Zusammenfassung
Das Problem der kulturellen Stereotypen des Weiblichen im allgemeinen und der sozialen Stigmatisierung des >gelehrten Frauenzimmers< im besonderen kann nicht auf der Ebene der Persönlichkeitsstruktur einzelner Menschen und ihrer mehr oder weniger individuellen Idiosynkrasien allein betrachtet werden. So ist Johann Gottfried Herders Idealisierung des natürlich-empfindsamen Frauentyps und seine individuelle >Abscheu< vor dem >gelehrten Frauenzimmer<2 zugleich auch Ausdruck für ein gesellschaftliches Kräfte- bzw. Machtverhältnis im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts. Ein soziales Vorurteil als verfestigtes Vorstellungsklischee oder Stereotyp ist — in der etwas eigenwilligen Terminologie von Norbert Elias — immer auch >Seelen- und Gesellschaftsinkarnat<3, d. h. Zeichen individueller und gesellschaftlicher Differenzierungen: in diesem Fall der Verhaltens- und Affektmodellierung einer gesellschaftlichen Figuration, der Gebildeten des dritten Standes als Amtsanwärter innerhalb des feudal-absolutistischen Staatsapparates, und einer ihrer Unter- bzw. Teilfigurationen: der Schwestern, Verlobten, Ehefraucn und Töchter. Im Zuge der gcsellschafrlichcn Assimilations- und Ernanzipationstendenzen im Verlauf des 17. und 18. Jahrhunderrs bildet sich eine spezifische Machtbalance zwischen Adel und Bürgerturn, zwischen Männern und Frauen heraus, wobei die eine Gruppe die andere »nur so lange wirksam zu stigmatisieren [verrnag], wie sie sicher in Machtpositionen sitzt, zu denen die stigmatisierte Gruppe keinen Zugang hat.«4 Während die Bildungsamb itionen der bürgerlichen Sühne im 18.
Ich kenne nichts Trivialeres, als die Vorstellung unserer meisten Aufklärer, auch Dichter, über die Frauen.
Charlotte von Kalb1
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Notizen
Brief an Jean Paul vom 16. Juni 1799, in: Charlotte von Kalb, Briefe an Jean Paul und dessen Gattin, hrsg. v. Paul Nerrlich, Berlin 1882, S.64.
Norbert Elias, Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen, 2 Bde., Frankfurt a. M. 1976, 1, 157: »Was immer wir auch an menschlichen Erscheinungen, an Haltungen, Wünschen oder Gestaltungen für sich betrachten, losgelöst vom gesellschaftlichen Leben der Menschen, es ist seinem Wesen nach Substanzialisierung der menschlichen Beziehungen und des menschlichen Verhaltens, es ist Gesellschafts- und Seeleninkarnat«.
Norbert Elias/ John L. Scotson, Etablierte und Außenseiter, übers. v. Michael Schröter, Frankfurt a. M. 1990, 14.
Vgl. hierzu Jürgen Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, 17. Aufl., Darmstadt 1987.
Vgl. hierzu auch Inge Stephan, »>Bilder und immer wieder Bilder…< Überlegungen zur Untersuchung von Frauenbildern in männlicher Literatur«. In: Inge Stephan, Sigrid Weigel, Die verborgene Frau, Berlin 1983, 15–35, hier: 19 und Sigrid Weigel, »Die nahe Fremde — Das Territorium des >Weiblichen<. Zum Verhältnis von >Wilden< und >Frauen< im Diskurs der Aufklärung«. In: Die andere Welt. Studien zum Exotismus, hrsg. v. Thomas Koebner, Gerhart Pickerodt, Frankfurt a. M. 1987, 171–200, bes. 180, 189.
Vgl. hierzu Barbara Duden, »Das schöne Eigentum. Zur Herausbildung des bürgerlichen Frauenbildes an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundern«, in: Kursbuch 47 (1977), 125–140, Karin Hausen, »Die Polarisierung der >Geschlechtscharaktere<. Eine Spiegelung der Dissoziation von Erwerbs- und Familienleben«, in: Seminar: Familie und Gesellschaftstruktur. Materialien zu den sozioökonomischen Bedingungen von Familienformen, hrsg. v. Heidi Rosenbaum, Frankfurt a. M. 1978, 161–195 und Annette Kuhn, »Das Geschlecht — eine historische Kategorie?«, in: » Wissen heiβt leben…« Beiträge zur Bildungsgeschichte von Frauen im 18. und 19. Jahrhundert, hrsg. v. Ilse Brehmer [u. a.], Frauen in der Geschichte 4. Geschichtsdidaktik: Studien, Materialien 18, Düsseldorf 1983, 29–51.
