Zusammenfassung
Entstanden ist die Ästhetik als Diskurs über den Körper. In seiner ursprünglichen Formulierung bei Alexander Baumgarten bezieht sich ihr Begriff nicht in erster Linie auf die Kunst, sondern (wie das griechische Wort aisthesis nahelegt) auf den gesamten Bereich menschlicher Wahrnehmung und Empfindung im Gegensatz zum vergeistigten Bereich begrifflichen Denkens. Die Unterscheidung, die der Begriff »ästhetisch« in der Mitte des 18. Jahrhunderts durchsetzt, bezieht sich nicht auf die Trennung von »Kunst« und »Leben«, sondern auf die von Materiellem und Immateriellem, von Dingen und Gedanken, von Empfindungen und Vorstellungen, von dem, was mit unserem kreatürlichen Leben zusammenhängt, und dem, was im Gegensatz dazu im Inneren unseres Geistes eine eher schattenhafte Existenz fuhrt. Es ist, als würde sich die Philosophie auf einmal des Umstands bewußt, daß es auf einem Gebiet jenseits ihrer geistigen Enklave nur so von Phänomenen wimmelt, die ihrer Gewalt voll und ganz zu entgleiten drohen. Bei diesem Gebiet handelt es sich um nichts weniger als um die Gesamtheit unseres Empfindungsiebens, um unsere Vorlieben und Abneigungen, um die Art und Weise, wie die Welt auf unsere Sinnesoberflächen auftrifft, um das, was uns ins Auge springt und bis in unsere Eingeweide hinein wirkt, sowie um all das, was aus unserer ganz banalen, biologischen Verwurzelung in der Welt hervorgeht. Der Ästhetik geht es um die gröbste und greifbarste Dimension des Menschlichen, welche die Philosophie nach Descartes aufgrund einer merkwürdigen Fehlwahrnehmung irgendwie übersehen hat. In ihr sind also erste Regungen eines primitiven Materialismus auszumachen, die lange unartikuliert gebliebene Rebellion des Körpers gegen die Tyrannei des Theoretischen.
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Notizen
Alexander Gottlieb Baumgarten: Meditationes philosophicae de nonnullis ad poema pertinen-tibus: lat.-dt. = Philosophische Betrachtungen über einige Bedingungen des Gedichts, Übers. und hg. von Heinz Paetzold, Hamburg 1983, S. 19.
D. Attridge, G. Bennington und R. Young (hg.): Post-Structuralism and the Question of History, Cambridge 1987.
Vgl. ferner David E. Wellbury: Lessing’s Laocoon: Semiotics and Aesthetics in the Age of Reason, Cambridge 1984, Kap. 2
sowie K.E. Gilbert und H. Kuhn: A History of Esthetics, New York 1939, Kap. 10.
Howard Caygill: Aesthetics and Civil Society: Theories of Art and Society 1640-1790, Unveröff. Ph.D thesis, University of Sussex, 1982.
Vgl. schließlich Howard Caygill: Art of Judgement, Oxford 1989.
Vgl. Ernst Cassirer: Die Philosophie der Aufklärung, 3. Aufl., Tübingen 1973, S. 456.
Edmund Husserl: Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie. Eine Einleitung in die phänomenologische Philosophie, hg. Walter Biemel, Den Haag 1954, S. 158f.
Franz Kafka zit. nach: Max Brod. Franz Kafka. Eine Biographie, Frankfurt a. M. 1954, S. 94f.
Vgl. Maurice Merleau-Ponty: Signes, Paris 1960, S. 138f.
Jean-Jacques Rousseau: Emil oder Über die Erziehung, Übers. und hg. Ludwig Schmidts, 9. Aufl., Paderborn u.a. 1989, S. 237.
Vgl. Antonio Gramsci: Selections from the Prison Notebooks, ed. Q. Hoare and G. No-well Smith, London 1971, S. 268.
Jean-Jacques Rousseau: Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundsätze des Staatsrechts, in: Sozialphilosophische und politische Schriften, München 1981, S. 314.
Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft, Werke, hg. Wilhelm Weischedel, Bd. 10, 2. Aufl., Frankfurt a.M. 1977, S. 161, B 69, A 68.
Vgl. Seyla Benhabib: Critique, Norm, and Utopia, New York 1986, S. 80-84.
vgl. I.O. Wade: The Structure and Form of the French Enlightenment, Princeton 1977, Bd. 1, Teil 11.
Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts, Werke in zwanzig Bänden, hg. Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Bd. 7, Frankfurt a.M. 1970, S. 343.
Immanuel Kant: Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, Werke, hg. Wilhelm Weischedel, Bd. 12, Frankfurt a.M. 1964, S. 37.
Ernst Cassirer: Das Problem Jean Jacques Rousseau, Darmstadt 1970, S. 22 (1932).
Vgl. Louis Althusser »Ideologie und ideologische Staatsapparate« in: Ideologie und ideologische Staatsapparate, Hamburg und Westberlin 1977, S. 142.
Jean Jacques Rousseau: Emil oder Über die Erziehung, hg. Ludwig Schmidts, Paderborn u.a. 1989, S. 224.
Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik, Bd. II, Werke in zwanzig Bänden, hg. Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Bd. 14, Frankfurt a.M. 1970, S. 20.
Vgl. Annie Marie Osborn: Rousseau and Burke, London 1940, in dem Burke an einer Stelle merkwürdigerweise als Engländer bezeichnet wird.
Vgl. ferner zu Rousseaus politischem Denken J.H. Broome: Rousseau. A Study of his Thought, London 1963;
Stephen Ellenburg: Rousseau’s Political Philosophy, Ithaca 1976;
Roger D. Master: The Political Philosophy of Rousseau, Princeton 1968;
Lucio Colletti: From Rousseau to Lenin, London 1972, Teil 3.
Edmund Burke: An Abridgement of English History, zit. nach WJ.T. Mitchell: Iconology, Chicago 1986, S. 140.
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Eagleton, T. (1994). Freie Einzelheiten. In: Ästhetik. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-03510-3_2
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