Zusammenfassung
Die Figuren im Werk Boccaccios leben, als ob es den Tod nicht gäbe. Weder die Damen und Herren des Rahmens, die brigata, noch die Könige und Kaufleute, die Ritter und Stallknechte, Mönche und Straßenräuber in den Erzählungen samt den vielen »madonne«, mit denen sie es zu tun haben, scheinen zu ahnen, daß sie in einem Reigen tanzen, den der Tod anführt. Ihre übermütigen Gesichter und Grimassen haben es dahin gebracht, daß auch die Leser und Interpreten nur sie und ihr Szenarium — den Rahmen also und die Erzählungen — beachten und die Exposition, die Beschreibung der Pest von 1348, als eine eigenständige historische Beschreibung lesen. Dieser dritte Teil des Werkes aber ist sein eigentlicher Hintergrund.
This is a preview of subscription content, log in via an institution.
Buying options
Tax calculation will be finalised at checkout
Purchases are for personal use only
Learn about institutional subscriptionsPreview
Unable to display preview. Download preview PDF.
Anmerkungen
Aldo S. Bernardo hat in dem Aufsatz The Plague as Key to Meaning in Boccaccio’s ‘Dekameron’ als erster die Struktur des gesamten Werkes von dieser Ausgangssituation her entschlüsselt. In: The Black Death. The Impact of the Fourteenth-Century Plague. Hsg. von Daniel Williman. New York 1982. S. 39–64.
Auch Tzvetan Todorov: Grammaire du Décaméron (Mouton 1969) geht bei seiner Beschreibung des Decameron vom Laster als der Grundstruktur des Werkes aus und bemerkt das Übergewicht sexueller Abenteuer: »Le méfait de loin le plus fréquent, longuement expliqué et illustré dans toute sa variété, est celui de l’acte sexuel sur lequel pèse une interdiction quelconque; le cas le plus courant ici est celui de la femme qui trompe son mari.« (S. 39)
Vgl. dazu Millicent Marcus: The Accomodating Frate Alberto. A Gloss on Decameron TV, 2 (Italica 56, 1979), die so des Alberto Verwandlung interpretiert: »Such a materialistic construction of this event will of course transform the Annunciation into a story of carnal love.« (S. 14)
Edith G. Kern: The Gardens in the Decameron Cornice (PMLA LXVI–1951. S. 505–523) zeigt die Abhängigkeit dieser Liebesvorstellung von Andreas Capellanus, Bernardus Silverstris, Alain de Lille und der Schule von Chartres: »that prevades nearly all the stories of the Decameron, and that finds its strongest expression in the novella of Nastagio degli Onesti, in which a woman is punished in the hereafter because she refused to love and thus offended the laws of Nature.« (522) Bei Andreas Capellanus lautet ein Teil des 5. Dialogs Warnung an hartherzige Frauen. Allerdings soll diese Paraphrase nicht vor 1460 bekannt geworden sein. Vgl. dazu:
Alfred Karnein: De Amore deutsch. Der Tractatus des Andreas Capellanus in der Übersetzung Johann Hartliebs. München 1970. Es ließen sich noch eine ganze Anzahl häufig parodistisch verwendeter Übernahmen aus Andreas Capellanus bei Boccaccio ausmachen, wie etwa die peregrinatio seiner Rahmenfiguren von Garten zu Garten. Erst Margarete von Navarra weitete die Liebeskasuistik, die in Frankreich eine viel größere Wirkung hatte als in Italien, aus, indem sie sich noch einmal ihrer Verwendung im Werk des Boccaccio erinnert.
Dieser Punkt ist im allgemeinen der, den A. W Schlegel als den Wendepunkt erkannt hat: »So viel ist gewiß: die Novelle bedarf entscheidender Wendepunkte, so daß die Hauptmassen der Geschichte deutlich in die Augen fallen.« (Vorlesungen über schöne Literatur und Kunst. III.Teil: Geschichte der romantischen Literatur. In: Deutsche Litteraturdenkmale des 18. u. 19. Jahrhunderts. Bd. 19. Hsg. von Jakob Minor. Heilbronn 1884. S. 245)
Die Lokalisierung im Haus gibt der Novelle den Anschein, als spiele sie in der realen Welt. Da der Schauplatz des bürgerlichen Ambientes bekannt ist, scheinen auch die Ereignisse den Charakter der Wirklichkeit zu haben. Durch die ganze Geschichte hindurch bleibt das Realitätspostulat für die Novellendichtung erhalten. Paul Heyse hat das Nebeneinander von Realität der Einrichtung und Unwahrscheinlichkeit des Geschehens erkannt: »Denn es bleibt ihr [der Novelle] von ihrem Ursprung her ein gewisses Schutzrecht für das bloß Thatsächliche, das schlechthin Erlebte, und für den oft nicht ganz reinlichen Erdenrest der Wirklichkeit kann sie vollauf entschädigen, theils durch die harmlose Lebendigkeit des Tons, indem sie Stoffe von geringerem dichterischem Gehalt auch in anspruchloserer Form, ohne den vollen Nachdruck ihrer Kunstmittel überliefert, theils durch die unerschöpfliche Bedeutsamkeit des Stoffes selbst, da der Mensch auch in seinen Unzulänglichkeiten dem Menschen doch immer das Interessanteste bleibt.« (Paul Heyse: Einleitung zu Deutscher Novellenschatz. In: Deutscher Novellenschatz. Hsg. von P.H. u. Hermann Kurz. 1. Bd. München, Oldenbourg o.J. [1871]. S. XV)
Tzvetan Todorov: Grammatik und Erzählgrammatik. In: T.T.: Poetik der Prosa. Frankfurt 1972. S. 123.
Rights and permissions
Copyright information
© 1993 Springer-Verlag GmbH Deutschland
About this chapter
Cite this chapter
Schlaffer, H. (1993). Boccaccio: Die Elemente der Novelle. In: Poetik der Novelle. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-03505-9_2
Download citation
DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-476-03505-9_2
Publisher Name: J.B. Metzler, Stuttgart
Print ISBN: 978-3-476-00957-9
Online ISBN: 978-3-476-03505-9
eBook Packages: J.B. Metzler Humanities (German Language)