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1806/07 — Ein Krisenjahr der Frühromantik?

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Kleist-Jahrbuch 1993
  • 74 Accesses

Zusammenfassung

Ich beginne mit Goethe. 1805 in Entwürfen zu einer Totenfeier für den jüngst verstorbenen Schiller skizziert Goethe folgendes allegorisches Szenarium: »Deutschland/Vaterland/Dünckt sich höher als die einzelnen/Lob des emporstrebens/Werth vieler/[…] Dichtung allein. Nänie. Vaterland. Magnificat.«2 Hier wird stichwortartig festgehalten, was der bekannte ›Epilog zu Schillers Glocke‹ — unter anderem ausdrückt: die Verbundenheit der Dichterpersönlichkeit mit Nation, Vaterland, Gemeinschaft, mit jenen Werten, die das berühmte Schillergedicht im Sinne von Familie und dauernder Sitte auffaßt. Im selben Jahr 1805 — etwas später allerdings — schreibt Goethe in einem Brief an seinen Verleger Cotta über das »incalculable der Zustände« (WA IV, Bd. 19, S. 77), eine Vorwegnahme dessen, was er dreizehn Monate später, im Katastrophenjahr 1806, Knebel mitteilt: »unsre Lage [sei] wie die des sämmtlichen Deutschlandes ungewiß und prekär« (ebd., S.246). Goethe mag für das Thema »Krisenjahr der Frühromantik« nicht allzuviel hergeben, denn nicht jeder ist wie er in der Lage, bürgerliche, öffentliche, wirtschaftliche und dichterische Existenz so zu integrieren und auf diese Weise zu überleben, als für kurze Dauer das kleine Fürstentum Sachsen-Weimar-Eisenach plötzlich den Schauplatz für aufmarschierende Heere und für Einquartierungen bietet, Jena und Weimar brennen und ausgeplündert werden. Ich will hiermit nur das größere Thema andeuten: Wie verhalten sich Vorstellungen einer nationalen Poesie und einer politischen, auf den Einzelnen übergreifenden Krise zueinander? Was ist der eigentliche Zusammenhang zwischen Poesie und Geschichte, in dem Sinne, daß die Dichtung den Geist der Zeit aufgreift, die noch nichr aufgebrochnen Konvulsionen seismographisch registriert?

Genau wie man bei Kleists Leben und Werk nicht nur von der sogenannten »Kant-Krise«» sondern eher von einer »Dauerkrise« sprechen darf, muß man ebenfalls bei der Romantik eine Reihe von »Fieberkurven« verzeichnen. Dennoch gilt das Jahr 1806 als besonders tiefer Einschnitt. Siehe dazu das Einleitungskapitel bei Gerhard Schulz, Die deutsche Literatur zwischen Französischer Revolution und Restauration. 2. Teil; Das Zeitalter der Napoleonischen Kriege und der Restauration 1806–1830, München 1989 (= Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart. Begr. von Helmut de Boor und Richard Newald 7, II), S. 1–12 und bes. S. 12. — Kleist wird im folgenden zitiert nach: Sämtliche Werke und Briefe. Hg. von Helmut Sembdner, 2 Bde., 5. Aufl. München 1970.

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Paulin, R. (1993). 1806/07 — Ein Krisenjahr der Frühromantik?. In: Kreutzer, H.J. (eds) Kleist-Jahrbuch 1993. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-03502-8_13

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