Zusammenfassung
Der sechzehnjährige Goethe, der sich in seinen Briefen aus Leipzig an die Schwester als Schulmeister aufspielt, beendet den Katalog der ihr empfohlenen Lektüre mit der Mahnung: »sonst ließ italienisch was du willst, nur den Decameron vom Boccaccio nicht.« (6.12.1765) Der Begründer der Novelle ist inzwischen ein Autor der Weltliteratur geworden, der jedoch für heranzubildende Bürgerstöchter auf den Index gehört. Geschichten, die, wie Tieck schreibt, »anstößig, obszön oder lüstern waren«, konnten der angestrebten Herzensbildung nicht förderlich sein. Die Sujets, die Tieck aufzählt, bestätigen eben die Novelle als die Literatur der ungezogenen Leute: »Unzucht, Ehebruch, Verführung, mit lustigem Geist, sehr oft ohne alles moralisches Gefühl vorgetragen, nicht selten bittre Satyre und Verhöhnung der Geistlichen, die seit Boccaz, um so mehr sie regieren wollten, um so mehr von den Witzigen verspottet wurden, ist der Inhalt der meisten dieser Novellen.« [1] Der Kreis der Romantiker um August Wilhelm Schlegel hat die Renaissance Boccaccios eingeleitet, und so sollten die Schriftsteller des 19. Jahrhunderts ein Genre adaptieren, dessen angestammter Inhalt dem Publikum jener Epoche nicht zuzumuten war. Der Kunstverstand des Autors und das moralische Zartgefühl der, vorwiegend weiblichen, Leserschaft konvergierten nicht mehr miteinander.
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Anmerkungen
Paul Heyse: Vorwort zu Novellenschatz des Auslandes. Hsg. von P.H. Bd. 1. München 1872. S. Xf.
Erich Auerbach: Zur Technik der Frührenaissancenovelle in Italien und Frankreich. Heidelberg 1921. S. 22.
Honoré de Balzac: Tolldreiste Geschichten. Hsg. von Herbert Kühn. Zürich 1989. S. 233.
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Schlaffer, H. (1993). Novellenliebe im 19. Jahrhundert. In: Poetik der Novelle. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-03505-9_5
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DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-476-03505-9_5
Publisher Name: J.B. Metzler, Stuttgart
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Online ISBN: 978-3-476-03505-9
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