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Kleist und Kafka

Eine Nachprüfung

  • Chapter
Kleist-Jahrbuch 1995
  • 58 Accesses

Zusammenfassung

Heinrich von Kleist und Franz Kafka verbindet eine künstlerische Beziehung, die, vielfach interpretiert und gewürdigt, aus zwei Perspektiven betrachtet zu werden verdient. Die erste Perspektive — man könnte sie die des unbefangenen Blicks nennen — erschließt die thematischen und strukturellen Gemeinsamkeiten, die das Werk beider Autoren verknüpft; die zweite — die der historischen Korrektur — vermittelt die Einsicht in die tiefgreifenden Differenzen, die es trennt. Literaturwissenschaftliche Einflußforschung, die den Anspruch auf Objektivität erhebt, muß gestützt sein durch philologische Zuverlässigkeit und geschichtliches Bewußtsein. Die Vergleiche zwischen Kleist und Kafka, wie sie germanistische Arbeiten seit Jahrzehnten immer wieder unternommen haben, lebten meist aus der Sensibilität des unbefangenen Blicks, aber selten aus der Legitimität, die allein die historische Perspektive verschafft. Ihr Vorgehen war häufig nicht wissenschaftskonform, insofern es von naiven Beobachtungen ausging, ohne diese durch die Möglichkeiten eines ideengeschichtlich differenzierenden Verfahrens zu kontrollieren. An die Stelle der erforderlichen Objektivität trat damit die Sichtweise des Liebhabers, die Tendenz zum anregenden, aber sachlich unzureichenden philologischen Dilettantismus. Die folgenden Überlegungen wollen die Rückkehr zu einer angemessenen Auseinandersetzung mit den Bezügen zwischen Werken beider Autoren anbahnen und das Gespür für die Differenz im Ähnlichen entwickeln helfen, die diese Bezüge kennzeichnet.

»Paradoxien beschämen immer — daher sie auch so verschrieen sind. «

(Novalis, Teplitzer Fragmente, Nr.378)

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Notizen

  1. Bereits 1916 betont Oskar Walzel in einer für das >Berliner Tageblatt< (6. 7. 1916) verfaßten Rezension von Kafkas >Heizer< die Bezüge zur Prosa Kleists (J. Born [Hrsg.], Franz Kafka. Kritik und Rezeption zu seinen Lebzeiten 1912–1924, Frankfurt/M. 1979, S.143). »Seit dem Michael Kohlhaas« sei keine deutsche »Novelle« (!) von vergleichbar kühler Konzentration geschrieben worden, erklärt Kurt Tucholsky 1920 zu Kafkas >In der Strafkolonie< (>Weltbühne<, 13. 6. 1920. In: J. Born [Hrsg.], Kritik und Rezeption, S. 94; Tucholsky und sein >Rheinsberg<-Illustrator Safranski hatten im September 1911 über Vermittlung Max Brods Kafka in Prag persönlich kennengelernt. Als »Großsohn von Kleist« apostrophiert Tucholsky Kafka einige Jahre später in einer Besprechung von Ludwig Hardts Berliner Lesung vom 1.12.1921 (Born, S. 135). Alfred Wolfenstein erklärt 1923 im >Neuen Merkur< zum >Landarzt<-Band, die Titel-Erzählung sei »im raschen Takt eines feinen Kleist« gehalten (eine Charakterisierung, die im Hinblick auf den parataktischen Erzählrhythmus des Werkes nicht überzeugt), (Born, S. 161). Nach Kafkas Tod im Juni 1924 wird der Kleist-Vergleich förmlich zum Exordialtopos der zeitgenössischen Würdigungen und Charakterisierungsversuche. Am gründlichsten setzt sich in dieser frühen Rezeptionsphase Max Brod, wohl auch aus intimer Kenntnis von Kafkas eigener Kleist Vorliebe, 1927 in Willy Haas’ >Literarischer Welt< (>Infantilismus. Kleist und Kafka<, 3. Jg., Nr. 28, 15.7. 1927, S.3 f.) mit den stilistischen Gemeinsamkeiten zwischen beiden Autoren auseinander. Seinen Thesen schließen sich Siegfried Kracauer, Carl Seelig, Walter Muschg, Egon Vietta und Albert Ehrenstein in den Jahren bis 1931 weitgehend an (J. Born [Hrsg.], Franz Kafka. Kritik und Rezeption 1924–1938, Frankfurt/M. 1983, S. 192, 203, 247, 266, 298).

