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»nur was nicht aufhört, weh zu thun, bleibt im Gedächtniss«

Zur Typogenese des Kleist-Bildes in der deutschen Literatur der Moderne

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Kleist-Jahrbuch 1995

Zusammenfassung

Die lebendige Erinnerung an Dichter gelingt professionellen Literaturhistorikern selten, was vermutlich damit zusammenhängt, daß das Gedächtismodell unserer Zunft kein natürliches, sondern ein künstliches ist: Ich meine das Modell des Magazins. Der Literaturhistoriker magaziniert, indem er seine Reminiszenzen in den nach systematischen und chronologischen Prinzipien mehr oder weniger geordneten Speichern der Wissenschaft als ein wiederholbares, erlernbares Wissen zur Verfügung stellt. Er sammelt zumeist Antworten statt Fragen. Umgekehrt wäre es besser. Wenn alles zureichend erklärt ist, beunruhigt den Leser nichts mehr — folglich kann er kaum mehr eine eigene Erfahrung machen. Er konsumiert einfach und vergißt wieder. Dann funktioniert auch eine Monographie wie eine Tageszeitung: Eine Nachricht wechselt die andere ab — und unserem Augenblicksverstand prägt sich nichts mehr ein. Im Falle Kleists ist es tröstlich zu wissen, daß der Dichter für die nötige Fragekultur selbst vorgesorgt hat. Er zwang der Nachwelt eine andere Form des Eingedenkens an ihn auf. Er wählte eine Mnemotechnik, die effektiver, aber alles andere als harmlos ist. Hier magaziniert man nicht, sondern graviert. Man ritzt die Erinnerungsbilder in die Wachstafeln der Seele oder des Körpers, damit sie lebendig bleiben.1 Wie man sich das konkret vorzustellen hat, beschreibt Friedrich Nietzsche in der zweiten Abhandlung der >Genealogie der Moral<:

»Man brennt Etwas ein, damit es im Gedächtniss bleibt: nur was nicht aufhört, weh zu thun, bleibt im Gedächtniss« — das ist ein Hauptsatz aus der allerältesten (leider auch allerlängsten) Psychologie auf Erden. […] Es gieng niemals ohne Blut, Martern, Opfer ab, wenn der Mensch es nöthig hielt, sich ein Gedächtniss zu machen.2

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Notizen

  1. Die beiden Gedichte von Rainer Maria Rilke >An Heinrich von Kleists wintereinsamem Waldgrab in Wannsee< (1899) und Hans Erich Nossack >Kleists Totenmaske< (1947) finden sich in der Anthologie von Helmut Sembdner (Hg.), Kleist in der Dichtung, 2. Aufl. Frankfurt/M. 1985, S. 22 bzw. 143, die im folgenden zitiert wird als >Kleist in der Dichtung<.

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  2. Vgl. Wilfried Barner, Produktive Rezeption. Lessing und die Tragödien Senecas, München 1973, sowie Gunter E. Grimm, Rezeptionsgeschichte. Grundlegung einer Theorie, München 1977.

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  3. Vgl. hierzu Harold Bloom, The Anxiety of Influence. A Theory of Poetry, New York/ Oxford 1973.

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  4. Vgl. Helmut Sembdner (Hg.), Heinrich von Kleists Nachruhm. Eine Wirkungsgeschichte in Dokumenten, Neuausgabe Frankfurt/M. 1984 — im folgenden zitiert als >Nachruhm<, verbunden mit der Dokumenten-Nummer, sowie Peter Goldammer, Schriftsteller über Kleist, Berlin und Weimar 1976 — im folgenden zitiert als >Schriftsteller über Kleist<.

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  5. Zu Robert Walsers Kleist- und Selbstporträt vgl. Timm Reiner Menke, Lenz-Erzählungen in der deutschen Literatur, Hildesheim/Zürich/New York 1984, S.85–104.

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  6. Zum Verhältnis von Orthodoxie und Heterodoxie in der Kanonbildung vgl. den Aufsatz von Alois Hahn, Kanonisierungsstile. In: Kanon und Zensur. Beiträge zur Archäologie der literarischen Kommunikation II, hg. von Aleida und Jan Assmann, München 1987, S.28–37.

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  7. Vgl. hierzu Walter Müller-Seidel, Kleists >Hypochondrie<: Zu seinem Verständnis in klassischer und moderner Ästhetik. In: Texte, Motive und Gestalten der Goethezeit. Festschrift für Hans Reiss, hg. von John L. Hibberd und H. B. Nisbet, Tübingen 1989, S.225–250.

