und Anneliese Waldschmidt, Frankfurt/M. 1991, S. 43ff.
Vgl. Otfried Ehrismann, Nibelungenlied. Epoche — Werk — Wirkung, München 1977, S. 262ff. (dort auch weitere Literaturhinweise)
Vgl. Herfried Münkler, Politische Mythen und nationale Identität. Vorüberlegungen zu einer Theorie politischer Mythen, in: Mythen der Deutschen. Deutsche Befindlichkeiten zwischen Geschichten und Geschichte, hg. von Wolfgang Frindte und Harald Pätzolt, Opladen 1994, S. 21ff.
Vgl. Janusz Piekalkiewicz, Der Erste Weltkrieg, Düsseldorf 1988, S. 461ff., 541ff.
Zitiert nach Bernd W. Wessling (Hg.), Bayreuth im Dritten Reich. Richard Wagners politische Erben. Eine Dokumentation, Weinheim und Basel 1983, S. 289.
Frederic Spotts, Bayreuth. Eine Geschichte der Wagner-Festspiele, München 1994, S. 122.
Irrtümlich meint von See, Das Nibelungenlied, S. 77, es habe sich um das Siegfried-Motiv gehandelt. Wilhelms II. Verhältnis zu Wagners Werk war ambivalent. Anfang 1887, also noch als Kronprinz, schrieb er, sein Besuch in Bayreuth habe seiner »Übezeugung von der nationalen Bedeutung der Bayreuther Aufführungen so befestigt«, daß er »eine alljährliche Wiederholung für sehr wünschenswerth« halte; er erwarte davon eine »veredelnde Wirkung auch auf weitere Kreise« (zit. nach John CG. Röhl, Wilhelm II. Die Jugend des Kaisers, 1859–1888, München 1993, S. 936), und noch aus seinem holländischen Exil hat Wilhelm durch Spenden sich für Bayreuth engagiert (Spotts, Bayreuth, S. 159 und 172). Die Vermittlung Philipp von Eulenburgs hatte in Wilhelms Verhältnis zu Wagner eine große Rolle gespielt. Für die Musik Wagners hat Wilhelm sich wenig zu begeistern vermocht und Lortzing Wagner immer vorgezogen. In der späteren Zeit war seine Vorliebe für Bayreuth eher durch Houston Stewart Chamberlains »Grundlagen des XIX. Jahrhunderts« als durch Wagners Musik vermittelt.
Dazu hat entscheidend die malerische und bildhauerische Bearbeitung des Nibelungenstoffs beigetragen; vgl. Ulrich Schulte-Wülwer, Das Nibelungenlied in der deutschen Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts, Gießen 1980; Das Nibelungenlied in den Augen der Künstler vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Katalog zur Ausstellung der Staatlichen Bibliothek Passau vom 2.5.–12.6.1986, Passau 1986.
Vgl. Adolf Dresen, Siegfrieds Vergessen. Kultur zwischen Konsens und Konflikt, Berlin 1992, S. 71ff.
Vgl. Herfried Münkler/Wolfgang Storch, Siegfrieden. Politik mit einem deutschen Mythos, Berlin 1988, S. 86ff.
Zitiert nach Klaus von See, Kulturkritik und Germanenforschung zwischen den Weltkriegen, in: Historische Zeitschrift, 245, 1987, S. 350f.
Dazu eingehend Annelise Thimme, Flucht in den Mythos. Die Deutschnationale Volkspartei und die Niederlage von 1918, Göttingen 1969, S. 76 ff; sowie Detlef Lehnen, Propanganda des Bürgerkrieges? Politische Feindbilder in der Novemberrevolution als Destabilisierung der Weimarer Demokratie, in: Politische Teilkulturen, S. 63ff.;
Jürgen Bergmann, »Das Land steht rechts!« Das agrarische Milieu, in: Politische Identität und nationale Gedenktage. Zur politischen Kultur in der Weimarer Republik, hg. von Detlef Lehnert und Klaus Megerle, Opladen 1989, S. 195.
Richard Wagner, An das deutsche Heer vor Paris, in: Sämtliche Schriften und Dichtungen, Bd. 9, Leipzig 1907, S. 1f.
Zitiert nach Werner Wunderlich, Der Schatz des Drachentöders, Stuttgart 1977, S. 71.
Hierzu und zum folgenden vgl. Ernst Hanisch, Die politisch-ideologische Wirkung und ›Verwendung‹ Wagners, in: Ulrich Müller/Peter Wapnewski (Hg.), Richard-Wagner-Handbuch, Stuttgart 1986, S. 638ff.; daß auch im liberalen Besitz- und Bildungsbürgertum sich mit Wagners Musik nationalromantische Emotionen verbanden, zeigt Elfi Bendikat, »Wir müssen Demokraten sein.« Der Gesinnungsliberalismus, in: Politische Identität und nationale Gedenktage, S. 142.
Werner Sombart, Helden und Händler. Patriotische Besinnungen, München und Leipzig 1915, S. 42: »Wie aber die Motivierung des Krieges bei diesem Händlervolke eine rein kommerzialistische ist: dieselbe, die von Rechts wegen jeder kapitalistischen Unternehmung zugrunde liegt, nämlich möglichst hohen Profit zu erzielen, wird der Krieg selber dann auch als gar nichts anderes denn als eine kapitalistische Unternehmung angesehen und als solche organisiert. Da ist denn nur der vornehmste Gedanke: man führt nicht selbst Krieg, sondern man läßt Krieg führen.«
Max Braun, Nibelungenland. Roman aus der deutschen Westmark in zwei Büchern, Ludwigshafen 1933, S. 30; zitiert nach Wunderlich, Der Schatz des Drachentöders, S. 80.
Josef Weinheber, Sämtliche Werke, Bd. 2, Gedichte. Zweiter Teil, hg. von J. Nadler und H. Weinheber, Salzburg 1954, S. 247.
Klaus Theweleit, Männerphantasien, Bd. 1: Frauen, Fluten, Körper, Geschichte, Frankfurt/M. 1977, S. 178ff.; Bd. 2: Zur Psychoanalyse des Weißen Terrors, Frankfurt/M. 1978, S. 165ff.
Friedrich Hebbel, Sämtliche Werke, 1. Abtig., Bd.6, Berlin 1904, S. 450f.
Börries von Münchhausen, Ein Lied Volkers, in: Das Baiadenbuch des Freiherrn Börnes von Münchhausen, Stuttgart 1924, S. 45f.
Hans Naumann, Das Nibelungenlied — eine staufische Elegie oder ein deutsches Nationalepos? Bonn 1942 (Kriegsvorträge der Rheinischen Friedrich-Wilhelm-Universität Bonn a.Rh., Heft 100), S. 23.
Klaus Bojunga, Mittelalterliche Nibelungensage und Nibelungendichtung im Unterricht auf der Obersekunda höherer Schulen, Frankfurt/M. 1928, S. 121.
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Münkler, H. (1995). Mythen-Politik. In: Bermbach, U., Borchmeyer, D. (eds) Richard Wagner — »Der Ring des Nibelungen«. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-03614-8_10
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Publisher Name: J.B. Metzler, Stuttgart
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