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  2. Zeugnisse der vergleichenden Forschung: R. Gruenter, Beitrag zur Kafka-Deutung. In: Merkur 25, 1950, S.278–287 (nähere Hinweise auf Stilbezüge), W. Emrich, Kleist und die moderne Literatur. In: Heinrich von Kleist, hrsg. v. W. Müller-Seidel, Berlin 1962, S.9–25 (Kleists Werk als früher Ausdruck modernen Krisenbewußtseins), H. Binder, Motiv und Gestaltung bei Franz Kafka, Bonn 1966, S.279 f. (kontrastiver Stilvergleich), F. G. Peters, Kafka and Kleist: A Literary Relationship. In: Oxford German Studies 21, 1966, S.114–162 (Familienkonflikt als Zentralmotiv in >Marquise von O…< und >Verwandlung<), J. Dittkrist, Vergleichende Untersuchungen zu Heinrich von Kleist und Franz Kafka, Mainz, Aachen 1971, S. 79 ff. (Bedeutung der Paradoxie), 158 ff. (kommentarloses Erzählen), 178 f. (Funktion des Gestischen), R. Nicolai, Kafkas Stellung zu Kleist und der Romantik. In: Studia Neophilologica 45, 1973, S.88–103 (Anmerkungen zur bei beiden Autoren begegnenden Deutung des SündenfallMotivs), B. Allemann, Kleist und Kafka. Ein Strukturvergleich. In: Franz Kafka. Themen und Probleme, hrsg. v. C. David, Göttingen 1980, S.152–172 (Analyse der Zeitgestaltung), B. Nagel, Kafka und die Weltliteratur. Zusammenhänge und Wechselwirkungen, München 1983, bes. S.211 ff. (Hinweise auf das Strafmotiv, Betonung auch der Gegensätze), J. M. Grandin, Kafka’s Prussian Advocate. A Study of the Influence of Heinrich von Kleist on Franz Kafka, Columbia 1987, bes. S. 156 ff. (grundlegend im Hinblick auf das Freiheitsproblem bei beiden Autoren).

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  3. F. Kafka, Briefe an Felice und andere Korrespondenz aus der Verlobungszeit, hrsg. v. J. Born und E. Heller, Frankfurt/M. 1967 (= F), S.460.

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  4. Vgl. hier H. J. Kreutzer, Die dichterische Entwicklung Heinrichs von Kleist (wie Anm. 9), S. 90 f. Ein wenig zu pointiert scheint mir die These der vorzüglichen Arbeit von J. Schmidt, der Kleists briefliche Hinweise auf die Kant-Lektüre als »nachträgliche« philosophische Rechtfertigung für die Flucht vor Amts- und (möglichen) Ehepflichten deutet (J. S., Heinrich von Kleist. Studien zu seiner poetischen Verfahrensweise, Tübingen 1974, S.5).

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  5. Zu Bildungssozialisation und kulturellen Einflüssen grundlegend G. Kurz, Der junge Kafka im Kontext. In: G. Kurz (Hrsg.), Der junge Kafka, Frankfurt/M. 1984, S. 7–40, ferner zur spezifischen Situation in Prag H. Binder (Hrsg.), Kafka-Handbuch, Stuttgart 1979, bes. Bd. I, S. 85 ff. (Verf.: Ch. Stölzl).