Vgl. hierzu Claudia Honegger, Die Ordnung der Geschlechter. Die Wissenschaften vom Menschen und das Weib 1750–1850, Frankfurt, New York 1991, 4; die binären Schematismen >außen</ >innen<, >stark</ >schwach<, >aktiv</ >passiv< haben schließlich im Abendland eine Tradition, die sich bis auf die Antike zurückverfolgen läßt; Thomas Laqueur weist in seiner Studie Auf den Leib geschrieben. Die Inszenierung der Geschlechter von der Antike bis Freud, Frankfurt a. M., New York 1992, 36f jedoch darauf hin, daß die »nach dem 18. Jahrhundert so einflußreiche Vorstellung, daß es außerhalb und innerhalb des Körpers und überall im Körper etwas geben müsse, was das Männliche als Gegensatz zum Weiblichen bestimmt und die Grundlage bildet für die Anziehung der Gegensätze«, in »der Medizin der klassischen Antike und der Renaissance« so nicht zu finden sei; vgl. ebd., 173: »man erfand zwei biologische Geschlechter, um den sozialen eine neue Grundlage zu geben«.
Friederike J. Hassauer-Roos, »Das Weib und die Idee der Menschheit. Zur neueren Geschichte der Diskurse über die Frau«, in: Fachwissenschaftliche und fachdidaktische Beiträgezur Geschichte der Weiblichkeit vom frühen Mittelalter bis zur Gegenwart, hrsg. v. Annette Kuhn, Jörn Rüsen, Frauen in der Geschichte 3, Düsseldorf 1983, 87–108, hier: 103f.
Norbert Elias, »Vorwort« in: Bram van Stolk, Cas Wouters, Frauen im Zwiespalt. Zwischen Frauenhaus und Zuhause: Beziehungsprobleme im Wohlfahrtsstaat, Frankfurt a. M. 1987, 9–17, hier: 12.
Vgl. hierzu Londa Schiebinger, »Anatomie der Differenz. >Rasse< und Geschlecht in der Naturwissenschaft des 18. Jahrhunderts«, in: Feministische Studien 11 (1993), 48–65 und Laqueur (Anm. 8), 178: »Die wissenschaftliche Rasse etwa — die Vorstellung also, daß die Biologie durch das Aufzeigen einer getrennten Erschaffung verschiedener Rassen (Polygenesis) oder durch den simplen Nachweis von Unterschieden trotz >natürlicher Gleichheit< eine Erklärung für Statusunterschiede abgeben könnte — entwickelte sich zur selben Zeit und als Reaktion auf dieselbe Art Zwänge wie das wissenschaftliche Geschlecht«.
Theodor Gottlieb von Hippel, Über die bürgerliche Verbesserung der Weiber, Sämmtliche Werke, Berlin 1828, 6, 101 f.
Werner Schneiders, Aufklärung und Vorurteilskritik. Studien zur Geschichte der Vorurteilstheorie, Stuttgart, Bad Cannstatt 1983, 112.
Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, Gesammelte Schriften, hrsg. v. der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1910ff, 5 (1913), 294 (im folgenden GS).
Vgl. hierzu Silvia Bovenschen, Die imaginierte Weiblichkeit. Exemplarische Untersuchungen zu kulturgeschichtlichen und literarischen Präsentationsformen des Weiblichen, 2. Aufl., Frankfurt a. M. 1980, 80 und Barbara Becker-Cantarino, Der lange Weg zur Mündigkeit. Frauen und Literatur in Deutschland 1500 bis 1800, München 1989, 177 f.
Vgl. Susan Cocalis, » Der Vormund will Vormund sein. Zur Problematik der weiblichen Unmündigkeit im 18. Jahrhundert«. In: Gestaltet und gestaltend. Frauen in der deutschen Literatur, hrsg. v. Marianne Burkhard, Amsterdam 1980, 33–57, hier: 48 f
Johann Christoph Adelung, Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, 4 Bde., 2. verm. u. verb. Ausg., Leipzig 1793–1801, 2 (1796), 274; vgl. auch ebd.: »Im gemeinen Leben und der niedrigen Sprechart sind dafür Frauenvolk, Frauensleute, Weibsvolk, Weibsleute, Weibspersonen üblich«.
Johann Gottfried Herder, Werke, 10 Bde., Bd.1: Frühe Schriften 1764–1772, hrsg. v. Ulrich Gaier, Frankfurt a. M. 1985, 401f (im folgenden HW): »Haben wir daher eine Enzyklopädie der Frauenzimmerwissenschaften? — die sich zu den bekanntesten Begriffen herabläßt, in denen sie [die >Frauenzimmer<, d. V.] erzogen worden, sie über Sachen unterrichtet, die rings um sie sind, die Empfindungen entwickelt, die in ihren Herzen schlafen, ihnen ihre ganze Bestimmung und Zwecke stufenweise entwickelt: von der ganzen Gelehrsamkeit, Weltweisheit und schönen Litteratur, von der Geschichte und den schönen Wissenschaften ihnen nur so viel vorhält, als nötig ist, sie zur Schönheit des Geistes zu bilden, ihnen es in der Ordnung vorhält, die sie immer muntrer macht, und mit den Worten, die ihren Lippen entwandt, den Weg wissen, in ihre Seele und an ihr Herz zu schleichen: Haben wir im Deutschen ein solches Buch zur Bildung? Ich zweifle gar, daß eine Mannsperson es schreiben kann….« (HW,1,401f).