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  8. Vgl. Thomas Mann, Betrachtungen eines Unpolitischen. In: Gesammelte Werke in dreizehn Bänden. Bd. 4, zweite, durchgesehene Auflage Frankfurt/M. 1974, S.153–155.

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  9. Vgl. Georg Minde-Pouet, Die Kleist-Gesellschaft. In: Deutscher Kulturwart (Cottbus), März/April 1935, S.93, zitiert nach Rolf Busch, Imperialistische und faschistische Kleist Rezeption 1890–1945. Eine ideologiekritische Untersuchung, Frankfurt/M. 1974, S.111. Zu Georg Minde-Pouets Position, mit der die Kleist-Gesellschaft nicht bruchlos zu identifizieren ist, vgl. weiter Hans Joachim Kreutzer, »…der erste nationalsozialistische Dichter der Vergangenheit …«. Georg Minde-Pouets Krisenbericht von 1936. In: Kleist-Jahrbuch 1992, S.187–192. Zur Kleist-Rezeption im Nationalsozialismus vgl. außer dem grundlegenden Werk von Busch neuerdings auch Claudia Albert (Hg.), Deutsche Klassiker im Nationalsozialismus: Schiller, Kleist, Hölderlin, Stuttgart/Weimar 1994.

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  10. Georg Minde-Pouet, Kleists Vermächtnis. In: Festschrift zur Kleist-Woche 1936, Bochum/Leipzig 1936, S.8.

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  11. Vgl. hierzu Theo Honnef, Heinrich von Kleist in der Literatur der DDR, New York/Bern/Frankfurt/M. / Paris 1988; sowie Bernd Leistner, Kleist in der neueren DDR-Literatur. In: Heinrich von Kleist. Werk und Wirkung, hg. von Dirk Grathoff, Opladen 1988, S. 329–354. Ich darf außerdem auf die Beiträge von Hilda M. Brown und Tadeusz Namowicz in diesem Kleist-Jahrbuch verweisen, die es mir erlauben, auf eine Analyse der Rezeption Kleists in der DDR zu verzichten.

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  12. Zu Inszenierungen und Verfilmungen Kleists und zu Kleist-Dichtungen seit 1968 vgl. Klaus Kanzog (Hg.), Erzählstrukturen — Filmstrukturen. Erzählungen Heinrich von Kleists und ihre filmische Realisation, Berlin 1981, und ders., Vom rechten zum linken Mythos. Ein Paradigmenwechsel der Kleist-Rezeption. In: Heinrich von Kleist. Studien zu Werk und Wirkung, hg. von Dirk Grathoff, Opladen 1988, S.312–328; außerdem Michael Perraudin, Heinrich Böll: Approaches to Kleist. In: Sprachkunst 19, 1988, S.117–134; vgl. weiter die Artikel von Günther Rühle, Kleist — ein Autor der siebziger und achtziger Jahre, und Christof Schmid, Theater im deutschen Fernsehen — Kleist als Beispiel, im Kleist-Jahrbuch 1991; die Studie von Mary Rhiel, Re-Viewing Kleist. The Discoursive Construction of Authorial Subjectivity in West German Kleist Films, New York / San Francisco / Bern / Frankfurt/M. / Paris / London 1991; den Aufsatz von Rolf Bäumer und Peter Seibert, Kleists Theatertexte als Medienereignis der 80er Jahre. Bühne, Film und Bildschirm oder Paradoxien der Transformation bei Neuenfels, Syberberg u. a. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 21, 1991, S. 89–104, sowie die Studie von Rumjana Kiefer, Kleists Erzählungen in der Literatur der Gegenwart. Ein Beitrag zur Geschichte der Intertextualität am Beispiel von Texten A. Muschgs, E. L. Doctorows und E. Plessens, St. Ingbert 1994.

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  13. Vgl. hierzu Erika Müller-Lauter, Geschichte des Kleist-Grabes. In: Kleist-Jahrbuch 1991, S. 229–256.

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  14. Vgl. Arthur Schopenhauer, Parerga und Paralipomena I. In: Werke in fünf Bänden, hg. von Ludger Lütkehaus, Band 4, Zürich 1988, S.387.

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Blamberger, G. (1995). »nur was nicht aufhört, weh zu thun, bleibt im Gedächtniss«. In: Kreutzer, H.J. (eds) Kleist-Jahrbuch 1995. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-03595-0_5

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  • Publisher Name: J.B. Metzler, Stuttgart

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