Zusammenfassung
Die in der deutschen Kultur bereits weit verbreitete Kritik, oder besser Anprangerung der Moderne erfuhr durch den Zusammenstoß mit den Ländern mit gefestigteren liberaldemokratischen Traditionen während des Ersten Weltkriegs eine erneute Radikalisierung. Die »Ideen von 1914«, verwirklicht in der einstimmigen Kriegsgemeinschaft Deutschlands, richten sich erklärtermaßen gegen die »Ideen von 1789«: Diese Ideen gelten synonym für die Vorherrschaft der »Politik«1 und für Demokratie, genauer noch, sind das Synonym für eine »bürgerliche« Demokratie, weil sie durch und durch von dem abergläubischen Kult einer trägen und selbstgefälligen »Sicherheit« durchdrungen sind. Nicht nur die Französische Revolution wird aufs Korn genommen: Die Kritik der »Modernität«, der »Jetztzeit«, des »Zeitgeistes« geht viel weiter, und erfaßt, wie es Thomas Mann mit ausdrücklichem Bezug auf Nietzsche sagt, die »Ideen des achtzehnten Jahrhunderts«, die »modernen Ideen« als solche.2
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Anmerkungen
Th. Mann, Betrachtungen eines Unpolitischen, zit., S. 484 und S. 575; Th. Mann, Einkehr (1917), in Id. Essays, zit., Bd. 3, S. 38.
C. Schmitt, Der Wert des Staates und die Bedeutung des Einzelnen, Tübingen 1914, S. 1–5.
C. Schmitt, Politische Romantik (1919), Berlin 1968, S. 144.
J. Herf, Reactionary Modernism. Technology, Culture and Politics in Weimar and the Third Reich, New York 1984.
Vgl. J. Hermand, Der alte Traum vom neuen Reich. Völkische Utopien und Nationalsozialismus, Frankfurt a. M. 1988, S. 266.
R. W. Darré, Neuadel aus Blut und Boden (1930), München 1939, S. 87 und S. 91; was die Figur Darrés betrifft, vgl. A. Bramwell, Blood and Soil, Richard Walther Darré and Hitler’s Green Party, The Kensal Press, Buckinghamshire 1985.
S. Vietta, Heideggers Kritik am Nationalsozialismus und an der Technik, Tübingen 1989, S. 12 und S. 17.
So in einer Passage der Vorlesung über Schelling (Sommersemester 1936), die in den Drucktext nicht aufgenommen wurde: Schelling. Abhandlung über das Wesen der menschlichen Freiheit (1809), Tübingen 1971. Siehe hierzu den Brief Carl Ulmers an »Der Spiegel« vom 2. Mai 1977 und O. Pöggeler, Heideggers politisches Selbstverständnis, zit., S. 37 und S. 59, Anm. 11; vgl. außerdem jetzt M. Heidegger, Schelling: Vom Wesen der menschlichen Freiheit (1936), in GA, Bd. 42, S. 40 f. In jenen Jahren gilt Nietzsche so wenig als Nihilist, daß Jaspers, die Rektoratsrede Heideggers wohlwollend kommentierend (vgl. oben, Kap. II, 2), den Autor beglückwünscht und ihn mit Nietzsche vergleicht (und alles spricht dafür, daß das Kompliment gern entgegengenommen wurde).
Jaspers problematische Lesart Nietzsches, darauf bedacht, auch dessen widersprüchliche und aporetische Aspekte herauszustreichen, wird als eine Art psychologistischer Reduktionismus verurteilt und als die »größte Verfälschung« bezeichnet: vgl. M. Heidegger, Nietzsche: Der Wille zur Macht als Kunst, zit., S. 278; der für diese Verurteilung insbesondere herangezogene Text ist K. Jaspers, Nietzsche. Einführung in das Verständnis seines Philosophierens, Berlin/Leipzig 1936. Zu Unrecht schweigt sich diese Polemik allerdings völlig über die Berührungspunkte der beiden Lesarten Nietzsches aus, die sehr wohl bestehen.
F. Nietzsche, Der Wanderer und sein Schatten (1879), Aph. 218.
Im August 1941 erklärt der an der Ostfront eingesetzte General Franz Halder den erbitterten und unvorhergesehenen Widerstand der Sowjetunion damit, daß sie sich »mit der ganzen Hemmungslosigkeit, die totalitären Staaten eigen ist«, gründlich auf den Krieg vorbereitet habe: abgedruck in Dokumente zur deut-schen Geschichte. 1939–1942, hg. von W. Ruge und W. Schumann, Frankfurt a. M. 1977, S. 82. Um Deutschland und Italien positiv zu bestimmen, zieht Hitler es vor, von »autoritärem Staat« zu sprechen: vgl. Bormann-Vermerke, zit., Bd. 1 S. 302 f. (Gespräch vom 17. Februar 1942) und Bd. 2, S. 25 f. (Gespräch vom 31. März 1942).
E. Burke, Thoughts on French Affairs (1791) und Remarks on the Policy of the Alies with respect to France (1793), in Id., The Works. A new Edition, London 1826, Bd. 7, S. 9 und S. 179. Die Kategorie »totale Revolution« wird dann zum Leitmotiv der Anklagerede von Gentz gegen die Französische Revolution (vgl. D. Losurdo, Vincenzo Cuoco, la Rivoluzione napoletana del 1799 e la comparatistica delle rivoluzioni, in »Società e Storia« 1989, Nr. 46, S. 895–921). Für Schmitt hat die Französische Revolution die » totale ›bürgerliche Gesellschaft‹« hervorgebracht: vgl. C. Schmitt, Uber die drei Arten des rechtswissenschaftlichen Denkens, zit., S. 44.
B. Croce, Aspetti morali della vita politica (1928), in Id., Etica e politica, zit., S. 235.
C. Schmitt, Staatsethik und pluralistischer Staat (1930), in Id., Positionen und Begriffe, zit., S. 143.
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Losurdo, D. (1995). Zwischen »Blut und Boden« und reaktionärem Modernismus. In: Die Gemeinschaft, der Tod, das Abendland. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-03593-6_5
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