Vgl. hierzu auch Heidemarie Bennent, Galanterie und Verachtung. Eine philosophiegeschichtliche Untersuchung zur Stellung der Frau in Gesellschaft und Kultur, Frankfurt a. M. 1985, 45: »Die bürgerlichen Familienideologen wenden sich mit ihren Vorstellungen zum Familienleben, aber auch mit ihrem Frauenbild dezidiert gegen liberale Konzepte der Frühaufklärung, wie sie bei verschiedenen Naturrechtsphilosophen und Bildungstheoretikern auffindbar sind. Angriffspunkte sind auf der einen Seite das vertragsrechtliche Ehemodell und die damit verbundene Emanzipationswirkung zugunsten der Frau und auf der anderen Seite ein Programm weiblicher Gelehrsamkeit«.
Johann Wolfgang Goethe, der seiner Schwester Cornelia u. a. eine Abhandlung über das Studium der Frauen von Bandiera zur Lektüre empfiehlt (vgl. hierzu auch Rolf Engelsing, Der Bürger als Leser, Stuttgart 1974, 315f) schreibt am 12. Oktober 1767 an seine Schwester Cornelia aus Leipzig: » Mittlerweile hofmeistre ich hier an meinen Mägden, und mache allerhand Versuche, manchmal geraths manchmal nicht. Die Mdll. Breitkopf habe ich fast ganz aufgegeben, sie hat zu viel gelesen und da ist Hopfen und Malz verlohren. Lache nicht über diese närrisch scheinende Philosophie, die Sätze, die so paradox scheinen, sind die herrlichsten Wahrheiten, und die Verderbniß der heutigen Welt liegt nur darinne daß man sie nicht achtet. Sie gründen sich auf die verehrenswürdigste Wahrheit: >Plus que les moeurs se raffinent, plus les hommes se depravent<. Kannst du, wie ich wohl glaube, diese Dinge nicht ganz einsehen, so nimm sie als Wahrheiten an die dir einmal aufgeklärt werden sollen, ich werde mich darüber mit dir in keinen Briefwechsel einlassen, es sind Dinge, die sich schwer schreiben« (Werke, hrsg. i. A. der Großherzogin Sophie von Sachsen, Weimar 1887, 4. Abt., 1, 110).
Vgl. Gisela Brinker-Gabler (Hrsg.), Deutsche Dichterinnen vom 16 Jahrhundert bis zur Gegenwart, 3.Aufl., Frankfurt a. M. 1980, 36; vgl. hierzu auch Bovenschen (Anm. 20), 85.
Wolfgang Martens, Die Botschaft der Tugend. Die Aufklärung im Spiegel der Moralischen Wochenschriften, Stuttgart 1968, 525.
Vgl. hierzu Eliabeth Gössmann, »Für und wider die Frauengelehrsamkeit. Eine europäische Diskussion im 17. Jahrhundert«, in: Deutsche Literatur von Frauen, hrsg. v. Gisela Brinker-Gabler, 2 Bde., München 1988, 1, 185–197, hier: 194.
Johann Christoph Gottsched, Die Vernünftigen Tadlerinnen, 2 Theile, Leipzig 1725/26, hier: Erster Jahr-Theil 1725, 7. Stück, 49 ff.
Christoph Martin Wieland, Sämmtliche Werke, 36 Bde., Leipzig 1853–58, 36 (1858), 177–183; hier: 177.
Ibid. 180f.
Johann Gottfried Herder, Sämmtliche Werke, hrsg. v. Bernhard Suphan, 33 Bde., Berlin 1788–1913, 20, 363 (im folgenden SWS).
Vgl. hierzu den Kommentar von Martin Bollacher, in: Johann Gottfried Herder, Werke, 10 Bde., Bd. 6: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, hrsg. v. Martin Bollacher, Frankfurt a. M. 1989.
Jean-Jacques Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag oder Prinzipien des Staatsrechts, Politische Schriften, 2 Bde., hrsg. v. Ludwig Schmidts, Paderborn 1977, 1, 62f.
Jean-Jacques Rousseau, Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen, Schrifien, hrsg. v. Henning Ritter, 2 Bde., Frankfurt a. M. 1988, 1, 191.
Ibid., 222 f.
Jean-Jacques Rousseau, Briefan d’Alembert über das Schauspiel, Schriften, hrsg. v. Henning Ritter, 2 Bde., Frankfurt a. M. 1988, 1, 420.
Vgl. hierzu Ulrike Prokop, » Frauen in der Epoche des Sturm und Drango, in: Sturm und Drang, hrsg. v. Christoph Perels, Frankfurt a. M. 1988, 350–371, hier: 363 ff.
Vgl. hierzu Ulrike Prokop, » Die Einsamkeit der Imagination. Geschlechterkonflikt und literarische Produktion um 1770«, in: Deutsche Literatur von Frauen, 2 Bde., hrsg. v. Gisela Brinker-Gabler, München 1988, 1, 325–366, hier: 339 ff.
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Nübel, B. (1994). Krähende Hühner und gelehrte Weiber. In: Malsch, W. (eds) Herder Jahrbuch Herder Yearbook 1994. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-03581-3_3
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