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  6. Die Schriften Darwins und Haeckels >Welträthsel< (1892) lernte Kafka, wie sein Mitschüler Emil Utitz berichtet hat, in den letzten Gymnasialjahren durch die Vermittlung seines Naturgeschichtslehrers Adolf Gottwald kennen. Vgl. dazu K. Wagenbach, Franz Kafka. Eine Biographie seiner Jugend 1883–1912, Bern 1958, S.60f., ferner H. Binder, Kafka-Kommentar zu sämtlichen Erzählungen, München 1975, S.25, 35.

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  7. Dazu neuerdings sehr instruktiv K. E. Grözinger, Kafka und die Kabbala. Das Jüdische in Werk und Denken von Franz Kafka, Frankfurt/M. 1992.

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  8. F. Kafka, Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande und andere Prosa aus dem Nachlaß, hrsg. v. M. Brod, FrankfurtlM. 1983 (= H), S. 52.

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  9. Vgl. dazu, am Beispiel der Prosa, K. Müller-Salget, Das Prinzip der Doppeldeutigkeit in Kleists Erzählungen (1973). In: W. Müller-Seidel (Hrsg.), Kleists Aktualität (wie Anm. 8), S.166–200.

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  10. Vgl. zu den Nuancierungen des Lebensbegriffs im Kontext der Moderne G. Kurz, Traum Schrecken. Kafkas literarische Existenzanalyse, Stuttgart 1980, S. 141 ff.

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  11. Besonders prägnante Beispiele: A. Schnitzler, Sterben (1892), H. v. Hofmannsthal, Soldatengeschichte (1895), Th. Mann, Der kleine Herr Friedemann (1898), R. M. Rilke, Die Turnstunde (1902).

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  12. Vgl. M. Brod, Franz Kafka. Eine Biographie, Frankfurt/M. 1967 (zuerst 1937), S.49 f., K. Wagenbach, Franz Kafka (wie Anm. 18). S. 118 f.

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  13. S. Kierkegaard, Der Begriff Angst (1844), in: Gesammelte Werke, hrsg. v. E. Hirsch und H. Gerdes, Abt. 11/12, Gütersloh 1991, bes. S.27ff., 116f., 161 f.

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  14. Auf die Beziehungen zum triadischen Denkschema idealistischer Geschichtsphilosophie verweisen nahezu sämtliche neueren Interpretationen der Erzählung, ohne daß jedoch das Verhältnis zum späteren Essay >Über das Marionettentheater< geklärt wird. Vgl. hier zumal die Beiträge von F. A. Kittler, N. Altenhofer, K. H. Stierle und H. J. Schneider in: D. E. Wellbery (Hrsg.), Positionen der Literaturwissenschaft. Acht Modellanalysen am Beispiel von Kleists >Das Erdbeben in Chili<, München 1985 (S.31, 48, 57, 118 f.), ferner B. Schulte, Unmittelbarkeit und Vermittlung (wie Anm.25). S.200f.

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  15. Vgl. etwa J. J. Rousseau, Julie oder Die neue Héloise [1761], mit Anmerkungen und einem Nachwort hrsg. von R. Wolff, München 1988, S. 633 f. (Darstellung der Weinlese als paradiesische Idvlle).

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  16. Vgl. dazu K. O. Conrady, Das Moralische in Kleists Erzählungen. Ein Kapitel vom Dichter ohne Gesellschaft. In: Literatur und Gesellschaft vom neunzehnten ins zwanzigste Jahrhundert. Festschrift f. Benno v. Wiese, Bonn 1963, S.56–82, hier S. 79.

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  17. F. Kafka, Ein Landarzt. In: Sämtliche Erzählungen, hrsg. v. P. Raabe, Frankfurt/M. 1970 (= E), S. 142.

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Alt, PA. (1995). Kleist und Kafka. In: Kreutzer, H.J. (eds) Kleist-Jahrbuch 1995. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-03595-0_7

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